Sucht zur Kontrolle

Kurzgeschichte von Erik Blumenthal

Als reiche einem Lebewesen Herzschlag und Atmung. Als sei das richtig. Als sei es richtig, eine einsame Intelligenz im All zu sein, im reizlosen Schwarz der Nacht. Als sei das gut.
Wir sind auf der Erde. Eine Kurve schmaler Zypressen zieht zur gelben Villa. Von der Adria steigt der Seewind hoch. Wir schauen zur Altstadt herab, der Wind bläst in unser Gesicht. Die Stadtmauer aus venezianischer Zeit schließt die Altstadt ein, eine kompakte, weiße Masse alten Gesteins.
Wir laufen weiter. Wir nehmen diese Aufgabe ernst, ernst heißt: Es braucht einer sehr speziellen Struktur, um sich seiner habhaft zu werden.
Wir betreten die Villa. Seit Jahren bleibt es hier ruhig. Staub sammelt sich, gelbe Farbe blättert ab, legt weiße Leitungen offen. Wir kennen sein Zimmer. Wir wissen, wie sein Bett steht, wir wissen, wie oft die Schwester das Wasser in der Blumenvase wechselt. Wir wissen die Injektionszeiten der Sondennahrung. Jemand hat seinen Raum gereinigt (wir wissen wer). Wir kennen seinen Körper von außen. Wir haben Daten zur Physiologie enthalten. Vitalzeichen sind nur Zeichen.
Unter der Bettdecke, derart zerwühlt vom Traumschlaf, krümmt sich der Körper seiner neuronalen Aktivität. Die Haare sehr grau, die Haut altersfleckig, das Geburtsdatum entfernt. Fenstersonne bricht erdfarbene Schatten auf das dünne Parkett. Die Schwester stellt einen Stuhl bereit: Polster notdürftig geflickt. Wir danken, setzen uns und betrachten das Heben und Senken des Brustkorbs, riechen die gecremte Oberhaut, hören das kurze, tiefe Brummen der Spezialmatratze für Langzeit-Bettlägerige. Wir schweigen. Dann sagen wir:
„Schwester. Wir wären bereit für die Behandlungs-Prozedur.“
„Den Raum abschließen? Wäre das besser?“
„Nein, nein. Notieren Sie Datum und Uhrzeit und die Länge der Behandlung. Zum Ende der Behandlung folgt ein kurzes Klopfen. Wir melden uns telepathisch.“
„Natürlich. Natürlich“, sie ruckt seltsam mit dem Kopf, „natürlich, natürlich!“ und verschwindet lautlos in ihr Zimmer. Es wird still. Dann beginnen wir mit der Prozedur.

Der Monitor des Telecortex steht neben dem Bett. Nulllinie und verstaubt. Den pfeifenden Dauerton hat die Schwester vor Jahren abgestellt.
Wir wissen also: Er denkt nicht an die Außenwelt. Er kommuniziert nicht. Wir wissen auch: Neunzehn Fälle gibt es im Kosmos. Fünfzehn auf der Erde. Vier auf den Stationen des Uranus. Dreizehn Verdachtsfälle im Marsorbit. Neuronale Substanz, die vor sich hinschwimmt, in alten, prädigitalen Schädeln eingeschlossen und ohne einen Beitrag zur großen, weiten Welt.
Fälle hinter dem Kleiner-als der Wahrscheinlichkeit einer Nullhypothese. Fälle, die die Verteilungsfunktion mit der Nullachse verbinden. Wo wir nicht wirken. Wo wir als globale Kraft keine Bedeutung finden. Als verweigerten sie sich dem globalen Bewusstsein. Uns.
Wir legen einen ersten Schlauch an den intravenösen Port, einen zweiten zwischen zweiten und dritten Halswirbel, der neuronale Port. Wir dringen ein.

