Eine Wette um Leben und Tod
Kurzgeschichte von Alexander Günsberg
Die folgende Geschichte, die wohl niemanden, der sie hört, unberührt lassen wird, ereignete sich im Juni 1794 in Paris. Es war die Zeit der Französischen Revolution, in der der Rechtsanwalt Maximilien de Robespierre aus Arras der mächtigste Mann Frankreichs war. Früher hatte er die Armen vor Gericht vertreten, für ein Butterbrot ohne Butter. Vom Nationalkonvent, den die Jakobiner dominierten, war er zum Präsidenten des Wohlfahrtsausschusses gewählt worden, der die Regierung kontrollierte und die eigentliche Gewalt im Staat innehatte. Man nannte ihn den Unbestechlichen.
Der König und seine Gemahlin, die eitle Österreicherin, waren tot. Nach fast tausend Jahren, seit der Krönung Karls des Glatzköpfigen 848 in Orleans, war die Monarchie endlich abgeschafft. Wieviel Leid hatte sie über Frankreich gebracht! Die Menschen hatte sie bis zum Blut ausgesaugt für den Luxus der Hochfahrenden in Fontainebleau, Rambouillet, Dourdan und Versailles, hatte sie zu Hunderttausenden auf den Schlachtfeldern geopfert, für den Stolz und den Hochmut derer, die sich den Pfaffen näher fühlten als dem Volk und glaubten, von einer höheren Macht, die sie Gott nannten, zum Herrschen auserwählt worden zu sein, urteilen zu dürfen über Leben und Tod ihrer Untertanen, das Recht zu haben, sie schlechter zu behandeln als den Dreck unter ihren Nägeln. Geflohen vor dem Zorn des Volks waren sie, Ludwig XVI und Marie-Antoinette, die ärgsten der Ausbeuter und Verbrecher. Aber sie waren verhaftet, nach Paris zurückgebracht, verurteilt und hingerichtet worden, hatten bezahlt für die Steuern und Lasten, die sie dem Volk auferlegt hatten, für die Qualen, die sie ihm bescherten und die Verschwörung gegen die Revolution, die sie angeführt hatten.
Nie mehr würde ein König den Franzosen das Leben zur Hölle machen. Das war der Beschluss des Nationalkonvents. Er hatte die Republik ausgerufen und Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit aller Bürger erklärt. Keiner sollte mehr über dem anderen stehen, jeder des Nächsten Bruder sein. Das Wohlfahrtskomitee unter dem, vom Justizminister des Königs zum Anführer der Revolution gewandelten Georges Danton sollte darüber wachen. Doch Danton wurde der Beteiligung an der Verschwörung angeklagt und ebenfalls hingerichtet.
Nun war es am Jakobinerclub selbst, über die Errungenschaften der Revolution zu wachen. Mit ihm aber wurden die Schrecken größer statt kleiner, denn die Feinde der Republik, echte wie eingebildete, waren überall. Sie fanden sich in Schlössern ebenso wie in den Häusern der Bürgerlichen, in der Armee und in den Ämtern, im Kontor und im Theater. Nicht einmal in Parks und Bistros waren sie von den Sansculottes sicher. An jedem Ort wähnten sie ihre Gegner. Eine Anzeige oder auch nur eine Kniehose aus der Zeit der Monarchie, Culotte genannt, genügte, um aus unschuldigen Menschen Feinde des Volkes, der Revolution und der Republik zu machen. Täglich verloren sie auf der Guillotine ihren Kopf, als Konterrevolutionäre, Königstreue, Adelige, Volksausbeuter oder Verschwörer, je nachdem, wie die Anklage gelautet hatte. Menschenleben galten nicht viel in diesen Tagen. Robespierre, Anführer der Jakobiner, unterschrieb die Todesurteile. Jeden Tag wurden es mehr. Er stand im Zenit seiner Macht.
