Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – Die Kunst der Perspektive

2. Personale, wechselnde personale und schwebende Perspektive

Kluge Hinweise von Mara Laue

Die meisten Romane und Geschichten sind in der personalen Perspektive geschrieben, weil sie von den meisten Lesenden und fast allen Verlagen bevorzugt wird. Das heißt, das jeweilige Geschehen wird aus der Sicht einer bestimmten Person geschildert. Die Lesenden wissen/erfahren daher auch nur das, was diese eine Person denkt, fühlt, sieht und weiß. Genau genommen ist die personale Perspektive „er/sie“ eine Ich-Perspektive, die in die 3. Person Singular versetzt wurde. Deshalb enthält sie auf den ersten Blick durchaus auktoriale Züge, ohne tatsächlich auktorial zu sein. Ein Beispiel zur Verdeutlichung.

ICH-PERSPEKTIVE:

Ich lehnte mich gemütlich im Sessel zurück und betrachtete durch das offene Fenster den Sternenhimmel. Die Sterne faszinierten mich schon seit meiner Kindheit mit ihrem geheimnisvollen Leuchten und ihrer Schönheit, die sie wie Perlen auf dunklem Samt verstreut erscheinen ließen. Immer wenn ich sie ansah, überkam mich eine tiefe Ruhe. Ich genoss sie und schwelgte in Erinnerungen. Das Schrillen des Telefons zerstörte sie.

PERSONALE PERSPEKTIVE:

Sie lehnte sich gemütlich im Sessel zurück und betrachtete durch das offene Fenster den Sternenhimmel. Die Sterne faszinierten sie schon seit ihrer Kindheit mit ihrem geheimnisvollen Leuchten und ihrer Schönheit, die sie wie Perlen auf dunklem Samt verstreut erscheinen ließen. Immer wenn sie sie ansah, überkam sie eine tiefe Ruhe. Sie genoss sie und schwelgte in Erinnerungen. Das Schrillen des Telefons zerstörte sie.

Wir haben den gleichen Text, nur die Perspektive wurde gewechselt. Der gravierende Unterschied zur auktorialen Perspektive ist aber, dass wir in der personalen Perspektive immer „innerhalb“ einer Figur und ihrer Erlebniswelt bleiben und alles aus ihrer Sicht schildern, als würde sie uns selbst ihre Geschichte erzählen, aber von sich selbst als „sie/er“ berichten. Beim Auktorialen hingegen (siehe vorherige Folge) werden auch Dinge preisgegeben, die eine Figur nicht wissen kann (z. B. dass „dies erst der Beginn ihrer Schwierigkeiten“ war) oder an die sie in dem betreffenden Moment gar nicht denkt (z. B. denkt niemand beim Haarkämmen vorm Spiegel daran, welche Farbe die eigenen Augen haben).

Letzteres gilt besonders für die Ich-Perspektive. Will man solche Informationen den Lesenden trotzdem nahe bringen, muss man in der Ich-Perspektive die betreffenden Dinge aus Sicht einer anderen Person schildern und hierfür meistens (nicht immer) den Dialog zu Hilfe nehmen. Bei der personalen Perspektive können wir zu dem Zwecke die semi-auktoriale Perspektive verwenden (siehe nächste Folge).

Manche Romane zeigen uns nur die Perspektive einer einzigen Person, die Mehrheit aber arbeitet mit wechselnden Perspektiven, auch multipersonale Perspektive genannt die das Geschehen aus der Sicht mehrerer Personen schildert und erheblich mehr Möglichkeiten bietet, besonders auch hinsichtlich des Aufbaus von Spannung.

Beim Perspektivwechsel sind folgende Dinge zu beachten.
Den Lesenden muss in jedem Moment unmissverständlich klar sein, durch wessen Augen sie das Geschehen betrachten. Aus diesem Grund ist unerlässlich, zu jedem Perspektivwechsel, den Namen der Person zu nennen, in deren Kopf wir im neuen Absatz schlüpfen, sofern sich das nicht aus dem Zusammenhang des vorherigen Absatzes ergibt. Bei längeren Passagen empfiehlt sich, einen Szenenwechsel vorzunehmen oder ein neues Kapitel zu beginnen, wenn die Handlung das zulässt. Die beiden letzteren Mittel benutzen wir immer, wenn nicht nur die Perspektive, sondern auch der Ort gewechselt wird, wir also zu einer Person umblenden, die sich anderswo aufhält als die Person, in deren Kopf wir bisher gesteckt haben. Das gilt auch, wenn dieser Ort nur zwei Straßen entfernt liegt.

