Der unsichtbare Sohn

Der unsichtbare Sohn

von Leonie Halter

„Mum, kannst du mir bitte sagen, wo der Baseballschläger ist?“
Die Augen meiner Mutter, die im Garten damit beschäftigt war, die Äste unserer Hecke zu schneiden, hatten wieder diesen glasigen Blick angenommen, den ich mittlerweile nur zu gut kannte. „Mum?“, fragte ich noch einmal, obwohl ich bereits wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde, denn sie würde nicht sagen, was sie in diesem Moment wirklich dachte. Nämlich, dass sie sehr wohl wusste, wo der Schläger war, aber dass sie nicht daran erinnert werden wollte, dass Damien früher auch immer, in einem warmen Frühling wie diesem, Baseball gespielt hatte. Und, dass der Baseballschläger früher Damien gehört hatte.

Ein halbes Jahr war es her, dass mein Bruder verschwunden und ich unsichtbar geworden war. Von einem Tag auf den anderen war er fort gewesen, und niemand wusste bis heute, was mit ihm geschehen war. Ich wollte glauben, dass er mit einem hübschen Mädchen durchgebrannt war, und er nun auf einer Farm in Alabama lebte. Besonders aber wollte ich es deshalb glauben, um nicht das zu glauben, was meine Eltern glaubten. Nämlich, dass ein furchtbares Unglück oder, noch schlimmer, ein grässliches Verbrechen geschehen war, und man seine Leiche irgendwann aus einem Fluss oder einer Jauchegrube bergen würde.
Seit diesem Tag, vor einem halben Jahr, als Damien abends nicht nach Hause gekommen war, hatte ich mich für meine Eltern in Luft aufgelöst. Anfangs hatte ich es nicht verstanden. Wie konnte es sein, dass sie immerzu an meinen Bruder dachten, der fort war, während sie mich, den verbliebenen Sohn, nicht mehr sehen wollten, und es so schien, es sei ich es, der verschwunden war und nicht Damien. Damien, der Ältere. Damien, der Frauenschwarm. Damien, der Schulsprecher. Damien, der Klügere. Damien, der Gewinner.

Erst seit ein paar Monaten verstand ich, dass es nicht so war, dass meine Eltern mich deshalb ignorierten, weil sie sich wünschten, ich sei anstelle meines Bruders fort, sondern die Tatsache, dass ich sie durch meine bloße Anwesenheit täglich an ihn erinnerte. Dabei brauchte ich noch nicht einmal etwas zu sagen. Es genügte, wenn ich das tat, was ich immer tat. Ich wollte schwimmen gehen – Damien war ein leidenschaftlicher Schwimmer gewesen. Ich ging ins Kino – Damien war früher auch oft dort gewesen, Horrorfilme hatte er besonders gern gesehen. Ich bekam diese Kerbe in der Wange, wenn ich lachte – die gleiche Kerbe hatte Damien auch gehabt.
Noch schlimmer, als die gleichen Sachen zu tun, die Damien auch getan hatte, war es allerdings mit seinen persönlichen Gegenständen: Sein Saxophon, seine Pfadfinderweste, seine Pokale, seine Bücher, seine Klamotten. Ja, besonders auf seine Anziehsachen reagierten meine Eltern mit einer tranceähnlichen Starre. Wahrscheinlich war dies auch der Grund dafür, dass diese vor ein paar Wochen auf den Speicher geschafft worden waren. Ihr Anblick setzte meinen Eltern zu sehr zu, sie zu berühren bereitete ihnen eine unsägliche Qual – das war fast so, als ob sie Damien berührten.

Generell waren in letzter Zeit viele von Damiens Sachen „verschwunden“. Für meine Eltern existierten sie nicht mehr, aber ich wusste genau, dass sich die meisten von ihnen in der Abstellkammer und der Gartenlaube befanden. Dennoch, so sehr sie sich auch bemühten, sie schafften es einfach nicht, alle Erinnerungen an meinen Bruder auszulöschen. Immer wieder tauchten Fundstücke im Haus auf, die die schmerzlichen Erinnerungen an Damien in sich trugen, ohne, dass meine Eltern es unterbinden konnten: Eine von seinen Socken, sein Füller, sein Haustürschlüssel, eine Urkunde für besondere soziale Leistungen, sein Zeichenblock. Jeder von diesen Gegenständen „verschwand“ zwar kurz nach seinem Auftauchen, dennoch fanden immer wieder ein paar von ihnen ihren Weg zu uns in die Stube.
Umso mehr hatte ich mich immer wieder gewundert, warum meine Eltern die ganzen Sachen nicht entsorgten, wenn es ihnen doch offensichtlich so viel Kummer bereitete, sie um sich zu haben. Doch mittlerweile verstand ich, dass sie immer noch die Hoffnung hatten, dass Damien eines Tages zu uns zurückkehren würde. Und ich hatte mich entschlossen, sie ihnen nicht zu nehmen. Auch, wenn das hieß, unsichtbar zu werden. Auch, wenn das hieß, ein Geist zu sein.