Doch nicht immer war er der Richter des Todes gewesen. Sein Wesen hatte sich geändert in den fünf Jahren, die die Revolution nun schon dauerte und in der sie immer radikaler und hungriger nach Menschenleben geworden war. Einst war Robespierre ein mitfühlender Mann gewesen, der das Recht und die soziale Wohlfahrt über alles stellte, die Grundsätze der Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mitprägte, für die Abschaffung der Sklaverei und der Todessstrafe kämpfte und die Gleichstellung der Juden im Nationalkonvent durchsetzte, wodurch Frankreich zum ersten Land Europas mit gleichen Rechten für alle wurde. Jetzt aber war er Herr über Leben und Tod, schickte Tausende ungesehen und ungeprüft auf die Guillotine, nur weil ein Schnellgericht sie für schuldig befunden und verurteilt hatte. Gleichzeitig aber war er als faktisches Staatsoberhaupt der Einzige, der das Recht hatte, Verurteilte zu begnadigen. Er tat es jedoch fast nie. Die Revolution verlangte ihre Opfer, mehr denn je.
Neben seinem Einsatz für die Republik und die Revolution und der Liebe zu Marie-Eleonore Duplay, der begabten Malerin, die nach seinem Tod ihr ganzes Leben lang Trauer trug, hatte Robespierre eine große Leidenschaft – das Schachspiel. So oft es ihm die Zeit erlaubte, besuchte er das Café de la Régence, in dem Schach, Dame und Billard gespielt wurde. Es lag zwischen der Rue Saint-Honoré und dem Place du Palais-Royal. Die bedeutendsten Schachmeister Frankreichs verkehrten hier, von François Antoine de Legall bis zu André Danican Philidor, der als bester Spieler der Welt galt. Auch Napoleon, Diderot, Rousseau und Benjamin Franklin zählten vor und nach Robespierre zu den Schachspielern des Café de la Régence.
Nun kam ebendieser Robespierre, mächtigster Mann Frankreichs, am Abend eines ungewöhnlich warmen, fast schon heiß zu nennenden Junitages 1794 in ebendieses Café, um Schach zu spielen. Kaum eingetreten, sprach ihn ein junger, ganz in schwarz gekleideter Mann an:
«Monsieur le Président, geben Sie mir die Ehre, eine Partie Schach mit Ihnen spielen zu dürfen»?
Robespierre sah den Fragesteller an. Sogar sein Kopf war unter einer schwarzen Kapuze verborgen. Nur ein Teil seines Gesichtes schaute heraus. Nicht viel mehr als strahlend blaue Augen, eine zarte, faltenlose Haut und eine besonders kleine Nase waren zu erkennen. Der Mann musste sehr jung sein, wahrscheinlich unter Zwanzig.
«Warum nicht», antwortete Robespierre, «aber lassen Sie gefälligst das Adelsprädikat in meinem Namen weg. Ich trage es nicht mehr. Und nennen Sie mich nicht Président. Wir sind hier nicht im Wohlfahrtsausschuss, um Gesetze auszuarbeiten, sondern in einem Café, um den Abend zu genießen. In Frankreich sind heute alle Menschen gleichgestellt. Das dürfte Ihnen bekannt sein. Nennen Sie mich darum einfach Bürger Robespierre».
Die Warnung war deutlich. Ein falsches Wort konnte den Tod bedeuten. Doch der junge Mann ließ sich nicht beirren.
«Gerne, Bürger Robespierre», erwiderte er. «Ich wollte Ihnen nur meinen Respekt bezeugen, denn die Revolution ist auch mir oberstes Gebot. Aber um zum Schach zurückzukommen: Ich schlage Ihnen eine Wette vor. Wer die Schachpartie gewinnt, hat einen Wunsch frei. Er erhält das Recht, vom Besiegten alles verlangen zu dürfen, was ihm beliebt. Was ist, schlagen Sie ein, Bürger Robespierre»?