Sandra starrte ihn wütend an. Dass Jonas sie immer falsch verstand, egal was sie sagte. Dass er sie immer missverstehen wollte. Der Kerl war einfach unmöglich. Sie reckte das Kinn vor, drehte sich um und stiefelte wortlos davon. Sollte er doch zur Hölle fahren!
Jonas blickte ihr perplex nach und fragte sich, was er nun schon wieder verbrochen hatte, um eine solche Reaktion zu provozieren. Er hatte ihr doch nur einen Vorschlag unterbreitet, wie sie das leidige Problem mit ihrem Chef lösen konnte – und zum Dank dafür ließ sie ihn einfach stehen. Er schüttelte den Kopf. Versteh einer die Weiber!

*

Lilly zog die Gardine vors Fenster und trat zufrieden lächelnd zurück. Zwar hatte sie kein Wort von dem gehört, worüber Jonas und Sandra sich gestritten hatten, aber dass sie sich gestritten hatten, war deutlich zu sehen gewesen. Die Gelegenheit war günstig wie nie. Sie rannte die Treppe hinunter, um Jonas noch zu erwischen, bevor er in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Sie würde ihn zum Kaffee einladen, die mitfühlende Freundin spielen, und mit etwas Glück würde er in ihrem Bett landen, bevor die Kanne Kaffee leer wäre.

Im ersten Absatz sitzen wir im Kopf von Sandra und „hören“ ihre Gedanken. Im zweiten wechselt die Perspektive, und wir erfahren Jonas’ Überlegungen. Der dritte Absatz wechselt nicht nur die Perspektive von Jonas zu Lilly, sondern auch den Ort, bezieht sich aber immer noch auf dieselbe Szene. Deshalb wird der Ortswechsel gekennzeichnet mit einem „großen Absatz“ (Leerzeile – Platzhalter – Leerzeile). Hätten wir gleichzeitig auch die Zeit und dementsprechend die Szene gewechselt, wäre eventuell der Beginn eines neuen Kapitels angezeigt gewesen.

WICHTIG:

Es gilt die eiserne Regel, dass man in jedem (optischen) Absatz nur EINE Perspektive verwenden, niemals zwei! Wollen wir wechseln, beginnen wir unbedingt einen neuen Absatz in einer neuen Zeile oder schieben eine Leerzeile oder einen großen Absatz (mit Platzhalter) ein, oder beginnen ein neues Kapitel, bevor wir mit der anderen Perspektive fortfahren.

 

Die schwebende Perspektive

Wenn wir innerhalb derselben Szene die Perspektive wechseln wie beim oben genannten Beispiel von Sandra zu Jonas, spricht man von einer „schwebenden Perspektive“. Manche Schreibenden bezeichnen diese Perspektive als „multipersonale Perspektive“ oder „personale Multiperspektive“. Das stimmt zwar auch, aber: Die multipersonale Perspektive hat mehr als eine Perspektive im gesamten Roman/der gesamten Geschichte. Das kann sich ausschließlich auf eine Perspektive pro Szene beziehen oder/und auf mehrere Perspektiven in einer einzelnen Szene. Ist Letzteres der Fall, spricht man von der „schwebenden Perspektive“. Die schwebende Perspektive ist also eine Unterform der multipersonalen Perspektive, aber nicht jede multipersonale Perspektive ist gleichzeitig auch eine schwebende Perspektive.

