Foto Zersplitterung (c) Katharina Körting

Ausfahrt

von Katharina Körting

Ein Tag im Mai. Russland feiert den 75jährigen Sieg über Hitler-Deutschland ohne Parade. Die ganze Welt „kämpft“, vereint in geschlossenen Grenzen, gegen ein Virus und streitet über „Lockerungen“. Befremdliche Begriffe strömen ins Kollektive, infizieren die Sprache, auch der gute, alte, dysfunktionale „Rettungsschirm“ wird wieder hervorgekramt und „aufgespannt“. Wovor könnte er retten? Vor Virenschauern? Vor Existenznothagel? Ich sitze und warte, dass mir etwas Besseres einfällt, doch der Text, an dem ich gestern saß, hat mich erschöpft, auch wenn „erschöpft“ unangemessen klingt angesichts anderer, tatsächlich „systemrelevanter“ Arbeit.

Es wird Mittag, ich esse einen Happen und sorge mich, wie dieser Tag herumzubringen sei, denn wenn ich erschöpft bin, kann ich nicht schreiben. Ich bitte eine Freundin um einen Abstandsgang, doch die ist verabredet, zum Geburtstag einer Bekannten im Garten. Ich überlege, ob ich die einzige bin, die die „Abstandsregeln“ einhält. Die „Reproduktionsrate“ erhöht sich. In Schlachthöfen stauen sich Infizierte, die Arbeiter nächtigen in Unterkünften, die es unmöglich machen, hygienisch zu sein. Im Radio beschwert sich ein Politiker über das unverantwortliche Verhalten der Arbeiter (nicht der Firma). Das Virus, könnte es mögen, mag den Kapitalismus. Es mag Menschenansammlungen und stickige Enge. Es mag ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Es mag auch Gottesdienste. Es mag Leute, die singen und sich umarmen. Frische Luft mag es nicht.

Wenn ich allein bin, die ganze Zeit, zersplittert mein Kopf, ich muss raus. Ich weiß nicht, wie ich auf Frankfurt (Oder) komme. Vielleicht, weil gestern ein Beitrag über den unterbrochenen Grenzverkehr im Fernsehen lief. Es sah behaglich aus, das Städtchen mit seinen ruhiggestellten Straßen. Das Kleistmuseum ist geöffnet, verrät mir das Internet, und es liegt direkt am Fluss. In einer halben Stunde fährt ein Zug. Ich packe etwas zu trinken, zu lesen, ein Schreibheft, Handcreme und einen Apfel ein. Ich fühle mich wagemutig, denn das, was mich erwartet, sind „unnötige Sozialkontakte“, auch wenn ich dabei kein Wort verliere.

Schon in der S-Bahn stört der Mundschutz. Auch Leute, die ihn verweigern und abstandslos husten, stören. Es ist warm. Ein junger Obdachloser hält mir den Pappbecher hin, fragt nach etwas zu trinken, bekommt ein paar Münzen von mir, und ich komme mir schäbig vor, weil ich keinen Fünfer habe, und weil ich darauf achte, seine Finger bei der Übergabe nicht zu berühren. Um die Wade hat er unordentlich einen dreckigen Verband gewickelt; ich versuche, das getrocknete Blut daran nicht zu entziffern.

Immerhin bin ich unterwegs. Ich saß schon eine Weile nicht mehr in einem Zug. Die Ausfahrt soll mich herausbringen aus dem Gefühl, Zeit vertreiben zu müssen, oder überbrücken. Bis zu einem Impfstoff. Bis zu einem Erfolg. Bis zu einer Liebe. Ich schäme mich, wenn ich die Zeit totschlage, denn ist nicht jetzt das Leben? Es ist nicht recht, vor dem Tod – den ich von innen nicht sehen kann, nur von außen – die Zeit totzuschlagen, also versuche ich, sie verstreichen zu lassen in einer Weise, die mich den Mut nicht verlieren lässt, dass sie vergeht, ohne mich mehr als nötig zu beschädigen. Etwas Besseres fällt mir nicht ein.