Niemandem im Café war der Eintritt des Präsidenten des Nationalkonvents entgangen. Auch der Mann mit dem schwarzen Cape und der schwarzen Kapuze hatte Aufmerksamkeit erregt. Alle Augen und Ohren waren auf das ungleiche Paar gerichtet. Der Vorschlag des jungen Mannes war gewagt, um nicht zu sagen lebensgefährlich. Mit einem Federstrich konnte sein gegenüber ihn dafür auf die Guillotine schicken. Die Leute unterbrachen ihre Schach-, Karten- und Billardpartien und die Unterhaltungen. Es wurde still im Saal. Alles war auf die Antwort Robespierres gespannt. Sogar der Kellner blieb stehen. Er traute sich nicht, mit dem vollbeladenen Silbertablett weiterzugehen, um ja keine Geräusche zu erzeugen. Dem Präsidenten des Wohlfahrtsausschusses aber stand der Sinn nicht nach Amtshandlungen, sondern nach Schachspielen. Nach einem kurzen Blick auf den jungen Mann meinte er:
«Das ist zwar ungewöhnlich, aber warum eigentlich nicht? In diesen Zeiten ist alles Neue willkommen, wenn es Frankreich und der Revolution nicht schadet. Sie werden die Partie ohnehin verlieren, weil ich mich in den letzten Wochen in das Schachbuch eines Italieners vertieft und Erstaunliches darin gefunden haben. Sie werden sehen. Der Mann heißt Ponziani und das Buch ‘Il giuoco incomparabile degli scacchi’. Wenn Sie Italienisch verstehen, lesen Sie es. Also abgemacht, die Wette gilt»!
Die Menschen im Café atmeten auf. Der junge Mann hatte Glück. Robespierre war heute nicht auf Köpferollen aus. Alle waren sie auf den Verlauf und den Ausgang der Partie gespannt. Würde der Präsident seinen Gegner mit Leichtigkeit besiegen, wie er es angekündigt hatte oder hielt der schwarze Mann eine Überraschung für ihn bereit? Welchen Wunsch würde er äußern, sollte er es schaffen, die Partie zu gewinnen? Die Spannung, die gerade erst abgeflaut war, stieg wieder an.
Während Robespierre dem Mann die Hand zur Besiegelung der Wette hinstreckte und die beiden sich an den nächsten freien Tisch setzten, erhoben sich die Leute von ihren Stühlen, kamen näher und bildeten einen dichten Zuschauerkranz in mehreren Reihen um die beiden herum. Sie bestellten Kaffee. Der Kellner reichte ihnen ein Schachspiel. Sie stellten die Figuren auf und begannen zu ziehen, noch bevor der Kaffee serviert wurde. Der Unbekannte hatte weiß und wählte die in jenen Tagen oft gespielte Eröffnung, Bauer auf e4 und Läufer auf c4. Man nannte sie im Régence die Philidor-Eröffnung, obwohl der große Philidor, der zum Bedauern aller ausgerechnet an diesem Abend nicht anwesend war, sie nur selten wählte. Vielleicht war es deswegen, weil Philidor ein Meister des Spiels mit den Läufern war. Dabei wurde jedoch übersehen, dass er auch alle anderen Figuren wie kein Zweiter zu führen verstand. Er konnte sogar blind spielen, also ohne Ansicht des Schachbretts, hatte im Régence Sire de Legal bezwungen, der vor ihm als bester Schachspieler Frankreichs angesehen wurde, und in London im berühmten Schachcafé ‚Slaughter’s Coffee House‘ den als unschlagbar geltenden Syrer Philipp Stamma mit 8:2 regelrecht vom Tisch gefegt.
Robespierre jedenfalls antwortete mit e5, beging aber im zweiten Zug die Unvorsichtigkeit, seinen Springer von b8 auf c6 zu stellen. Dies erlaubte dem Unbekannten, den Bauern seines Gegners auf f7 zu schlagen und furchtlos seinen Läufer zu opfern. In späteren Zeiten sollte man diese Spielweise den romantischen Schachstil nennen. Er gilt heute als widerlegt, doch zur Zeit der französischen Revolution war er gang und gebe. Er entsprach der Lust der Menschen, das Leben auszukosten, solange sie es noch hatten.
Gespannt verfolgten die Zuschauer das Geschehen auf dem Schachbrett. Die einen sahen Robespierre im Vorteil, die anderen den schwarzen Unbekannten. Bisweilen wurden die Diskussionen so hitzig, dass Robespierre warnende Blicke in die Umstehenden werfen musste. Die Fehlbaren blickten verlegen zu Boden und beendeten ihre Streitereien unverzüglich. Allein der Blick Robespierres konnte Menschenleben auslöschen.
