Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere

Teil 6: Der Charakter

von Mara Laue

Der Charakter unserer Hauptfiguren und deren Gegenparts ist ein sehr wichtiges Element unserer Geschichten, denn dadurch wird ihr Handeln, ihr Fühlen und Denken bestimmt. Deshalb müssen wir bei dessen Entwicklung besonders sorgfältig sein.
Ein beliebter Fehler (nicht nur von Neulingen) ist, die Figuren eindimensional im Schwarz-Weiß-Raster zu schildern. Die Hauptfiguren sind durch und durch gut, ohne Fehl und Tadel, ohne Schwächen, und auch ihr Äußeres ist perfekt. Sie können nahezu alles, versagen nie und sind vom Glück verwöhnt. Sie sind nicht übergewichtig, nicht unsportlich, haben keine Laster und nur Freunde – bis auf die Antagonistinnen/Antagonisten. Die sind dagegen der Teufel in Menschengestalt, hässlich, böse, gemein, und tragen keinen Funken Gutes in sich.
Solche Figuren gibt es nur im Märchen, wo das Gute und das Böse bewusst überzeichnet werden. Jeder Mensch hat positive und negative Eigenschaften, die unterschiedlich ausgeprägt sind. Eine eindimensionale Figur – egal ob gut oder schlecht – ist immer unglaubhaft. Aus diesem Grund müssen wir uns über die Schwächen unserer Figuren ebenso intensive Gedanken machen wie über deren Stärken.
Deshalb ist es gerade bei Romanen unerlässlich, den Haupt- und wichtigen Nebenpersonen vor dem Schreiben besondere Aufmerksamkeit zu widmen und sie so gut kennenzulernen wie den besten Freund oder die beste Freundin. Dazu gibt es mehrere Methoden. Ich persönlich benutze einen „Charakterbogen“, den ich zu einer ausführlichen Personalakte ausarbeite (siehe eine der nächsten folgen). Andere Autorinnen/Autoren führen ein schriftliches Interview mit ihren fiktiven Personen, wieder andere lassen sie einen „Bewerbungsbogen“ ausfüllen wie bei einem Bewerbungsgespräch. Welche Methode man am Ende wählt, ist egal. Ohne diese Vorarbeit laufen wir jedoch Gefahr, uns beim Schreiben nicht ausreichend in unsere Charaktere hineinversetzen zu können und sie entsprechend handeln zu lassen.

Ein wichtiges Merkmal einer Person in jeder Geschichte und jedem Roman ist, dass sie authentisch ist und handelt. Haben wir den Charakter einmal festgelegt, müssen wir unsere Figuren dementsprechend agieren lassen. Wenn sich Profis unprofessionell benehmen (es sei denn, sie täten das im Rausch), werden sie unglaubwürdig. Wer nimmt schon einer Ärztin ab, dass sie Kopfschmerztabletten verschreibt, wenn die Patientin über Bauchschmerzen klagt oder dass eine Kfz-Mechanikerin eine Lichtmaschine falsch anschließt. Oder dass der Ermittlungsleiter dem Team seiner Mordkommission aufzählt, was und vor allem wie sie zu ermitteln haben, obwohl jeder von ihnen das selbstverständlich weiß. Solche Dinge passen nicht zu den beschriebenen Charakteren, weshalb die Lesenden sie uns auch nicht abkaufen (und das Buch/die Story enttäuscht zur Seite legen).
Dasselbe gilt ganz besonders für Charaktereigenschaften. Ein ruhiger Mensch flippt nicht wegen einer Kleinigkeit aus. Ein Pazifist wird kaum freiwillig eine Boxkampfveranstaltung besuchen, und eine graue Maus brezelt sich nicht mit hautengem roten Kleid und High Heels fürs Büro auf. Tun unsere Figuren das trotzdem, müssen wir das verdammt gut begründen, sonst nehmen uns die Lesenden das nicht ab.

Natürlich müssen unsere Hauptpersonen auch interessante Leute sein. Allerweltstypen, die verdächtig unseren (langweiligen) Nachbarn ähneln, eignen sich nicht als Hauptpersonen für spannende Geschichten (persönliche Erlebnisberichte ausgenommen). Interessante Charaktere lassen sich aber relativ einfach erschaffen. Für manche Plots genügt es bereits, wenn sie einen interessanten Beruf oder ein ungewöhnliches Hobby haben. Doch beides sollte unbedingt zu ihrem Charakter passen, sonst droht wieder die Unglaubwürdigkeit.

