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Geld wird knapp

Geschichte von Michael Schönberg

Es war der Fünfzehnte in einem Monat. Welcher Monat es war, weiß ich nicht. Ist auch unwichtig, denn es gab viele Fünfzehnte, bei denen in unserer Familie ein Problem auftauchte: Geldmangel!
Mein Vater arbeitete im Schichtdienst bei Mannesmann. Anders als die Betriebe und Firmen in der Umgebung zahlten sie die Löhne immer am Zwanzigsten eines Monats aus. Es hieß also, vom Zwanzigsten bis zum nächsten Zwangszigsten mit dem Geld hauszuhalten.
Obwohl mein Vater durch seine schwere Arbeit im Walzwerk gut verdiente, reichte es nie, eine 9-köpfige Familie mit dem Notwendigsten zu versorgen. Meine Mutter hatte neben ihrem Haushalt noch eine Putzstelle. Ein Zubrot, das half, aber nicht immer alle Löcher stopfen konnte. Und darin lag das Problem.
Jeden Tag für die große Familie Essen und Trinken anzuschaffen, für Kleidung, Schulsachen und die monatlichen Belastungen zu bezahlen, war nicht einfach und bedurfte bester Planung. Die Wohnungsbaugesellschaft, die Stadtwerke und die Müllabfuhr, um nur einige der monatlichen Belastungen aufzuzählen, zogen ihre Zahlungen immer zum Einundzwanzigsten ein. So waren sie sicher, dass sie ihr Geld bekamen, und die Familien hatte ein gesichertes Dach über dem Kopf.
In Rath waren über 3.000 Wohnungen, die der Wohnungsgesellschaft Mannesmann gehörten. Häuser, in denen meist sechs bis acht Parteien wohnten. Wir wohnten auf der Dortmunderstraße in einer Sozialwohnung mit 75 Quadratmeter. Um alle der Familie ein Bett zu Verfügung zu stellen, hatten meine Eltern noch zwei Mansarden gemietet. Dort wohnten wir älteren Kinder, unten im Kinderzimmer die kleinen.
Es gab in der Mannesmann-Siedlung viele kinderreiche Familien, die in den gleichen Verhältnissen wohnten. Die etwas besser gestellten wohnten in dem einzigen Hochhaus auf der Bochumerstraße. Dort gab es auch einen »Tante Emma Laden«. Weit von der Einkaufsmeile Westfahlenstraße entfernt, und alles teurer als bei Otto-Mess oder Spar. Doch der Laden war gut besucht. Denn der hatte einen Vorteil, den die Supermärkte nicht anboten: Anschreiben.
Bei Tante Hanne (eigentlich hieß die Frau Hannweder) konnte man einkaufen und die Ware erst bei der nächsten Lohnzahlung begleichen. Jedenfalls bis zu einer gewissen Summe. Die lag so um die Fünfzig Mark. Eine Summe, die für eine Großfamilie schnell erreicht war.
Doch zurück zu dem fünfzehnten und dem fehlenden Zahlungsmittel. Die beste Planung half nicht, wenn es Unvorhergesehenes gab. Geldausgaben, die nicht planbar waren. Schon die Beteiligung an einem Kranz für einen verstorbenen Verwandten, einem Freund oder jemandem aus dem Haus führte fast zur Katastrophe.
Was tun, wenn erst in vier oder fünf Tagen neues Geld gab?
Meine Mutter ging wie viele andere Mütter zur Bank und bat um einen Vorschuss auf das zu erwartende Geld. Doch hier wurde sie, wie so oft, abgewiesen. Ohne einen Pfennig musste sie wieder nach Hause gehen. Sie wusste, dass es am Abend wohl nichts zu essen gab. Sie dachte dabei nicht an sich, da bin ich mir sicher, sie dachte an uns Kinder und an ihren Mann, Armin, der ohne eine kräftigende Mahlzeit zur Nachtschicht musste.
Nun kam ich ins Spiel der Armutsbewältigung.