Nach einigen weiteren Zügen des Unbekannten, die an Wagemut nicht zu übertreffen waren, verlor Robespierre einen Turm. Sofort gab er die Partie auf. Ohne zu zögern oder sich zu ärgern, reichte er seinem Gegner ein zweites Mal die Hand und gratulierte ihm. Ein Gentleman war er allemal. Die Zuschauer klatschten und zollten Beifall. Die Angst vor dem gefürchteten Jakobiner war geschwunden. Dieser wandte sich an seinen siegreichen Gegner und fragte:
«Nun, junger Mann, Sie haben die Wette gewonnen. Welches also ist Ihr Wunsch?»
Der Unbekannte war unsicher, ob er den Wunsch, um dessentwillen er ins Café de la Régence gekommen war und mit dem mächtigen Präsidenten des Wohlfahrtsausschusses gespielt hatte, auch wirklich äußern durfte und stellte zuerst eine Gegenfrage:
«Habe ich nichts zu befürchten, wenn ich den Wunsch ausspreche?»
Robespierre räusperte sich.
«Hören Sie, mein junger Freund», erwiderte er, «alle Welt kennt mich als Ehrenmann. Was immer Sie wünschen, wenn es in meiner Macht steht und nicht gegen das Gesetz verstößt, sei Ihnen gewährt».
Da zog sein Gegenüber die schwarze Kapuze von Haupt. Lange blonde Locken kamen zum Vorschein. Staunend sahen die Zuschauer und Robespierre selbst, dass sein Bezwinger auf dem Schachbrett kein Mann, sondern eine junge hübsche Frau war. Sie schüttelte die Haare aus und sah ihn an.
«Nicht übel», meinte Robespierre, «die Überraschung ist Ihnen gelungen. Was kommt jetzt? Wünschen Sie mich zu erschießen?»
«Nein», sagte die junge Frau, «ganz im Gegenteil, Sie müssen am Leben sein, um mir meinen Wunsch zu erfüllen.»
«Ich hoffe, es ist nichts Anrüchiges oder Unanständiges.»
«Nein, anrüchig oder unanständig ist es ganz und gar nicht.»
«Also dann raus mit der Sprache! Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter und sagen, was Sie wollen.»
Die Frau nahm all ihren Mut zusammen. Sie blickte Robespierre geradewegs in die Augen.
«Sie kennen doch Jean-François Préjeux», begann sie.
«Préjeux, Préjeux, jaja der Name sagt mir etwas», entgegnete er und dachte nach, kam aber nicht darauf, wer der Betreffende war.
«Ich weiß im Moment nicht, wer er ist. Helfen Sie mir auf die Sprünge.»
«Er ist mein Verlobter, die große Liebe meines Lebens», antwortete die junge Frau, ohne die geringste Regung zu zeigen.
«Schön für Sie. Das freut mich. Aber was habe ich mit ihm zu schaffen?», fragte Robespierre.
Jetzt war sie es, die sich räusperte.
«Sie haben gestern sein Todesurteil unterzeichnet», antwortete sie und fuhr fort: Er soll morgen Früh um sechs Uhr, in wenigen Stunden, in der Rue de la Croix Faubin, auf dem kleinen Platz vor dem Gefängnis de la Roquette, in dem er seit einer Woche unschuldig einsitzt, enthauptet werden. Neidige und böswillige Nachbarn haben ihn wegen antirevolutionärer Aussagen angezeigt, die er nie getätigt hat. Ich kann Ihnen versichern, Bürger Robespierre, dass die Anklage aus der Luft gegriffen ist und in keiner Weise den Tatsachen entspricht. Mein Verlobter ist ein aufrechter Bürger Frankreichs und verteidigt die Revolution, wo immer sie in Gefahr ist. Er steht für Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen ein und hat nie gegen die Revolution oder die Republik gesprochen oder gehandelt. Sie allein, Bürger Robespierre, haben die Macht, ihn zu begnadigen. Nur Sie können sein Leben retten, das Leben eines Unschuldigen. Tun Sie es! Das und nichts anderes ist mein Wunsch».
Die Zuschauer hielten den Atem an. Die junge Frau riskierte viel, gar ihr Leben. Eine Bitte um Gnade für einen Konterrevolutionär bedeutete in aller Regel auch die Todesstrafe für den Bittsteller.
