Kanji_Cover_Niemela (c) Parasitenpresse

Kann denn Lyrik Alltag sein? Ja und nein.

Rezension von Stephan Moers

Kathrin Niemela: wenn ich asche bin, lerne ich kanji. Gedichte, mit einem Nachwort von Artur Becker, parasitenpresse, Köln 2021, ISBN 978-3947676859, 88 Seiten. Preis: 12,- €.

Kann denn Lyrik Alltag sein? Ja und nein. Liest man Kathrin Niemelas „wenn ich asche bin, lerne ich kanji“ wird schnell klar, dass in der vermeintlich lapidaren Antwort eine entscheidende Spannung liegt. Immer wieder wird diese in den Gedichten aufgedeckt, ausgebreitet, darauf hingewiesen oder dem Leser und der Leserin einfach vor die Nase gesetzt. Ja, Niemelas Lyrik betrachtet den Alltag oder auch Alltägliches. Nein, ihre Lyrik ist nicht alltäglich. Wenn Wittgenstein über alles Seiende schrieb „Die Welt ist, was der Fall ist“, dann scheint Niemela mit ihrer Lyrik zu entgegnen „und ich schaue mir die Fälle genau an!“

Beginnend bei „1“ und endend mit „LETZTER GANG“, ist dieser im Verlag parasitenpresse erscheinende, 88 Seiten starke Lyrikband ein Panorama unserer Zeit, bleibt daran jedoch nicht gebunden. In fünf lockeren Kapiteln taucht der Leser/die Leserin ein in das, was denn nun in ganz bestimmten Momenten der Fall ist: Eine beginnende Liebe, ihr Ende und alles, was dazwischen liegt; Reisen zu den unterschiedlichsten Orten und Momenten; der Alltag und seine kleinen und großen (Wahn-) Sinnigkeiten. Dies sind die Sujets in Niemelas Versen.

Ihre fein gewählten Worte dabei fantasiereich zu nennen, greift zu kurz und wäre oft nicht korrekt. Es ist vielmehr das Bestehende, das die Autorin mit ihren wortschöpferischen Junktims, ihren Bei-, Um- und Neuordnungen noch wirklicher macht.

Ob die Familie als Verwaltungseinheit, kalibrierts Gemüse und Ikea Legebatterien oder das Suchen nach Überresten in Krumen nach einer Trennung – Niemela lässt das Leben sicht- bzw. fühlbar werden und lädt den Leser und die Leserin auf tiefsinnige Reisen zu Orten und Begegnungen ein, die sich zeitlos, facettenreich und stimmig in die Schreibkunst der Autorin schmiegen.

Am Ende des Lyrikbandes steht ein tatsächliches, wenn auch vorweggenommenes Ende. Dessen hätte es gar nicht bedurft, denn aus einer Lyrik, die so stark aus dem schöpft, was ist, kann niemand verabschiedet oder gar rausgeschmissen werden. Und ist das nicht an sich schon beruhigend?

Eine klare Leseempfehlung also für Kathrin Niemelas „wenn ich asche bin, lerne ich kanji“!

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