Das Stilmittel der schwebenden Perspektive wenden wir an, wenn wir relativ kurze Eindrücke aus der Sicht einer anderen Person beschreiben wollen als bisher, oder wenn wir den Rest derselben Szene nur noch aus der Sicht der anderen Person fortführen wollen. Man kann die schwebende Perspektive jedoch nur benutzen, wenn die Person, zu der wir die Sicht verschieben, bereits Bestandteil der Handlung ist und die Lesenden wissen, dass sie sich unmittelbar am Ort des Geschehens aufhält. Hält sich die „neue“ Person anderswo auf – wie im obigen Beispiel Lilly –, ist ein Szenenwechsel zwingend erforderlich, mindestens aber eine eingeschobene Leerzeile.

Man kann durchaus mehrfach die Perspektive innerhalb derselben Szene wechseln. Wir hätten also nach dem Einschub mit Jonas’ Sichtweise wieder zu Sandra wechseln können oder, falls zum Beispiel Lilly bei dem Streit anwesend gewesen wäre, zu ihrer Perspektive umschwenken und die Szene mit ihrer Sichtweise beenden können. Wie wir das in unseren Texten handhaben, hängt davon ab, wie wir die Handlung aufgebaut haben.

Einzige Richtlinie für den Gebrauch der schwebenden Perspektive ist, dass wir sie nicht zu oft innerhalb derselben Szene wechseln sollten, sonst können sich die Lesenden im Perspektivgewirr verirren. Zwar gibt es die sehr häufig wechselnde schwebende Perspektive als Stilmittel (Frank Herbert hat sie in seinem mit dem Nebula Award prämierten Roman „Dune“ durchgehend verwendet), jedoch erfordert sie ein gewisses Maß an Erfahrung und Geschick, um sie gut zu schreiben, denn die Lesenden müssen zu jeder Zeit wissen, wann sie wessen Perspektive erleben. Wir müssen also jedem Perspektivwechsel innerhalb derselben Szene immer schon im ersten Satz des Wechsels die Person, zu der wir wechseln, kenntlich machen, indem wir ihren Namen (oder eine andere Bezeichnung z. B. „die Doktorin“) nennen. Die Lesenden dürfen nicht erst etliche Sätze oder sogar Absätze später nachträglich mitbekommen, dass sie das Geschehen inzwischen aus einer anderen Perspektive als der ursprünglichen erleben.

Am besten erreichen wir das, indem wir einen Unterschied in der Benennung der Personen machen. Person A denkt z. B. von einem Kollegen mit Namen „Jonas Schmidt“ als „der/Herr Schmidt“ oder nur „Schmidt“. In der Perspektive von A schreiben wir also Sätze wie: „Das hatte (der/Herr) Schmidt wieder gut hinbekommen.“ Kollege Schmidt denkt aber von sich selbst nicht als „(der/Herr) Schmidt“. Wenn wir die Perspektive von A zu ihm wechseln und trotzdem schreiben Schmidt widmete sich seinem Frühstücksbrot und scrollte nebenbei durch die E-Mails“, dann wirkt das, als würde immer noch Person A beobachten und registrieren, was der Kollege Schmidt tut. Um den Perspektivwechsel einwandfrei zu kennzeichnen, verwenden wir, sobald wir zu „Schmidt“ umschwenken, dessen Vornamen oder Spitznamen (der natürlich bereits vorher den Lesenden bekannt sein muss): „Jonas widmete sich seinem Frühstücksbrot und scrollte nebenbei durch die E-Mails.“

Diese Methode funktioniert jedoch nicht, wenn Person A und Jonas Schmidt Freunde sind und A Schmidt duzt und ihn sowieso immer „Jonas“ nennt. In dem Fall „denkt“ A: „Das hatte Jonas wieder gut hinbekommen.“ Und auch der Satz „Jonas widmete sich seinem Frühstücksbrot und scrollte nebenbei durch die E-Mails.“, könnte demnach immer noch die Perspektive von A sein. Um hier den Perspektivwechsel in der schwebenden Perspektive zu verdeutlichen, muss der Satz eindeutiger formuliert werden, z. B. so: „Jonas seufzte, als er zum Frühstücksbrot griff und verfluchte stumm die endlose Flut von E-Mails, die ihn zwang, sie durchzusehen, während er es aß.“ Hier verrät das „verfluchte stumm“ den Perspektivwechsel, denn Person A kann nicht wissen, was Jonas denkt oder fühlt und dass er in Gedanken die E-Mail-Flut verflucht.