Erste Erinnerung: Stadt Split, adriatische Küste, ein Brunnen steht vor der venezianischen Stadtmauer, und das Wasser tropft aus kalkigem Hahn. Kroatien hieß das Land. Wir sehen den Patienten als jungen Mann. Füllt Brunnenwasser in zerbeulte Plastikflaschen. Wir tragen ein schwarzes Kleid, absatzlose Schuhe und kennen seine Sprache. Summertime.
Wir nähern uns dem jungen Mann. Wir tragen das Haar zum Dutt, im Stil der Zehner-Jahre, goldrunde Brille, wir wissen die Bedürfnisse eines Trampers zur Nacht: Ein Platz zum Schlafen. Keine Fragen nach wer, woher, wohin. Das Reichen einer Schale warmen Tees. Ein ruhiges „Bis morgen dann“.
Wir laufen und atmen bewusst. Legen uns die Worte zurecht. Argumente und Emotionen. Wir wissen für jedes Gespräch einen Dialog. Wir sind vorbereitet. Das globale Bewusstsein ist immer vorbereitet. Immer. Das globale Bewusstsein ist Vorbereitung. Der Stoff spannt abwechselnd. Links rechts, links rechts. Der junge Mann trinkt aus der zerbeulten Plastikflasche. Er drückt sie mit der linken Hand, das Wasser rinnt von seinen Mundwinkeln ab, verdunstet auf den vom Tag warmen Pflasterplatten.
„Hallo!“, sagen wir und heben die Hand. Vorsichtig, ein fast unmerkliches Zeichen, kurz und intim. Er sieht uns an. Packt den Rucksack. Rennt los, verschwindet in mediterraner Nacht.
„Sie haben etwas vergessen!“, rufen wir.
Ein rotes Heft. Wir stellen fest: Der Große Straßenatlas Europas. Wir blättern ihn durch. Die Belastung seiner Reise hat die dünnen Farben des Balkans abgenutzt, ein Netzwerk weißer Papierfasern schimmert hervor. Rote Straßen glänzen über den violetten Linien nationaler Staatlichkeit. Nächster Versuch.

Zweite Erinnerung: Smartphones halten nur die Alten. Wieder der Brunnen, wieder die Mauer, wieder die Stadt Split. Es ist Tag. Wir tragen das schwarze Kleid und sehen: Der Mann füllt eine schöne Feldflasche auf. Seit hunderten Jahren läuft das Wasser, seit zwanzig lebt er hier. Vierziger Jahre. Das Land heißt für wenige Kroatien. Für viele nicht mehr.
„Ist einfach“, rufen wir den Alten zu: „Augen schließen, und schon teilt man seine Denke der einen, großen Welt.“
„Jaja“, brummt eine alte Frau: „Jaja“, und wischt über das Display seines Smartphones.
„Ist wichtig. Man weiß ja nie. Ein Gedanke, und der Kosmos stürzt um.“
„Jaja“, brummt die alte Frau: „Jaja“, und legt das Smartphone zur Seite:
„Ende des Telecortex. Nie wieder Telecortex. Mein Körper ist mein Recht. Meine Gedanken sind meins. Kroatien, mein Land.“ Sie presst die Lippen zusammen, ein schmaler Strich ihrer Entschlossenheit. „Eure Sucht zur Kontrolle“, flüstert sie.
Kroatien, mein Land. Kroatien, mein Land. Kroatien, mein Land.
Wir schauen kurz zum Brunnen: Das Wasser fließt. Der Mann ist verschwunden.

Denn alles mit allen verbunden, das Netzwerk solide geflochten durch Schwächung und Stärkung von Rhythmik und Potential. Jedes Neuron an jedes Neuron. Wir werden erschaffen: das große globale Bewusstsein.
Dritte Erinnerung: Die goldenen Sechziger. Unsere Hände gleiten in das Brunnenwasser, mit der Vorsicht eines schüchternen Kindes. Das eiskalte Wasser prickelt auf unserer Haut. Der Wasserspiegel reflektiert das unregelmäßige Muster unseres Gesichts.
Wir streifen über die Innenseite der Brunnenschale. Algen und Unterwassermoos kennen wir. Wir streifen zur tiefsten Stelle der Schale. Etwas fixiert die Hand. Etwas wächst über den Finger, krallt sich um sie, zieht sich, aus einer unbekannten Quelle magnetischer Kraft, wir erschrecken: Unbekannt? Ist etwas unbekannt?
Die gelbe Villa. Wir denken an die Außenwelt: schauen von der Stadtmauer die Straße, den Hügel hoch und erkennen das schwache Bild einer gelben Holzvilla vor schlanken Zypressen. Keine Antwort. Keine Antwort aus der Villa. Keine Antwort aus dem Behandlungszimmer. Der Telecortex bleibt still, eine exakte Linie zieht er durch.
Ein winziges Brechen, ein kurzes Klacken, Ruhe, sie flüstert sich an uns heran. Dann spüren wir die Angst. Fließt von tiefen Stellen zu uns, bricht ein in das globale Bewusstsein und rauscht. Angst, hier zu sein. Angst.
Sofort, der Blick hoch: Wir sehen die Mauer. Wir zerren die Hände hoch, wir sehen etwas, könnte ein Brunnen sein, vor uns könnte eine Mauer sein. Schauen zurück, ein Licht fällt nieder, vom Hügel steigt eine Rauchfahne, eine dürre, geschlossene Spur gen Himmel. Der Mann sitzt vor dem Brunnen. Er blättert durch den Straßenatlas seiner Jugend. Er lächelt uns an, er lächelt alle Menschen der Welt an und sagt: Reingelegt. Reingelegt, globales Bewusstsein.

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