Nach einer halben Stunde bin ich am Ostkreuz und steige um Coronabedingt öffnen sich die Türen von selbst. Alles ist jetzt „coronabedingt“. Man kann vor jedes beliebige Wort „Corona“ setzen, und es wird „neu normal“. „Das sind Corona-Türen“, erklärt einer, der vor mit aussteigt, seiner Gefährtin. Lautsprecherdurchsagen fordern uns auf, „gemeinsam gegen Corona“ vorzugehen, mit Abstand und Tuch im Gesicht, auch auf Englisch, was mir unlogisch vorkommt, denn die Grenzen sind dicht. Das Klo im Zug ist trotzdem geöffnet. Mit Wasser und Seife und vielen Möglichkeiten, sich zu infizieren; „gemeinsam gegen Corona“ nehme ich das Virus in jeden Winkel mit, vermute es an jedem Türgriff, auf jeder Klobrille, in jedem Lächeln, das sich hinter solidarischem Stoff verbirgt, nehme auch mich zuallererst als Infektionsquelle wahr. Zum Schutz. Um das Leben vor Menschen zu schützen, gilt jeder als infiziert. Corona wirbelt alles durcheinander und lässt Chaos zurück, betäubt von Lautsprecheransagen, Milliardenentscheidungen, „Hygienekonzepten“ und Desinfektionsmitteln, doch die Zeit lässt sich nicht beirren, sie fährt fort zu vergehen, und so verschwimmen die Tage einer in den anderen, werden zum Aquarell, hier heller, da dunkler, ich kann sie kaum auseinanderhalten, die Tusche und die Tage, ich möchte diese Zeit, die mich bedrückt, fortschieben und erschrecke darüber, weil ich erleichtert bin, wenn der Abend kommt, weil dann ein Tag vorbei, ein Corona-Tag herum ist, ohne dass ich an dessen Bedingungen erstickt wäre. Die Erleichterung schüttelt mich. Innerlich halte ich Abstand zu mir selbst, denn ich weiß nicht mehr, wer das ist, wusste es noch nie, habe keinen Abgleich mehr mit anderen Ichs, in denen ich lesen könnte, was mir fehlt. Wenn ich mir begegne, fahre ich zusammen, fahre mir durch die Haare, finde graue Stellen am Ansatz, die ich, wüsste ich nicht, dass sie „unattraktiv“ sind, schön fände: Ich sehe so alt aus, wie ich bin, doch innen bin ich viel zu jung für mein Alter. Innen bin ich eine Kaulquappe, die noch nicht springen gelernt hat, die nicht mal weiß, dass es das gibt: springen. Die Kaulquappe passt auf, dass sie in der Verschwommenheit der Tage nicht untergeht vor der Zeit: Heute ist Samstag! Ein Corona-Samstag ist ein Anlass wie jeder andere. Am Samstag kann man eine Ausfahrt machen, woandershin. Ich lege mir eine neue, eine Corona-Identität zu: Ich bin eine Frau, die mit Mundschutz im Zug sitzt und von sich selbst fortfährt. Mit jedem Meter, mit jedem Kilometer werde ich eine andere, ändere mein Selbst, passe mich an die Landschaft an, verrinne in ihr, versuche mich. Loszulassen und wieder einzufangen.

Ich setze mich, es ist Platz, doch die Frau in der Ecke gegenüber steht auf, weicht aus ins obere Geschoss des Zuges. Hinter Erkner lasse ich den Mundschutz baumeln wie einen hässlichen Ohrring, wie ich es bei anderen beobachte: Sieht blöd aus, aber man kann besser atmen. Viele tragen ihn auch unterm Kinn wie einen Bart. Die äußeren Veränderungen können mich nicht täuschen. Im Grunde, ist alles wie vorher, nur verstärkt: Die Verstörung ist sichtbarer. Die vergeblichen Versuche der Kontaktaufnahme verlagern sich nach innen, in eine völlig sinnlose Hoffnung, dass es wieder besser wird, obwohl ich ja weiß, dass es nicht besser war. Es gab auch vorher kaum Gelegenheit für Berührung, kaum Zeit und Raum für ein Glück, das sich nicht als Ersatz versteht. Und genauso wie jetzt bringt jeder Tag neue Hoffnung – woher kommt sie?