Ich, der kleine Michael mit den blauen, unschuldigen Augen und den blonden Locken. Meine Mutter machte einen Einkaufszettel und legte ihn in eine Einkaufstasche. »Michael, du musst zur Tante Hanne gehen und für uns was einkaufen. Den Zettel habe ich in den Beutel getan. Sage der Frau Hanne, dass ich übermorgen das Geld bringe.«
Ich wusste noch nicht genau, was es damit auf sich hatte, einkaufen und nicht zu bezahlen. Mit meinen sieben Jahren verstand ich noch nicht, was es bedeutete, auf Pump zu kaufen. Ich wusste nur, dass es für mich nichts Gutes bedeutete. Immer gab es bei der Tante Ärger. Sie schimpfte, sprach von Schulden und vom Bezahlen. Auch wenn sie dabei sagte, du kannst ja nichts dafür, fühlte ich mich schlecht. Ich machte mich trotzdem auf den Weg. Meine Mama hatte mir berichtet, dass, wenn ich nicht gehen würde, wir heute Abend nichts zu essen hätten. Ich sollte doch an Papa denken, an meine Geschwister und vor allem an Gerda, meiner Schwester. Diese war sehr krank und konnte sich nicht bewegen. Sie lag immer im Bettchen oder auf dem Schoss von Papa. Manchmal durfte ich sie füttern. Milchreis mochte sie am liebsten. Und der war auch alle, hatte Mama gesagt. Schon deshalb ging ich los. Meine Eltern wussten, dass die Tante mich gut leiden konnte. Wir spielten oft in dem Park hinter dem Hochhaus. Manchmal ging ich zu der Tante und fragte, ob ich ihr etwas helfen könnte. Da ich keine Süßigkeiten mochte, hatte ich dabei die leckere Wurst im Sinn, die sie mir schenkte, wenn ich was half. Ich fegte vor ihrem Laden oder räumte ein wenig Müll weg, stellte die leeren Flaschen in die Kisten oder fegte auch schon mal im Laden. Ich hasste es, bei ihr zu betteln. Ich tat etwas und bekam etwas. Das war gut. Doch nun war ich auf dem Weg zu ihr und konnte nichts anderes tun als betteln.

 