Unsere Figuren sollten auch mindestens einen Punkt in ihrer Vergangenheit haben, der ihnen zu schaffen macht, zum Beispiel der Verlust eines geliebten Menschen, ein Unfall, eine Straftat, ein erlittenes oder begangenes Unrecht, ein Kindheitstrauma, eine Phobie, eine tiefe Kränkung usw. Schließlich gibt es kein einziges reales Menschenleben, in dem nicht mindestens ein gravierendes negatives Ereignis stattfindet. Diese Ereignisse haben immer auch einen prägenden Einfluss auf den Charakter und das Verhalten eines Menschen. Fiktiven Personen ohne solche „Lebensbrüche“ fehlt das „Profil“, das sie interessant macht.
Jedoch sollten wir unsere Figuren nicht zu kaputt sein lassen. Das Positive muss immer überwiegen, denn die ‚Hauptaufgabe unserer Hauptfiguren ist, dass die Lesenden sich mit ihnen identifizieren können. Es darf gern subtil sein, aber es sollte überwiegen. Ein kettenrauchender, saufender, fluchender, rüpelhafter, schmutziger Flegel, der sich mit jedem anlegt, jeden brüskiert und bei jeder Gelegenheit einen Streit vom Zaun bricht, taugt nicht als Held und wäre sogar als „Bösewicht“ zu negativ dargestellt., wenn Sie den Lesenden nicht auch seine guten Seiten zeigen.
Das Besondere, das die Hauptfiguren von anderen (durchschnittlichen) Menschen unterscheidet, sollte zumindest zum Teil für die Handlung relevant sein. Zum Beispiel muss die Kommissarin ihre Angst vor Höhlen überwinden, um den Verbrecher im unterirdischen Gewölbe stellen zu können. Oder der Journalist stößt bei Recherchen für einen Artikel, die er nie unternommen hätte, wenn er eben nicht Journalist wäre, auf eine Verschwörung.

Das Wichtigste beim Entwerfen von literarischen Figuren, ist das Vermeiden von Klischees. Und zwar nicht nur im Hinblick auf eindimensionale Schwarz-Weiß-Malerei. Das kann nicht oft genug betont werden. Ein trotteliger Ermittler, der selbst die offensichtlichsten Zusammenhänge nicht erkannt hätte, wenn eine Miss Marple ihn nicht mit der Nase darauf gestoßen hätte, ist ebenso unglaubhaft wie die Vorzimmerdame, die den lieben langen Tag nichts anderes zu tun zu haben scheint, als sich am Arbeitsplatz die Nägel zu feilen und Dauertelefonate auf Firmenkosten mit der Freundin zu führen. In der Realität wären beide innerhalb kürzester Zeit ihren Job los.
Nicht jeder Reiche oder Superreiche ist ein eiskalter Egoist oder seine Frau eine nur auf Äußerlichkeiten bedachte Anziehpuppe mit einem Kleiderschrank von der Größe einer Kaufhausabteilung. Auch die Frau mit den angeblich zig Paaren von Schuhen ist ein Klischee, das in der Realität nur sehr selten existiert. Eine engagierte Wissenschaftlerin ist nicht zwangsläufig eine nur Hosen tragende „Emanze“, die keinen Wert auf ihr Äußeres legt. Und nicht jede Herrin einer Villa – adelig oder nicht – führt sich gegenüber den Hausangestellten auf wie eine Sklaventreiberin oder kleidet sich ausschließlich in superteure Gewänder von Yves Saint Laurent und Schuhe von Manolo Blahnik.
Dass wir uns intensiv mit dem Charakter der Hauptpersonen beschäftigen und ihn detailliert ausarbeiten, ist essenziell und trägt sehr zum späteren Erfolg des Romans/der Story bei. Damit uns keine psychologischen Fehler in der Charakterisierung unterlaufen, sollten wir uns auch intensiv mit Psychologie beschäftigen. Das ist nicht nur für das Schreiben von Psychothrillern wichtig, sondern für jeden Roman, damit unsere Figuren authentisch handeln. Ich frage bei verwickelten Gefühlslagen einen befreundeten Psychiater um Rat, ob die von mir für meine Figuren geplanten Verhaltensweisen authentisch sind oder ob es irgendetwas gibt, das ich in der fiktiven Situation besonders beachten muss. Wer keine solche Person im Bekanntenkreis hat, kann sich das erforderliche Wissen in unzähligen Ratgebern anlesen.