Es gibt keinen Menschen weit und breit, mit dem ich diese Gedanken teilen könnte, auf den ich meine Hoffnung stützen könnte, doch sie braucht keine Stütze, sie braucht nur sich selbst. Damals wie heute gibt es nur verbotene Gedanken und verlorene Gelegenheiten. Die Haut wird mir faltig, ohne dass es jemand bemerkt. Buchstaben fallen auf Papier, ohne dass sie jemand hört. Das Papier ist mein „Rettungsschirm“, doch es gibt keine Rettung, es gibt nur das Papier und die Buchstaben, und das ist schon viel, ich will keinen falschen Eindruck erwecken, nicht mal vor mir selbst: Es ist nicht schlimm! Es ist einfach. Es quillt aus mir hervor, ich schöpfe, ohne darauf zu achten, wie erschöpft ich bin von diesem Schöpfen, von mir selbst. Auch das notiere ich, notgedrungen. Was sollte ich sonst tun?

Und immerhin: Ich fahre. Die Gesichter sind farbige Landschaften. Auf dem Feld stolzt ein Storch, hackt sich Leben aus der Erde. Raps strotzt gelb zwischen Grün, die Bäume blühen. Am Himmel zuckeln Wolken. Naturwissenschaftlich betrachtet könnte ich mir egal sein, naturwissenschaftlich geht es nur ums Überleben, habe ich keine Seele, sondern nur einen bedürftigen Körper: Er braucht Essen, Trinken, Schlaf, Bewegung, andere Körper. Die kriegt er nicht. Ich gebe ihm Essen, Trinken, Schlaf, Bewegung. Ich gebe und warte.

In Frankfurt hört sich das Zwitschern der Vögel anders an als in Berlin. Die Stadt ist leer und leicht. Im Magen zieht früher Hunger, den ich verschiebe auf später. Im Museum bin ich die einzige Besucherin, lasse mir von Schauspielerstimmen, die unaufgefordert mit meinem Eintreten in den Raum, mit meinem Übertreten unsichtbarer Lichtschranken aus den Wänden dringen, Kostbarkeiten vorlesen, erfahre, dass es in Kleists Texten um Gewalt geht, und um zersplitterte Identität. Ein Raum steht voll mit Stäben, als ob es tausend Stäbe gäbe, manche haben Ausgänge für Töne. Da sind Wege ohne Ziel, eine Polster zum Hinsetzen und Lauschen. An der Wand lese ich: „Die Begegnungen zwischen Figur und Situation/Person können seitens der Figur zu eigenen Identitätssetzungen, zur Übernahme fremder Identitätsangebote oder zur Wahrnehmung brüchiger Identitäten führen.“ Und ertappe mich wider Willen im Spiegel, der neben der Sitzbank angebracht ist, sehe vergrößerte Poren und rotfleckige Haut und Splitter in den Augen – ein Gesicht, das mich befremdet, bin ich das wirklich? Wer ist das? In meiner Brüchigkeit fühle ich mich bestätigt, bringe ein müdes Lächeln zustande, das lächerlich wissend wirkt, und lese blanke Verse. „Ja, seht. Zum Straucheln braucht‘s doch nichts als Füße“ und „jeder trägt den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst“.

Ich schaue, wie Kleist scheitert, weil das Paradies verriegelt ist. „Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“. Stattdessen nimmt er die Pistole und erschießt sich. Am Ausgang erwerbe ich seinen Versuch übers Marionettentheater und setze mich mit all den Widersprüchen an die Oder. Sie liegt still in ihrem Fließen zwischen Polen und mir. Am anderen Ufer sitzen zwei Angler, die Oberkörper freigelegt, weiße Mützen zum Schutz gegen die Sonne auf den Köpfen, und vergessen mit mir die Seuche.

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