Coming of Age / Teenage Angst

Coming of Age / Teenage Angst

von Bernadette Zederbauer

Als sie die Augen wieder öffnete, schmerzte sie das helle Sonnenlicht, das jetzt durch die leichten, weißen Vorhänge hereindrang. Die Wolkendecke, die zuvor noch den Himmel bedeckte, hatte sich wohl verzogen. Sie schloss die Augen wieder und versuchte in Gedanken die Tageszeit zu schätzen. Etwas, was ihr mit dem Alter immer schwerer fiel. Als sie noch jünger war, konnte sie die Uhrzeit bis auf wenige Minuten richtig schätzen. Trotzdem hatte sie ihr Leben lang ihre Armbanduhr, die jetzt in fast unerreichbarer Ferne auf dem weißen, sterilen Nachttisch lag, nie abgenommen. Langsam öffneten sich ihre schweren Lider erneut, die sich genauso schwer wie ihre alten Knochen anfühlten. Erst jetzt bemerkte die alte Frau das zarte Mädchen, das auf einem der harten Besucherstühle an ihrer rechten Bettseite saß. Es wirkte in sich versunken, ihr Blick schüchtern und fast ausweichend. Instinktiv lächelte die 93-Jährige die junge Erwachsene, die fast noch ein Kind war, an, das dieses mit einem zaghaften Lächeln erwiderte.
„Hannah“, brachte die Greisin mit leicht zitternder Stimme hervor und fragte sich im selben Moment, wo das lebensfrohe Mädchen von früher hin verschwunden war. Vor ihr saß ein unsicheres, mageres Geschöpf, das ihr so vertraut und in diesem Moment doch so fremd war.
Ihre Stimme wirkte wieder klar und kräftig, als sie mit bekümmertem Blick in das ihr gegenübersitzende Gesicht starrte: „Was ist mit dir?“
Erschrocken über die Frage richtete sich das Mädchen auf dem Stuhl auf und nahm eine aufrechte Sitzhaltung ein. Sie fühlte sich ertappt, wobei, wusste sie selbst nicht so genau. Es war ihr unangenehm so einfach durchschaut zu werden. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich, als ob sie ihr Innerstes nach außen gekehrt hätte, obwohl sie sich doch sicher war, dass das nicht möglich sei.
Innerlich musste die Alte leicht schmunzeln, denn sie wusste, dass Hannah später noch lernen würde, ihre Gefühle unter einer kontrolliert starren Haltung zu verbergen, die ihr zwar oft als Schutz dienen, aber nicht immer zu ihrem Vorteil sein würde.
„Was soll mit mir sein?“ platze Hannah fast eine Spur zu laut heraus. Die beiden Frauen blickten einander für einen flüchtigen Augenblick tief in die Augen, bis die Jüngere den Blick abwandte. Für eine Weile starrte sie auf ihre zu Fäusten geballten Hände, die ruhig in ihrem Schoß lagen. Es war nun vollkommen still im Raum. Vom Gang her drangen verschiedene Stimmen und Schritte herein. Die Alte wandte den Kopf langsam zur Tür, als sie die energischen Schritte von Schwester Erika erkannte, die aber sofort wieder verstummten. Ebenso langsam drehte sie den Kopf zu Hannah zurück, die noch immer ihre zarten Hände fixierte.

Die Stille begann dem Mädchen unangenehm zu werden. Normalerweise mochte sie diese Ruhe, die sich jetzt aber wie eine schwere Leere über sie legte. Sie hatte den Eindruck etwas sagen zu müssen, um diesem bedrückenden Zustand zu entkommen. Gleichzeitig wusste sie aber, dass sie das durch alle Worte der Welt nicht schaffen würde.

„Ich bin nur ein bisschen müde. Wir hatten diese Woche einen schweren Test.“
Obwohl die Alte selbstverständlich wusste, dass da noch etwas anderes war, entgegnete sie nichts. Stattdessen fragte sie nur, wie es dem Mädchen bei diesem Test ergangen sei.
„Zwei Plus. Ich habe um einen Punkt eine Eins verpasst.“
„Das ist großartig. Warum freust du dich nicht über diese tolle Leistung?“
„Weil es keine tolle Leistung war. Es war nur eine gute.“
Fast beschämt senkte Hannah wieder den Kopf.
„Hannah, ich weiß, du hast viel für diesen Test gelernt, du hast dich angestrengt, und das hat sich bezahlt gemacht. Du hast eine ausgezeichnete Arbeit abgelegt. Du hast dein Bestes gegeben, und das ist, was zählt.“

Ein kurzer, dumpfer Stich durchfuhr Hannahs Bauch. Es war ein ihr vertrauter Schmerz, von dem sie nicht mehr wusste, wann er sich das erste Mal bemerkbar machte.
„Es zählt nur, was auf dem Zeugnis steht. Danach, wie viel Mühe man sich gegeben hat, fragt niemand. Man sieht einfach nur, dass es für ein ‚Sehr gut‘ nicht gereicht hat.“
Wie aus dem Nichts schossen Hannah Tränen aus den Augen. Sie war selbst davon überrascht. Schnell senkte sie den Kopf und hoffte gegen die Tränen ankämpfen zu können. Doch sie liefen ihr in heftigen, großen Tropfen die Wangen hinunter. Sie hatte keine Kontrolle mehr darüber.

