Titelbild O AVESSO DA PELE (c)Alceu Chiesorin Nunes

Kampfzone Haut, „O avesso da pele“ von Jeferson Tenório

Rezension von Dr. Robert Schade

Jeferson Tenório: O avesso da pele. São Paulo 2020, Companhia das letras, ISBN: 9788535933390, 192 Seiten, Taschenbuch, R$ 35,94

 Zu einem der größten Vorzüge der Literatur gehört das Sichtbarmachen von Unsichtbarem, seien es nun Gedanken, Gefühle oder Wahrnehmungen. Wer etwa glaubt, Brasilien, das größte Land Südamerikas mit dem historischen Selbstverständnis eines Einwanderungslandes, sei nicht von Rassismus betroffen, irrt gewaltig. Insbesondere im „weißen“ Süden des Landes, der von europäischer Einwanderung geprägt ist. Jeferson Tenórios (geboren 1977 in Rio de Janeiro, aufgewachsen in Porto Alegre) dritter Roman „O avesso da pele“ (Die Rückseite der Haut), Gewinner eines der wichtigsten Literaturpreise, des Prêmio Jabuti 2021, führt das eindrücklich vor Augen.

„Manchmal hast du einen Gedanken gefasst und darin gewohnt. Bist abgedriftet. Du würdest ein Haus auf diese Weise errichten. Weit, weit weg. In dir. Das war eben deine Art, mit den Dingen umzugehen. Heute ist es mir lieber zu denken, dass du gegangen bist, um wieder in mir zurückzukehren. Ich möchte nicht nur deine Abwesenheit als Erbe. Sondern ich möchte eine Art von Anwesenheit, auch wenn sie schmerzhaft und traurig ist. Und trotz alledem, in diesem Haus, in dieser Wohnung wirst du immer ein Körper sein, der nie aufhört zu sterben“[1].
Der 22jährige Erzähler Pedro berichtet, erfindet und fügt Einzelteile über das Leben und den gewaltsamen Tod seines Vaters Henrique zusammen. Er tut das anhand von Objekten und Fotos sowie in der zweiten Person, einer direkten Ansprache an den Toten. In vier Kapiteln beschreibt er das Leben und den Tod seines schüchternen, schweigsamen und eben vor allem schwarzen Vaters.

So beginnt im Folgenden die Geschichte von Henrique, eines Lehrers für Literatur an einer öffentlichen Schule in Porto Alegre, der alle Skalen der Erniedrigung im Leben eines Schwarzen durchlebt, bis er am Ende bei einem aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz, noch mit den Schülerarbeiten in der Hand, erschossen wird. Sein Sohn konstruiert eine Geschichte, um gegen den Verlust, gegen die Ausweglosigkeit des Todes anzukämpfen.
Das Leben des Vaters ist an vielen Fronten eine Kampfzone: Waffengewalt, Armut, struktureller Rassismus, die nicht einmal böse gemeinten Witze über die Hautfarbe von der Familie seiner weißen Freundin, Drogen und zerrüttete Familien. Das ungerechte Bildungssystem, von dem er ein Teil ist. Manchmal steckt die Gewalt in den kleinen Details des Alltags: Die Blicke auf der Straße, der feste Griff um die Wertsachen des Entgegenkommenden, wenn Henrique in bestimmten Stadtteilen Porto Alegres verkehrt. Genau diese Prägnanz in der Gefühlswelt lassen den Roman manchmal ein wenig wie einen frühen, afrobrasilianschen Dostojewskij aussehen – denselben Dostojewskij, dessen Roman „Verbrechen und Strafe“ für einen der seltenen Erfolge des Lehrers bei seinen sonst eher desinteressierten und abweisenden Schülern sorgt. Auch scheinen die kulturellen Elemente einer schwarzen Kultur und Identität auf, die von den Orixás bis zu Fragen des Habitus, wie Kleidungsstil, reichen.
Ein Wendepunkt in Henriques Leben ist das Bewusstwerden des Rassismus durch dessen Lehrer Oliveira, der ihn über den „wissenschaftlichen“ Rassismus bei Linné, Blumenbach, de Gobineau und den Physiognomikern aufklärt. Henrique beginnt sich von nun an, mit der Frage der Hautfarbe auseinanderzusetzen – ein schmerzhaftes und an vielen Stellen erschütterndes Unterfangen. Aber auch die Beziehungen zu Frauen und schließlich der Ehe mit Martha, der zwanghaft eifersüchtigen Mutter Pedros, die ebenfalls eine traumatische Vergangenheit durchlebt hat, werden geschildert. Die Eltern trennen sich schließlich, als Pedro ein Jahr alt ist.

Jeferson Tenório beschreibt mit einer eindringlichen, wahrhaftigen Erzählerstimme die gesellschaftlichen Überlebensstrategien von schwarzen Brasilianern, die unbemerkt zu automatisierten Verhaltensweisen werden: das Nicht-Auffallen-Wollen, das Gefühl, sich an einem falschen Ort, in einem falschen Viertel, in einem falschen Straßenzug zu befinden. Das racial profiling in routinehaften Polizeikontrollen, besonders in den Morgenstunden, an denen nur Menschen bestimmter Hautfarben kontrolliert werden.
Das Schicksal ist individuell und kollektiv, genau daher übertragbar. So bekennt Henriques Schwester Laura zum Schluss: „Wir gewöhnen uns an alles. Wir gewöhnen uns daran, wenn wir auf der Straße laufen und die anderen ihre Taschen und Rucksäcke fester greifen, wir gewöhnen uns daran, dass selbst unsere eigenen Männer lieber eine Schwarze mit hellerer Haut haben würden, wir gewöhnen uns daran, allein zu sein. Wir gewöhnen uns daran, bei einem Vorstellungsgespräch so zu tun, als hätten wir den Blick beim Eintreten nicht bemerkt. Aber ich will mich nicht beklagen, mit den Jahren habe ich gelernt, mich zu wehren“[2].

Der Roman ist ein berührendes und gut geschriebenes Portrait einer Vater-Sohn-Beziehung und des allgegenwärtigen Rassismus in Brasilien. Auch wenn der Vater Pedros gestorben ist, leben dieser und dessen Geschichte doch weiter in seinem Sohn.
Der Roman wurde bisher ins Italienische, noch nicht aber ins Deutsche übersetzt.

[1] Meine eigene Übersetzung.

[2] Meine eigene Übersetzung.

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