Wie immer begrüßte mich die Tante Hanne mit einem Lächeln.
»Heute habe ich keine Arbeit für dich, aber komm, eine Scheibe Wurst bekommst du trotzdem.« Als sie jedoch meine Tasche sah, hörte sie auf zu lächeln und machte ein ernstes Gesicht.
»Nee, mein kleiner Blondschopf. Ich kann euch nichts mehr geben. Sag deiner Mama, dass sie erst die Schulden bei mir bezahlen muss, dann gibt es wieder was.«
»Tante Hanna, meine Mama hat gesagt, dass sie mit Geld kommt und bezahlt. Ich hab vergessen, was sie gesagt hat, wann sie kommt. Und sie hat gesagt, dass es nicht viel ist, was auf dem Zettel steht.«
»Michael, ich weiß, dass deine Mama immer bezahlt. Aber jetzt habt ihr schon für fast 100 Mark bei mir eingekauft, ohne zu bezahlen. Ich brauche doch auch Geld, um die Ware einzukaufen. Außerdem hat deine Mama bei mir bezahlt, und ist dann in den großen Supermarkt gegangen und hat da ganz viel eingekauft und bei mir ganz wenig. Es tut mir leid, aber ich kann dir heute nichts geben. Aber komm, nimm die Wurst und komm mit deiner Mama wieder, wenn es Geld gegeben hat.«
Nicht alles, was sie sagte, hatte ich verstanden, doch dass es nichts gibt, das schon. Mir wurde mit einem Schlag klar, Gerda würde heute ihren Brei nicht bekommen, wenn ich den nicht mitbringe. Die arme Gerda, das geht doch nicht. Wir bekommen Nudeln, Pommes und Knödel. Aber sie darf so was nicht essen.
»Tante Hanna. Ich will die Wurst nicht. Gerda bekommt heute Abend nichts zu essen, da will ich auch nichts essen.«
Ich drehte mich um und fing an zu weinen. Nicht weil ich nichts zu essen bekomme. Doch außer Gerda würde doch auch Papa hungrig zur Arbeit gehen.
Einmal waren Mama und ich bei Papa auf der Arbeit. Wir haben ihm Essen mit dem Henkelmann gebracht. Da habe ich gesehen, wie mein Papa arbeiten muss. Ganz schmutzig war der Papa.
Draußen setzte ich mich auf den Stein, der neben dem Laden war. Ich heulte, weil ich nichts bekommen hatte und mit einem leeren Beutel nach Hause musste.
»Die arme Gerda, der arme Papa.« An meine Mama und an meine anderen Geschwister habe ich gar nicht gedacht. Ich dachte nach, was ich machen könnte. Doch es fiel mir nichts ein, außer dass ich etwas bei der Tante was mache und sie mir statt der Wurst den Brei gibt.
»Tante Hanna« sagte ich schluchzend, » kann ich etwas bei dir machen, und du gibst mir den Brei für die Gerda, nur den Brei? Bitte Tante, nur den Brei für meine kranke Schwester. Bitte!«
Dann versagte meine Stimme, und mir wurde schlecht. Schnell war die Tante zur Stelle, packte mich und setzte mich hinter der Ladentheke auf einen Stuhl. Sie gab mir ein Glas Wasser und sagte: »Was machst du für Sachen. Fällst einfach um mein kleiner Engel. Keine Sorge, ja ich werde dir den Brei für deine liebe Gerda mitgeben.« Sie ging um die Theke herum und kam mit dem Einkaufsbeutel wieder. »Austrinken, du musst das Glas austrinken. Sonst gibt es nichts«, obwohl sie das drohte, spürte ich, dass sie das nicht ernst meinte. Ich war so froh und hörte auf zu heulen, als ich sah, dass sie den Einkaufszettel aus der Tasche nahm.
»Na viel steht ja wirklich nicht auf dem Zettel. Aber Schokolade gibt es nicht. Warte und bleib noch sitzen, bis ich das fertig habe«, und suchte in den Regalen nach den Dingen, die Mama aufgeschrieben hatte. »Die dicken Bohnen habe ich nicht mehr, dafür gebe ich euch einen schönen Wirsing mit, der ist auch lecker und wird euch satt machen. Ich sah den vollen Einkaufsbeutel und war so froh.
»Michael mein Kleiner, hier ist der Zettel für deine Mutter. Da steht drauf, was es kostet, was ich dir heute mitgebe. Auf der Rückseite vom Zettel da steht, was die Mama an Geld mitbringen muss, wenn sie kommt.«
Den Zettel musste ich mit Michael unterschreiben, was ich ja schon konnte. Schließlich war ich doch schon ein großer Junge, wie meine Mutter immer sagte. Doch ich fühlte mich nicht immer so. Als ich aufstehen wollte, sagte die Tante: »Du bleibst noch sitzen.« Und kam mit einer dicken Salamischeibe zu mir. Leicht schniefend und immer noch schluchzend nahm ich die Scheibe Wurst, sah Tante Hanna an und sagte wie immer brav »Danke schön.«

Frau Hannweder mochte den kleinen Michael wegen seiner guten Manieren. Schon oft hatte sie gesehen, wie der Kleine die große Türe vom Geschäft aufgemacht hatte, wenn eine ältere Frau rein oder raus wollte. Von der alten Frau Heinrichs, die auch in dem Haus von Michael wohnte, hörte sie, dass er ihr die Einkaufstasche hochtrug. Obwohl die für ihn fast zu schwer war. Sie achtete den Mut und den Ehrgeiz, wie er sich für sein krankes Schwesterchen einsetzte. Sie schimpfte aber auch auf seine Mutter, die ihm und seinem kleinen Herzen so viel zumutete.
Mit einem lachenden Gesicht ging ich zu Tante Hanna und bedankte mich für die Sachen und versprach, beim nächsten Mal nur mit Geld bei ihr einzukaufen.
Mit einer zweiten Scheibe von der leckeren Wurst machte ich mich auf den Heimweg.

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