Charakterbeschreibung

Die Beschreibung des Charakters ist eine Sache für sich. Gerade bei der Charakterisierung von Figuren wirkt es plump, wenn man die Charaktereigenschaften nennt, selbst wenn das in einem Dialog geschieht. Erzählen wir den Lesenden durch ein „Opfer“ des Antagonisten „Ich bin noch nie zuvor einem so abgrundtief bösartigen Menschen begegnet!“, ist das zwar aussagekräftig, als alleiniges Kriterium oder eines von mehreren charakterlichen Kriterien ist es aber nicht plastisch genug. ZEIGEN wir den Lesenden die Bösartigkeit, indem wir den Antagonisten entsprechend HANDELN lassen. Für die Beschreibung des Charakters ist das die literarisch beste Methode.
Hierfür genügen oft schon Kleinigkeiten. Zeigen wir den Menschen in einer Situation (vielleicht sogar aus seiner eigenen Perspektive), wie er einen hilflosen, süßen Welpen, der ihm auf den Schuh gepinkelt hat, mit einem Fußtritt gegen einen Baum schleudert, dass dem Tier alle Knochen brechen und er das auch noch als „gerecht“ empfindet, dann muss weder jetzt noch später im Text jemand über ihn sagen, dass er „bösartig“ ist. Diese Tatsache hat er durch seine Handlung gezeigt. Auf diese Weise lässt sich auch besonders gut ein ambivalentes Verhalten demonstrieren. Geht der Held gleichgültig an der alten Frau vorüber, die sich mit schweren Einkauftaschen abmüht, empfindet aber deswegen Gewissensbisse, sagt das mehr über ihn aus, als wenn wir im Text anmerken oder eine unserer Figuren im Dialog über den Mann sagt, er habe Reue empfunden.
Ebenso wirkungsvoll ist, „nebenbei“ einzuflechten, was eine Person über die aktuelle politische Lage, ein soziales Problem, eine Bevölkerungsgruppe oder Minderheiten denkt. Lassen wir eine Person beim Anblick einer Flüchtlingsfamilie reflektieren, dass für diese Leute noch viel mehr getan werden müsste und überlegen, was sie selbst dazu beisteuern kann, sagt das ebenso viel über sie aus wie wenn sie sich wünscht, „diese Schmarotzer“ sollten besser dahin gehen, wo der Pfeffer wächst. Das genügt, um den Lesenden ein Bild davon zu vermitteln, „wes Geistes Kind“ der/die Betreffende ist.
Lassen wir unsere Figuren – die Positiven wie die Negativen und alle Nebenfiguren, die wir charakterisieren wollen – den Lesenden ihren Charakter durch ihr Verhalten, ihre reflektierten Ansichten/Meinungen, politische Ausrichtung und ihre Handlungen demonstrieren. Auch dieser Kniff trägt sehr zur Lebendigkeit des Textes und zur Glaubwürdigkeit der Figuren bei.

Aber nicht nur durch den Charakter selbst lassen sich unsere Figuren „zeigend“ beschreiben. Der Kleidungsstil und die Einrichtung der Wohnung, die Wahl und der Zustand des Autos (gepflegt oder nicht) und sogar die Wahl der Wohnung selbst (Hochhaus oder Einfamilienhaus, Mietwohnung im „Bunker“ oder mit wenigen Parteien zusammen, in der Stadt oder auf dem Land), auch der Inhalt des Kühlschranks und der des Bücherregals oder die Abwesenheit eines solchen sagen sehr viel über die Persönlichkeit eines Menschen aus.
Um jemanden als schlampig zu charakterisieren, brauchen wir nur wertungsneutral (!) zu beschreiben, dass sich im Sonnenlicht eine dicke Staubschicht auf den Regalen offenbart oder das schmutzige Geschirr in der Spüle schon Schimmel angesetzt hat. Dann müssen wir nicht einmal eine dies betrachtende Figur sagen oder denken lassen, dass das ekelhaft ist, denn den Schluss ziehen die Lesenden selbst.
Wenn wir uns dieser Methoden der Charakterisierung bedienen, haben wir unendlich viele Möglichkeiten, subtil und dennoch eindringlich zu zeigen, aus welchem Holz eine Person geschnitzt ist, welchen Charakter sie besitzt. Kleine Tricks – große Wirkung!

 

In der nächsten Folge:

  • Die Ausdrucksweise

In weiteren Folgen:

  • Handlungsmotive
  • Glaubhafte Reaktionen/Handlungen
  • Die „Personalakte“
  • Die Hauptfigur und ihr Gegenpart
  • Nebenfiguren
  • Broken Hero, der „gebrochene Held“

 

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