War eine Situation wie in diesem Moment, wenn meine Mutter diesen seltsamen Ausdruck in den Augen bekam, arrangierte ich mich in der Regel so, dass ich dies als stille Antwort hinnahm. Sie hätte schließlich genauso gut sagen können: „Der Schläger ist in der Gartenlaube, denn er hat Damien gehört und ich will nicht an Damien denken, denn Damien ist sehr wahrscheinlich tot.“
So tat ich es nun auch.
„Danke, Mum“, sagte ich darum und ging zur Gartenlaube.
Dort lag der Schläger, Damiens Schläger, auf seinem Trikot und einem Berg anderer seiner Sachen. Eine leichte graue Schicht hatte sich auf ihm abgesetzt. Ich nahm ihn in die Hand und wischte den Staub herunter. „Damien“ stand seitlich auf ihm, schön leserlich in seiner Handschrift. Und dann kam mir mit einem Mal dieser Gedanke. „Was hätte Damien getan?“ Hätte Damien akzeptiert, dass er unsichtbar wurde, während unsere Mutter sich in ihre Gartenarbeit verkroch und unser Vater tagelange Angelausflüge machte, und sie selbst zu Geistern wurden? Zu Geistern, die scheinbar nicht mehr existieren wollten, und daher so taten, als würde alles andere um sie herum nicht mehr existieren? Nein, das hätte er nicht.

Mit dem Schläger in der Hand rannte ich zu meiner Mutter.
„Mum!“, rief ich.
Als sie immer noch an mir vorbei sah und stumm fortfuhr, die Äste der Hecke zu kürzen, holte ich aus. Der Schlag saß. Der leere Blick in den Augen meiner Mutter war nun seit langer Zeit einmal fort. Stattdessen hatte sich Entsetzen in ihnen breit gemacht. Ein Nerv an ihrer Schläfe zuckte nervös. Schock, dachte ich, sie steht unter Schock. Ich holte noch einmal aus.
„Hör auf!“, hörte ich sie auf einmal kreischen, „hör auf damit!“
Die ersten Wörter, die sie zu mir sagte. Seit einem halben Jahr. Jegliche Starre war dahin.
Äste und Blätter knackten und zerbrachen. Ein Loch schlaffte nun in der, bis zur Perfektion getrimmten, Hecke.
Und ich wusste, was meine Mutter dachte: „Dieses Loch in der Hecke ist wie das Loch in meinem Leben. Es war perfekt, bis Damien verschwunden ist.“
„Ich bin noch da!“, schrie ich. „Ich bin noch da, Mum! Ich lebe noch, ich bin noch hier, Mum!“
Da zeigte sich zum ersten Mal seit langer Zeit ein merkwürdiges, unsicheres Lächeln auf ihren Lippen.
„Das weiß ich doch, mein Schatz“, erwiderte sie.
„Damien ist tot, oder?“, fragte ich.
Eine bedrückende Stille machte sich breit, dann öffnete meine Mutter vorsichtig ihren Mund. „Ja, Schatz, das ist er.“
Da tat meine Mutter etwas, das sie schon seit langem nicht mehr getan hatte. Sie streckte eine Hand aus und strich mir über das Haar.
„Du musst wissen,“ begann sie leise, „dass…“
Da begann sie mit einem Mal zu schluchzen.
„Alles wird gut, Ma.“ Ich machte einen unsicheren Schritt auf sie zu und drückte sie an mich. Sie ließ es geschehen.
„Er wäre doch niemals fortgegangen“, weinte sie leise in meine Schulter. „Niemals, niemals wäre er fortgegangen. Es ist etwas geschehen. Etwas Furchtbares. Oh, mein armer, armer Junge.“
„Ich vermisse ihn auch“, sagte ich, „er war mein Bruder, Mum.“
„Ich weiß“, erwiderte sie nach einer Weile, „ich weiß.“
„Ich habe auch Angst davor, zu erfahren, was in dieser Nacht geschehen ist, Mum“, erwiderte ich. „Aber Damien hätte nicht gewollt, dass wir versuchen, ihn zu vergessen. Wir müssen lernen, mit der Erinnerung an ihn zu leben, okay?“

Sie blieb mir die Antwort schuldig. Allerdings stellte ich ein paar Tage später fest, dass Damiens Sachen wieder den Weg in sein altes Zimmer gefunden hatten. Und auch wenn in Zukunft wieder einmal etwas im Haus gefunden wurde, dass Damien gehört hatte, „verschwand“ es von nun an nicht mehr, sondern gesellte sich zu den anderen Fundstücken, in den Raum mit dem Schild „Damien“ an der Tür. Auch ich war von diesem Tag an, als ich die Hecke beschädigt hatte, auf wundersame Weise nicht mehr unsichtbar.

Der einzige, der unsichtbar blieb, war Damien.

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