31052022 Doppelausschreibung 13_14 Selbstaufgabe_Egozentrik LOGO

Ich bin Blanka.

Geschichte von Josie Doornbos

8.32 Uhr. Ein Gegenstand fällt auf den Boden.
„Hast du das gehört?“, flüstert die Frau.
Von ihrem Mann kommt keine Reaktion.
Abwarten.

8.33 Uhr. Der Mann öffnet die Augen und sieht seine Frau verschlafen an.
„Hast du was gesagt, Schatz?“
Die Frau wimmelt ab und schließt erneut die Augen. Es knallt erneut.
„War das die Creme-Dose oder Hildegard?“

Sie dreht sich zu ihrem Mann um. Der ist wieder eingeschlafen. Aus seiner Nase pfeift es.
Es war sicher die Creme-Dose! Für eine Hildegard war das Geräusch zu leise. Hildegard klappert auch nicht. Die Creme-Dose muss leer sein.
Auf ihrem Handy tippt sie unter ihre To-do Liste eine neue Zeile.

Einkaufsliste:
– Creme-Dose

Sie überlegt einen Moment und ergänzt die Liste um zwei weitere Punkte.

– Einlagen, Dicke 3+
– Wollwaschmittel

Dabei stöhnte sie auf. Hildegard will selbst waschen, und für ein Bettlaken geht gut ein halber Liter Waschmittel drauf. Da bringt auch ‚Strecken mit Wasser‘ nichts!

9.00 Uhr. Bevor der Wecker klingelt, drückt die Frau auf ‚Beenden‘. Ihr Mann muss ja nicht aufwachen. Die Nacht war lang genug. Für sie beide. Hildegard hat viel geschrien und wild geträumt. Von ihrem toten Mann und ihrer toten Mutter.

9.02 Uhr. Die Frau zieht ihre Kleidung an und schleicht sich aus dem Zimmer. Als sie ins Bad gehen will, sieht sie die offene Tür. Hildegards Schlafzimmer ist dunkel.
„Hildegard?“, ruft die Frau und streckt ihren Kopf zum Zimmer rein. Sie geht zu dem Fenster und zieht die Gardinen auf. Hildegards Bett ist leer. Ein muffiger Geruch zieht ihr in die Nase. Im Badezimmer wird sie von einer Urinwolke eingehüllt. Sie reißt das Dachfenster auf. Keine Spur von Hildegard.
Dafür liegt die Creme-Dose neben dem Waschbecken.
Die Frau nickt zufrieden, hebt die Dose auf und schmeißt sie in den Müll. Auf dem Waschbecken entdeckt sie zwei benutzte Unterhosen und rümpft die Nase.
„Schatz?“ Ihr Mann steckt den Kopf zur Tür rein. „Ist alles okay?“
Sie nickt. „Hildegard ist schon unten. Ich schau gleich nach ihr.“
Er nickt und geht zurück ins Bett.
Die Frau schnappt sich die Unterhosen und öffnet die Tür zum Waschraum. Die Waschmaschine eiert vor sich hin.
„Kochwäsche – 4 Stunden“ liest sie auf der Anzeige. Der Blick in die Trommel verrät ihr:
Hildegard wäscht heute nur die Waschmittelpackung. Bei jeder Drehung schlägt sie gegen das Guckfenster und entleert ihren Inhalt in die wäscheleere Trommel.
Etwas fällt klirrend zu Boden.
Sie läuft in ihr Zimmer. Ihr Mann liegt nasepfeifend im Ehebett. Der hat Nerven!

9.13 Uhr. Eilig rennt sie die Treppe hinunter. Ihre Haare knüllt sie zu einem Dutt zusammen.
Es ist stockdunkel. Keine Hildegard in Sicht.
„Hildegard?“, ruft sie in das Wohnzimmer.
„Mutti?“, ruft es zurück.
Erleichtert atmet sie aus. Es ist Hildegard. Und Mutti ist sie nicht. Aber Hildegard denkt das.

