Auf Klippen befunden

Kurzprosa von Naïd Karimi

Ich bin hier, und hier stehe ich: an den Klippen eurer Welt, und ich schaue runter in den Abgrund. Ich bin diejenige, die sagt, was Realität ist und was nicht. Ich bin die Wächterin eurer Welt, bin die Hüterin eurer Grenzen. Ich stehe in der Notaufnahme. Ohne Uniform, weil ich keine brauche. Die Internisten haben ihr Stethoskop, die Chirurgen ihr Skalpell. Ich brauche nichts davon. Denn ich habe die Welt in der Hand. Ich wurde ausgebildet und auserkoren, die Grenze zu ziehen, damit sie existiert.

Der Patient kam in Begleitung der Polizei und des Rettungsdienstes in unsere Notfallambulanz. Die Beamten hatten ihn aufgegriffen, nachdem er in der Innenstadt eine Deutschlandfahne verbrannt und Passanten auf der Straße verfolgt hatte.
Gepflegtes Erscheinungsbild. Kleidungsstil altersgemäß. Im Kontakt mitteilungsbereit, läppisch, großspurig. Stimme in Lautstärke wechselnd, dabei wirkt die Sprachmodulation lebendig, das Sprechtempo beschleunigt.
Der Patient befinde sich aktuell häufig in der Nähe von Zoohandlungen. Diese betrete er jedoch nie, da er mit den dort ausgestellten Vögeln nonverbal durch die Schaufensterscheibe kommuniziere. Diese würden ihm durch Augenkontakt mitteilen, nur er könne das Land spalten, um es zu einen.

Ich bin die Diensthabende. Nach zwei Jahren Psychiatrie, nach zwei Jahren Assistenz, stehe ich routiniert und allein am Sonntagabend in der Notfallambulanz. Als ärztliche Vertreterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie stehe ich hier, und ich sehe einen Abgrund, den meine bekittelten und bestethoskopten Kollegen nicht sehen. Ich sehe ihn, und zwischen mir und dem Abgrund steht ein Befund. Ich ziehe die Grenze, und ich ziehe die Grenze, und ich ziehe die Grenze. Mit jedem Patienten, mit jeder Gedankenausbreitung, jeder Störung der Ich-Funktion, der Wahrnehmung, der Affektivität und der Psychomotorik. Mit allen Stimmen; mit dialogischen und kommentierenden, allen imperativen und anklagenden Stimmen in allen Köpfen, die vom Abgrund hoch und zu mir an meinen Posten auf den Klippen eingeliefert oder von Freunden und Familie gebracht werden.

Wach und bewusstseinsklar. Zu allen Qualitäten voll orientiert. Lang- und Kurzzeitgedächtnis subjektiv und objektiv unauffällig. Objektiv leichte Konzentrationsstörungen. Formales Denken sprunghaft, beschleunigt. Neologismen. Der Patient berichtet, er habe durch besagte Zoohandlungs-Schaufensterscheiben langen Augenkontakt mit einem Graupapagei gehabt. Dieser habe ihn zum Wächter aller Deutschen auserkoren. Der Patient gibt an, den Auftrag empfangen zu haben, die mutigsten Deutschen „in der ganzigen Grenzheit“ zu suchen und mit ihnen einen neuen Staat zu gründen. Die Bundesrepublik werde von hochgewachsenen Homosexuellen und als heterosexuell getarnten Künstlerinnen regiert. Diese würden vornehmlich in Maisonettewohnungen am Kurfürstendamm wohnen. Der Patient verneint Stimmen oder Akoasmen.

Ich ziehe die Grenze auch mit allen Kratz- und Klingellauten, die aus allen Wänden kommen. Niemand wird verfolgt. Niemand ist auserwählt. Es gibt keine Verschwörung. Und das muss klargestellt werden. Jedes Mal aufs Neue. Mit mir, meinem Befund, Haloperidol, Lorazepam und Risperidon.
Ich stehe hier, und ich gehe keinen Schritt zur Seite, damit eure Welt keine Risse, keine Durch- und Nachlässigkeiten bekommt. Eure Welt. Meine kann es nicht mehr sein, weil ich schon zu oft über den Rand der Klippe, schon zu oft in den Abgrund geschaut habe. Ich kann nicht mehr zu euch zurück, aber ich kann auch nicht da runter – zu den anderen. Über die Klippen, die hier in der Notaufnahme aus Kunstlederliegen mit diesem knittrigen Papier bestehen, das nach jedem Patienten gewechselt wird.

Paranoider Wahn. Beziehungswahn. Größenwahn i.S. einer Megalomanie. Ich-Störungen in Form einer Gedankeneingebung. Keine Ängste. Keine Zwänge. Stimmung objektiv situationsindadäquat gehoben. Gesteigertes Selbstwertgefühl. Mittelschwer reduzierte affektive Schwingungsfähigkeit. Der Patient gibt an, die Gabe zu haben, das zu können. Er müsse mit tapferen Freiwilligen in den Oberwesterwald gehen und dort ein neues Walhalla gründen. Er habe die Gabe, den richtigen Ort im Oberwesterwald anhand der Erde zu erschmecken. Deshalb habe der Graupapagei ihn auserkoren. Krank fühle er sich nicht, einer stationären Aufnahme stimmte er jedoch zu, damit er zur Ruhe komme.

Die Klippen bestehen aus Halogenlampen und Kurvenwagen, aus Blutdruckmanschetten, Monovetten zur Blutentnahme und Infusionsständern.
Ich stehe hier bis Dienstende. Ich stehe hier mit der Realität und meiner Untersuchungsleuchte. Denn ich bin die Wächterin. Ihr braucht euch nicht zu fürchten.

Antrieb und Interesse gesteigert. Psychomotorisch mittelschwer unruhig. Angabe von Schlafstörungen. Keine Suizidgedanken und -intentionen. Fehlendes Krankheitsgefühl. Bislang kaum Krankheitseinsicht, Behandlungsbereitschaft aber gegeben.

 

One thought on “Auf Klippen befunden

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert