(K)ein Lebenslauf

(K)ein Lebenslauf

von Lydia Skupin

Früher oder später – nach meiner Beobachtung eher zu früh als zu spät – wollen sie einen Lebenslauf von dir. Und dann immer wieder. Und wieder. Kein Überleben ohne Geld. Kein Geld ohne Job. Kein Job ohne Bewerbung. Keine Bewerbung ohne Lebenslauf.
Es fängt schon damit an, dass ich nie verstanden habe, wofür die Unterscheidung Biographie, Vita und Lebenslauf gut sein soll und nach welchen Kriterien man die Überschrift wählt. Zugegebenermaßen hat es mich auch nie wirklich interessiert. Biographie setzt sich, der Wortherkunft entsprechend, aus Leben und Schreiben zusammen. (Beides ist mir vertraut, aber ich weiß, das ist es nicht, was hier erwartet wird.)
Ich bezweifle, dass ich jemals meine Biographie schreiben werde. Es sei denn, ich gewinne an Bedeutung. Vita klingt vital, und das ist sicherlich gefragt. Aber in meinem Fall glatt gelogen.
Bleibe ich hier also bei Lebenslauf. Das Leben läuft also? Das kann ich nicht bestätigen. Meines war bestimmt kein Lauf. Es war ein Ausharren, ein Kriechen, ein Hetzen, ein Schwimmen, ein Sinken, ein Stürzen, ein Aufstehen, ein Schweben und Fliegen. Ja, vielleicht ist es tatsächlich irgendwann mal einfach nur vor sich hin gelaufen. Aber ich habe keinen Lebenslauf. Lebensflug kommt hier ja wohl als Titel nicht in Frage. Oder Lebenskriech. Oder, oder.

Du wirst also entgegen deiner eigenen Vorstellung von Biographien doch Biographie statt Lebenslauf als Überschrift verwenden. Finde erstmal heraus, welche Form deine Biographie haben soll. Tabellarisch oder Textform. Kurzbiographie. Ausführliche Biographie. Du kannst auch noch wählen zwischen chronologisch, rückwärts chronologisch, funktional und zielgerichtet. Was es nicht alles gibt. Du kannst Vorlagen im Internet finden. Du könntest auch in alten Unterlagen aus der Schule wühlen.
Als ich in dieser Einrichtung gefangen gehalten wurde, schrieb man noch alles auf Papier. Papier wiegt schwer. Es hat meine Veränderungen nicht überlebt. Der Geruch von frisch gedruckten Worten macht mich immer noch angenehm benommen. Das ist die Verbundenheit von Gestern und Heute. Der Inhalt bestimmt den Geruch.

Du fängst am besten mit deinem Geburtsdatum an. Gehört sich doch so? Es ist jedenfalls etwas, was interessieren wird. Daran kann man Erleben nicht messen, aber es verschafft immerhin einen allerersten Eindruck. Das Alter. Man wird also rechnen und kann sich bereits etwas ausmalen. Mann, Kind(er), Haus. Aus der Adresse kann man den Wohnort lesen. Berlin. Und die Straße. Eine Allee. Klingt nach einer großen Straße mit vielen Bäumen.
Ich sehe nur Häuser, wenn ich aus meinem Fenster schaue. (Sie wurden Großbauten genannt.) Manche verwandelten sich direkt vor meinen Augen. Von dunklem Grau in helles Grau. Und manche verschwanden direkt vor meinen Augen. Die hinterlassenen Lücken gebaren neue hässliche Pracht. Mit dem Wechsel ihrer Ideologie wechselte die Allee auch ihren Namen. Das war vor meiner Zeit. Gewaltvoll schlug sie Demonstrationen nieder und stolz schmückte sie sich für Paraden. Das war während meiner Zeit. Und das alles schreibe ich natürlich nicht hin.

Man wird bei einer solchen Straße sicherlich eine Mietwohnung vermuten. Und vielleicht denkt man dann nur noch an höchstens ein Kind. Statistisch gesehen wäre das ja auch wahrscheinlicher. Es werden wenig Kinder in diesem Land geboren. Ich frage mich, ob dieser Umstand dazu führen kann, dass jemand versuchen wird, wieder das Ehrenkreuz der Deutschen Mutter einzuführen, oder ob es in diesem Land noch eine Entwicklung geben kann, in der wir uns nicht mehr über die Vermehrung der Deutschen kümmern und Menschen nicht mehr nach ihrer Herkunft einordnen.
Ich wollte immer Kinder haben. Ich habe Kinder. Aber ich stelle in Frage, ob eine Frau Kinder haben muss, um eine Frau zu sein. Das schreibe ich alles nicht hin, versteht sich von selbst. Vielleicht vermutet man hinter meinen Daten auch eine Frau, die seit ein paar Jahren von allen Seiten auf die berühmte, tickende biologische Uhr hingewiesen wird. In den Soaps, in der Werbung, im Gespräch mit der Kollegin. Und so weiter. Das könnte bedeuten, dass die Neununddreißigjährige – das müsste aus der Rechnung hervorgehen – gerade in Erwägung zieht, doch noch ein Kind zu bekommen. Keine gute Voraussetzung, ihr einen Job zu geben.
Hinter dem Namen verbirgt sich doch eindeutig eine Frau? Heutzutage muss man da vorsichtig sein. Es gibt Namen, die hält man zwar für geschlechtsspezifisch, aber dann erwischt es einen doch. Inzwischen ist ja so einiges erlaubt. Was die Namensgebung betrifft. Und die Geschlechter. Transgender sogar. Man wird versuchen einzuordnen. So wie es immer getan wird. Dann könnte man sich Gedanken über Feminismus, Homo- oder Bisexualität oder über schlichten Mangel an Verkehr machen. Oder schlichten Mangel an Interesse an Verkehr. Nein, so weit denkt man beim Lesen noch nicht. Die Entscheidung, ob sich sexuelle Übergriffe anbieten, wird vermutlich erst getroffen, wenn es zur physischen Begegnung kommt. Da fällt mir ein, dass noch eine heikle Frage im Raum steht. Ob bei dieser Bewerbung ein Foto erwartet wird.

Ich setze voraus, dass mein Name eindeutig ist. Jedenfalls, was das Geschlecht betrifft. Und ich muss ihn verwenden. Ich muss mich endlich mal an die Fakten halten. Schließlich bin ich nicht erfunden. Nicht in dem Sinne. (Fakten sind nicht mit Wahrheit zu verwechseln. Das muss ich hier noch hinzufügen. Aber nur hier.)
Meine Eltern wollten ein zweites Kind. Ich war ein Wunschkind. Nach dem Sohn war ich wahrscheinlich sogar ein Wunschmädchen. So genau habe ich nicht nachgefragt, stelle ich fest. Es sind noch einige Fragen offen. Dafür ist nicht ewig Zeit. Fürs Fragen. Fürs Antworten. Fürs Schweigen. Und fürs Schreiben. Wir haben gar keine ewige Zeit. Nicht, um unsere Stimme zu suchen – die finde ich noch vor der Ewigkeit. Und nicht, um die richtigen Worte aufs Papier zu bringen – die wären für die Ewigkeit. Das schreibe ich natürlich auch nicht in meine Biographie. Auch das Sterbedatum nicht. (Oder würde ich die Bezeichnung Todestag bevorzugen? Wenigstens in der rückwärts chronologischen Biographie würde ich mir diese Frage wohl stellen dürfen.) Du sollst dich doch mit dem Leben beschäftigen!
Also, du bist in deiner Chronologie immer noch nicht über das wunschgemäß befruchtete Ei, das Geburtsdatum, den Namen und die Adresse hinausgekommen. Wobei es das Ei nicht auf den Bildschirm geschafft hat. Die Schulbildung hebst du dir auf jeden Fall für später auf. Stattdessen ein paar Leerzeilen erstmal.

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Jetzt macht der vertraute Wanderer im Bauch wieder auf sich aufmerksam. Mit viel Nachdruck. Was ich in der Schule gelernt habe neben Lesen, Schreiben, Rechnen (und diesen Dingen), ist Schweigen, Runterschlucken, Aushalten (und diese Dinge). Ohne (meine) Macht bildete sich eine Kugel. Heimlich, still und leise. Dann die nächste. Und noch eine. Und noch eine. Sie reihten sich aneinander. Und verschmolzen. Und so habe ich die Raupe erfunden. Jede ihrer Kugeln ist ein praller Bauch. Jedes Futter nahm sie mit auf ihrem Weg. Von Schmerz, Lust, Rausch und Zweifeln wurde sie genährt. Von Seele. Von ihren Verwandten und Kontrahenten. Zum Platzen ist sie gefüllt, „aber satt war sie noch immer nicht.“ [1] Wieder eine Kugel. Wieder eine. Wieder eine. Fürs Verdauen blieb der Raupe keine Zeit. Es blieb ihr noch, sich zu verpuppen. Sich einzuspinnen. Und zu warten. Nicht unbedingt hübsch, so ein Kokon. Aber ungemein hilfreich.

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Du musst doch einfach nur mal die Fakten über deine Stationen nachlesen. Du musst doch einfach nur deine Aktenordner zur Hand nehmen, die du trotz der Unordnung als Ordner bezeichnest. Erwartest du vielleicht, dass sie sich ordnen? Dich ordnen? Einen Unordner müsstest du vielleicht erfinden. Erfindungen bringen Geld. Erfindungen wollen Patente. Patente wollen Anträge. Vermutlich mit Lebenslauf. Oder Biographie. Oder Vita. Immer wieder scheiterst du an deiner Biographie. Deiner Vita. Deinem Lebenslauf.

Eigentlich ist es doch eine ganz einfache Entscheidung. Entweder du lässt alles weg, was für dich bedeutsam war und ist. Hast die Chance auf einen Job. Auf Geld. Und auf Überleben.
Oder ich schreibe alles rein, was bedeutsam war und ist. Ich erwarte keine Antwort. Im besten Fall eine Absage.
Man bedauert, mir mitteilen zu müssen, dass ich lieber Schriftsteller werden sollte. (Oder wie auch immer ich mich dann bezeichnen würde. Autor. Poet. Dichter. Geschichtenerzähler. Schreiberling.) Man wünscht mir viel Glück dabei, zu leben, ohne zu überleben.

Früher oder später werde ich die prall gefüllten Kugeln platzen lassen. Den Inhalt über euch entleeren. Mich höchstens für den säuerlichen Geruch entschuldigen. Und losflattern.

[1] Eric Carle: „Die kleine Raupe Nimmersatt“, Gerstenberg Verlag 1969.

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