Robespierre blickte sie lange durchdringend an. Er versuchte herauszufinden, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Totenstille hielt Einzug ins Café de la Régence. Niemand rührte sich mehr oder sagte ein Wort. Die Zeit schien stillzustehen. Nur das Flackern der Kerzen war zu hören. Laut wie nie zuvor zischte es durch die Stille. Die Ewigkeit hatte begonnen. Es war die Stunde nach dem Tod, nicht vor dem Tod. Die junge Frau aber hielt dem Blick ihres Richters stand. Er war der Erste, der ihn senkte.
Langsam und bedächtig sprach er die Worte:
«Ihr Wunsch sei Ihnen gewährt».
Es war deutlich zu hören, wie die Menschen im Café aufatmeten. Unerhörtes war geschehen. Robespierre hatte die Regel gebrochen und einer Bitte um Gnade für einen verurteilten Konterrevolutionär entsprochen. Nie zuvor hatte er das getan. Die Ehre einer verlorenen Wette und der Mut und die Standhaftigkeit einer jungen Frau hatten ihn dazu gebracht. Sie selbst verzog keine Miene, sondern holte ein vorbereites Dokument aus ihrem Cape und reichte es Robespierre.
«Dann unterschreiben Sie bitte die Begnadigungsurkunde», sagte sie zu ihm. Keine Gefühlsregung war in ihrem Gesicht zu erkennen.
Robespierre blickte sie ein weiteres Mal lange an. Dann richtete er wieder das Wort an sie.
«Wieso waren Sie sich so sicher, die Partie gegen mich zu gewinnen, dass Sie sogar schon die Begnadigungsurkunde mitgebracht haben», fragte er sie.
«Ich war mir nicht sicher», antwortete sie, «aber ich wusste, dass ich mit meinem Wunsch auch meinen Tod riskiere. Es gab also nur zwei Möglichkeiten, meinen Tod und den meines Verlobten oder die Begnadigung. Das Schachspiel war die Scheide, in der das Messer steckte. Ein anderes steckt in meinem Umhang, Bürger Robespierre. Hier haben Sie es.»
Mit diesen Worten zog sie einen langen Dolch aus ihrem Cape und legte ihn auf den Tisch. Die Menschen erschraken. Plante sie einen Anschlag auf Robespierre, wollte sie ihn ermorden? Seine Mine verfinsterte sich. Er war drauf und dran, den Dolch zu ergreifen und sich auf sie zu stürzen. Doch sie kam ihm zuvor, erneut mit Worten, nicht mit dem Dolch.
«Seien Sie ganz unbesorgt, Bürger Robbespierre», sagte sie, «ich hätte nicht Sie, sondern mich getötet, hätte ich die Partie verloren.»
Wieder sah Robespierre sie an, diesmal voller Bewunderung.
«Sie sind eine ganz besondere Frau», erwiderte er. «Ich kenne keine zweite wie Sie in Frankreich. Schade, dass Sie schon vergeben sind. Ich wüsste viele aufrechte junge Männer in Frankreich, die sich glücklich schätzen würden, Sie zur Ehefrau zu bekommen. Verraten Sie mir Ihren Namen?»
Sie senkte den Blick.
«Muss ich es tun?», fragte sie leise und ergänzte: «Das gehört doch nicht zu unserer Abmachung.»
Erneut stieg die Spannung im Saal. Eine junge Frau wagte es, Robespierre zu widersprechen, ihm die Antwort zu verweigern. Auch das konnte tödliche Folgen haben. Noch war die Begnadigung ihres Verlobten nicht unterschrieben. Robespierre konnte seine Entscheidung jederzeit rückgängig machen. Doch er dachte nicht daran. Die Frau, so jung sie war, hatte ihn über alle Maßen beeindruckt.