9.14 Uhr. Die Frau betätigt den Lichtschalter. Es tut sich nichts. Es klackt zweimal. Alles bleibt dunkel.
„Mutti, der Strom ist weg!“, flüstert Hildegard.
„Hier ist nicht Mutti! Ich bin es.“ Die Frau geht auf die Silhouette von Hildegard zu, die auf ihrem Ohrensessel sitzt. Ein kleiner Ritz der Jalousie wirft einen Lichtschein auf sie.
„Ist dir was runtergefallen, Hildegard?“, fragend sieht sie Hildegard an. Die nickt und deutet vor sich.
Die Frau sammelt die groben Glasscherben ein und bringt sie in den Müll. Der Teppich ist feucht vom Wasser.
„Mutti, machst du die Jalousie hoch?“, fragend schaut Hildegard ins Leere.
„Ohne Strom geht das nicht, Hildegard!“, antwortet die Frau.
Sie geht zum Sicherungskasten in den Keller. Nur die Taschenlampe ihres Handys erhellt den Raum. – Klack! – und nochmal – Klack! -. Die Sicherung springt raus. Wieder und wieder drückt die Frau sie rein.

9.33 Uhr. Ratlos ruft sie ihren Mann. Mehr kann er auch nicht.
„Der soll mir nichts verstellen!“, plärrt Hildegard die Kellertreppe hinunter.

9.46 Uhr. Die Frau schmiert Hildegard ein Brot, gibt ihr ihre Tabletten und zündet ein paar Kerzen an. Sie setzt sich zu ihr.
„Mutti, der Fernseher ist aus.“ Hildegard tippt auf ihrer Fernbedienung herum.
„Ohne Strom geht der nicht, Hildegard!“, antwortet die Frau angespannt.
Stille.
„Du siehst auch aus wie Alltag!“
Hildegard mustert den wuscheligen Dutt auf dem Kopf der Frau. Die war noch nicht mal im Bad.

11.28 Uhr. In ihrem Handy findet sie die Nummer eines Elektrikers.
„Elektroinstallateur Möllmann, wer da?“
„Hier ist Hildegard“ antwortet die Frau. „Ich meine,… hier ist…“, sie macht eine kurze Pause.
„Mutti!“, ruft Hildegard.
„Ich rufe für Hildegard an“, verbessert sie sich.
Der Elektriker kann erst in zwei Tagen kommen. Hildegard wirft ihr Brot auf den Boden.
„Mutti, das geht nicht. Wir können nicht zwei Tage ohne Strom sein! Was ist mit meinen ‚Roten Rosen‘?“
Die Frau schaut auf das Brot, das mit der Marmeladenseite auf dem Teppich gelandet ist.

18.00 Uhr. Der Abend läuft ähnlich ab. Zu dem Marmeladenfleck gesellt sich eine gefüllte Paprika.
„Mutti, was ist noch mal Krankenschwester in Englisch?“
Hildegard krickelt in ihrem Rätselmagazin vor sich hin.
„Nurse“, antwortet die Frau.
„Wie?“
Hildegard sieht sie fragend an.
„N-U-R-S-E“, buchstabiert sie.
„Passt. Zusammen löst es sich doch besser!“
Hildegard nickt zufrieden.
Buchstabieren kann auch Spaß machen.
„Wenn die Kerzen ausgeganen sind, gehen wir ins Bett.“
Hildegard starrt in die Dunkelheit.

22.35 Uhr. „Schlaf gut mein Schatz“, flüstert der Mann seiner Frau ins Ohr.
„Du, ich hab‘ heut meinen Namen vergessen!“, flüstert sie.
Stille.
„Ich hab‘ mich mit Hildegard vorgestellt.“
Mit schweren Augenlidern schaut sie zu ihrem Mann. Es pfeift aus seiner Nase.

7.22 Uhr. „Ja, hallo?“ Verschlafen geht die Frau an ihr Handy. Es hat sich von der einen zur anderen Nachttischseite gebrummt.
„Hildegard? Wir können doch heute schon kommen!“
Elektroinstallateur Möllmann kündigt sich für 10.30 Uhr an.
Mit einem Mal ist die Frau hellwach.
„Blanka“, ruft sie in das Telefon.
„Ich bin Blanka.“

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