Diese Tricks und Feinheiten gehen uns mit zunehmender Schreiberfahrung in Fleisch und Blut über. Als Neuling ist man mit einer Perspektive, maximal drei Perspektiven pro Szene auf der sicheren Seite. Ansonsten sagen uns die Lektorierenden oder Testlesenden, wie gut uns die schwebende Perspektive gelungen ist oder nicht.

Es gibt jedoch Verlage/Lektorierende, die aus Gründen des persönlichen Geschmacks oder weil sie einer bestimmten „Stilschule“ anhängen, in der die schwebende Perspektive geächtet wird, oder weil sie zu oft schlecht geschriebene, d. h. unsauber gewechselte schwebende Perspektiven von Autorinnen/Autoren lesen mussten, diese Perspektive ablehnen und verlangen, dass jede Szene aus der Perspektive nur einer einzigen Person geschrieben wird. Jeder Perspektivwechsel soll auch gleichzeitig ein Szenenwechsel sein, der mit einer Leerzeile oder einem großen Absatz (Leerzeile – Platzhalter – Leerzeile) gekennzeichnet werden muss. Damit in einem Fall wie bei unserem Beispiel beim Streit zwischen Jonas und Sandra und Lillys intrigantem Plan der Part von Jonas nicht als eigene Szene mit nur wenigen Zeilen dasteht (zu viele und zu kurze Szenen reißen den Text nicht nur optisch auseinander), hätten wir in dem Fall entweder auf Jonas’ Reflexion oder auf Lillys an dieser Stelle verzichten und den Part aus einer einzigen Perspektive schildern müssen. Zum Beispiel so (Jonas’ Perspektive):

(…) Er schüttelte den Kopf. Versteh einer die Weiber! Aber wenn sie es so wollte: bitte schön! Sie konnte ihm gestohlen bleiben. Er ging zu seinem Auto.
„Hallo Jonas!“ Lilly stand vor dem Eingang ihres Hauses und winkte ihm zu. „Kannst du mir mal bitte helfen? Ich muss diese schrecklich schwere Bücherkiste auf den Dachboden bringen. Dauert nur ganz kurz, ehrlich.“
Jonas wollte nach Hause fahren, allein sein und seinen Frust über Sandra in einem Glas Bier ertränken. Lillys Bitte kam ihm mehr als ungelegen. Aber er wollte nicht unhöflich sein. „Okay, ich komme.“ (…)

Falls Lillys Überlegungen ihres Plans, Jonas in ihr Bett zu locken, für die Handlung wichtig sind, müssten wir sie in einer neuen Szene als Rückblende nachreichen:

(…) Mit einem fürchterlich schlechten Gewissen, weil er San-dra betrogen hatte, verließ Jonas Lillys Wohnung.
(Leerzeile)

*

(Leerzeile)
Lilly kuschelte sich zufrieden ins Kissen. Das war besser gelaufen als gedacht. Als sie vom Fenster aus gesehen hatte, wie Jonas und Sandra sich stritten, hatte sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ihn unter dem Vorwand, Hilfe mit der Bücherkiste zu brauchen, in ihre Wohnung gelockt. Ihn in ihr Bett zu bekommen, indem sie die mitfühlende Freundin spielte, war danach nur noch ein Kinderspiel gewesen. (…)

Solche, wenn auch kurzen, Rückblenden sind stilistisch aber nicht immer schön. Sie wirken sich besonders in Situationen störend aus, wenn die Handlung, auf die sich eine solche Rückblende bezieht, bereits weiter fortgeschritten ist und wir nur ein einziges, aber wichtiges Detail aus einer anderen Perspektive schildern müssen. Deshalb ist nicht immer die beste Lösung für einen Text, auf die schwebende Perspektive grundsätzlich zu verzichten.

 

In weiteren Folgen:

  • Das Braiden
  • Eingeschränkt auktoriale/semi-auktoriale Perspektive
  • Ich-Perspektive
  • Du-Perspektive
  • „Mauerschau“ und „Botenbericht“
  • Perspektivbrüche und ihre Folgen

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