Es schmerzte die alte Frau, auf dieses hilflose, schluchzende Wesen zu blicken und selbst nicht helfen zu können. Instinktiv streckte sie Hannah ihre Hand entgegen, ohne sie zu erreichen, weil sie nicht die notwendige Kraft aufbringen konnte, um sich in dem weichen Bett aufzurichten. So gerne hätte sie dem Mädchen über die Wangen gestrichen und ihr versichert, dass alles gut werden würde. Und obwohl es schon so lange her war und die Alte dieses Gefühl, das Hannah quälte, nicht mehr empfinden konnte, konnte sie sich doch noch so gut daran erinnern. Sie wusste genau, wie es sich anfühlte, diese Empfindung, nicht genug zu sein. Egal, was man tat und wie sehr man sich abmühte. Aber sie wusste auch, dass Hannah dieses Empfinden irgendwann besiegen würde. Sie überlegte kurz, wie lange es noch dauern würde, doch sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Genauso unbemerkt, wie sich dieses Gefühl eingeschlichen hatte, genauso unbemerkt verschwand es wieder. Doch in diesem Augenblick war es allgegenwärtig und erfüllte den kargen Raum, in dem beide Frauen nur Besucherinnen waren.

Eine ganze Weile weinte das Mädchen in sich hinein, während die Greisin sie mitfühlend beobachtete. Irgendwann verstummte das Schluchzen, Hannah kramte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich zaghaft. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass die Alte ihr ihre Hand anbot. Wie gebannt blickte sie auf die von Altersflecken und unzähligen kleinen Falten übersäte Hand, die genauso schmal wie ihre war. Doch sie war unfähig, diese anzunehmen und die Nähe zuzulassen, die ihr angeboten wurde. Schon lange hatte sie das nicht mehr getan. Nähe zulassen. Weder von ihrer Mutter, noch von ihrer Schwester oder besten Freundin.

Nachdem es wieder still im Raum wurde, durchbrach die Alte das Schweigen: „Du musst nicht perfekt sein. Es reicht, dass du so bist, wie du bist. Dass du da bist, mit all deinen Stärken und Schwächen. Du musst niemandem etwas beweisen. Wir lieben dich so, wie du bist.“
Zaghaft hob die junge Frau den Kopf und blickte ungläubig in das freundliche Gesicht das neben ihr im Bett lag. Noch nie hatte ihr jemand so etwas gesagt. Immer dachte sie, nur wenn sie die besten Noten nach Hause brächte, die Mathematikbeispiele am schnellsten löste und den Müll mit ihrem freundlichsten Lächeln hinausbrächte, nur dann würde es gut sein. Immer war sie der Meinung, mehr geben zu müssen. Ohne zu wissen, was sich dann ändern würde.
Die Alte versuchte sich im Bett aufzurichten, doch es gelang ihr nicht.
„Ich weiß, dass du das jetzt nicht glauben kannst, aber du wirst diese Phase überwinden. Irgendwann wird das hier nur noch Erinnerung sein. Du bist eine starke Frau, die alles schafft, was sie will.“
Obwohl für Hannah diese Worte nicht greifbar waren und in der Luft unsichtbar herumschwirrten, wie der Sauerstoffe, den man zum Atmen brauchte, gaben sie ihr doch auf eine seltsame Weise Kraft.
Mit einer flüchtigen Handbewegung wischte sich Hannah die bereits getrockneten Tränen weg. Ihr verquollenes Gesicht fühlte sich heiß und weniger starr an.

Durch die geschlossene Tür ertönte plötzlich ein lauter Knall, gefolgt von zwei aufgeregten Männerstimmen. Beide Frauen erschraken, fuhren blitzartig in sich zusammen und blickten unweigerlich zur geschlossenen Tür. Im nächsten Moment vernahmen sie Gelächter, das durch den langen Gang hallte und unwillkürlich ein Lächeln auf ihren Gesichtern erscheinen ließ.
Plötzlich nahm Hannah ihre Umgebung wieder wahr. Diesen kahlen, unpersönlichen Raum, der trotz der Vorhänge und der Nachmittagssonne keinen behaglichen Eindruck hervorrufen  konnte. Kurz überlegte sie, wie spät es wohl sei und wie viel Zeit bis zur Abfahrt des Busses blieb. Sie schätzte 14:45 Uhr und warf einen flüchtigen Blick auf ihre schlichte Armbanduhr. 14:48 Uhr. Sie verschätzte sich immer nur um ein paar Minuten.

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