«Nein», sagte er, «Sie haben vollkommen Recht, das gehört nicht zu unserer Abmachung. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie gefragt habe. Sie sind die mutigste Frau, der ich je begegnet bin. Es war mir eine Ehre, gegen Sie Schach zu spielen und gegen Sie zu verlieren. Es genügt mir zu wissen, dass Sie bald die Frau eines Mannes sein werden, der unschuldig verurteilt wurde und dem Sie das Leben gerettet haben. Also nenne ich Sie jetzt schon Madame Préjeux, wenn es Ihnen recht ist. Aber das Dokument, das Sie vorbereitet haben, werde ich nicht unterschreiben. Ich stelle Ihnen ein neues aus. Ich hoffe, es wird Ihnen noch besser gefallen als Ihres.“
Er verlangte ein Blatt Papier, zog die Feder und das kleine Tintenfass, die er immer mit sich führte, aus der Tasche und schrieb darauf:
URKUNDE
Ich, Maximilien François Marie Isidore Robespierre, Vorsitzender des Wohlfahrtsausschusses Frankreichs, bestimme hiermit:
Der Verurteilte Jean-Francois Préjeux, Bürger von Paris, einsitzend im Gefängnis de la Roquette, ist unschuldig der Verbrechen gegen die Revolution, derer er angeklagt wurde. Er wird vollständig rehabilitiert. Das Todesurteil wird aufgehoben und für null und nichtig erklärt. Wer es unter Nichtbeachtung dieser Urkunde vollstreckt, soll selbst des Todes sein.
Als Entschädigung für die zu Unrecht erlittene Haft und die seelischen Qualen, die Jean-Francois Préjeux in Erwartung seiner Hinrichtung erleiden musste, erhält er aus der Staatskasse eine Einmalzahlung von 300 Goldfrancs.
Seine Verlobte, wer immer sie sein mag, der Frankreich die Aufklärung eines Justizirrtums verdankt und die einem unschuldigen Bürger das Leben gerettet hat, erhält dieselbe Summe aus der Staatskasse. Sie darf jedoch erst am Tag der Hochzeit ausbezahlt werden.
Möge dem Ehepaar Préjeux ein langes und glückliches Leben beschieden sein und mögen ihre Kinder und Kindeskinder Frankreich dieselbe Ehre machen wie sie selbst.
Mit dem Ausdruck meiner ergebensten Hochachtung
Maximilien François Marie Isidore Robespierre
Mit dem Trockenfilz, den er ebenfalls bei sich trug, strich er über das Dokument, blies zur Sicherheit noch die letzte Tintenfeuchte weg und reichte es der jungen Frau. Immer noch hatte sie keine Miene verzogen. Sie nahm das Dokument, sagte nichts, stand auf und ging zum Ausgang. Plötzlich aber blieb sie stehen, drehte sich um, sah den Präsidenten des Wohlfahrtsausschusses an, der sich zu ihr umgedreht hatte, und sprach neun Worte:
„Danke, Bürger Robespierre. Möge Frankreich es Ihnen nicht vergessen.“
Dann verließ sie das Café de la Régence. Nie mehr hat man sie darin gesehen.
Robespierre verlor einen Monat später sein Leben auf der Guillotine. Von Marie-Jeanne Eléonore Françoise Henriette Préjeux, geborene Herzogin von Bourbon-Parma, aber heißt es, sie hätte mit ihrem Mann Jean-François Préjeux sieben Kinder bekommen. Einer ihrer Nachfahren sei ein gewisser General Charles de Gaulles gewesen, der größte Bürger Frankreichs im zwanzigsten Jahrhundert, der den Widerstandsgeist der Franzosen gegen die deutsche Besatzung im zweiten Weltkrieg aufrecht erhalten, zum Sieg über die Nazis beigetragen und die Ehre Frankreichs in seiner dunkelsten Stunde bewahrt hat.
So hat eine kleine, heute kaum noch bekannte Schachpartie, die vor mehr als zweihundert Jahren in einem längst nicht mehr existierenden Café in Paris gespielt wurde, die Geschicke Frankreichs entscheidend geprägt.
Dieser Beitrag wurde uns vom Autor dankenswerter kostenlos zur Verfügung gestellt. Er ist dem Band „Das Ende der Schach-Novelle“ entnommen, den man erwerben kann.
Netfinder:
https://www.aber-verlag.com/
Alexander Günsberg, Das Ende der Schachnovelle, Aber Verlag, September 2020, 1. Auflage, Paperback, ca. 200 Seiten, 19,90 Euro/CHF, ISBN 078-3-907299-05-0
Bestellungen: info@aber-verlag.com / Tel.: 0041 79 353 09 00