Spannung, zart kbribbelnd ...

Von der Kunst des Prosaschreibens – 26. Show, don’t tell! – Spannungserzeugung 6

von Mara Laue

20 Methoden der Spannungssteigerung – Teil 4

(16) Mit dem Ende beginnen

Diese Methode können wir anwenden, wenn der chronologische Anfang unserer Geschichte eher unspektakulär ist. Deshalb beginnen wir mit dem Ende oder einem Höhepunkt kurz vor dem Ende, allerdings ohne in letzterem Fall das eigentliche Ende schon zu verraten. Danach blenden wir unter der sinngemäßen (Kapitel-)Überschrift „X Tage zuvor“ zum eigentlichen Anfang und der Vorgeschichte um, die zu dem von uns auf der ersten Seite gezeigten Höhepunkt geführt hat.
Am besten eignet sich diese Methode, wenn das am Anfang der Geschichte schlaglichtartig beleuchtete Ende den Lesenden insofern ein Rätsel aufgibt, dass sie sich aufgrund dieser vorweggenommenen Informationen nicht vorstellen können, was zu diesem Ende geführt hat oder wie die ihnen zu diesem Zeitpunkt bekannten Informationen aus dem Klappentext des Buches dazu passen. Weniger geeignet ist sie, wenn das Ende schon zu viel verraten würde oder einen auf Anhieb erkennbaren Hinweis liefert, wie der zentrale Konflikt der Geschichte vermutlich gelöst wird.
Die Methode, mit dem Ende zu beginnen, gefällt aber nicht allen Lesenden. Mal abgesehen davon, dass man es sowieso nicht jedem recht machen kann, liegt das daran, dass gerade in Kriminal- und Actionfilmen dieses Stilmittel in letzter Zeit überstrapaziert wird. Der Film beginnt mit einer spannungsgeladenen und/oder lebensbedrohlichen Szene für die Heldinnen/Helden, bricht dann ab und es wird umgeblendet zu „X Tage/Stunden zuvor“. (Die kanadische Actionserie „Flashpoint“ beginnt jede Folge mit so einer Sequenz.) Da die bedrohliche Anfangsszene in der Regel aber die Heldinnen/Helden zeigt, wissen die Zuschauenden bereits, dass alles gut wird, weil die Hauptfigur immer überlebt, denn nur sehr wenige Regieführende/Autorinnen/Autoren bringen es fertig, ihre Darlings zu killen. Bei Serien ist das Überleben der Hauptfiguren sowieso „Pflicht“, weshalb sich, wenn sie die „Bedrohten“ sind, beim Publikum nur mäßige Spannung einstellt. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, einen Plot so zu entwerfen, dass die Lesenden nicht schon im Voraus ahnen oder sogar (teilweise) wissen, wie sich eine Sache entwickelt oder eine Szene oder die gesamte Geschichte ausgehen wird.

(17) Der Echtzeit-Effekt

Diese Methode, bei der wir die Geschehnisse so schildern, wie sie auch in realer Zeit ablaufen würden, eignet sich für jeden Plot, bei dem die Einhaltung einer (gemessen an der zu bewältigenden Aufgabe recht kurzen) Frist lebenswichtig beziehungsweise essenziell ist und die Zeit den Heldinnen/Helden unter den Fingernägeln brennt. Jede Minute ist kostbar, jede Sekunde zählt. Um die Wirkung zu erhöhen, können wir die jeweilige exakte Uhrzeit als Kapitelüberschriften verwenden und statt „Kapitel 1“ oder „1.“ zu schreiben, nehmen wir „12.05 Uhr“. Ein interessanter Nebeneffekt dieser Methode besteht in den dadurch unterschiedlich langen Kapiteln. Manchmal passiert in zehn Minuten unglaublich viel, wofür wir zwanzig Seiten brauchen, dann wiederum geschieht in einer ganzen Stunde nichts außer Warten und einem kurzen Gespräch.
Die Schwierigkeit dabei ist, dass wir so realistisch wie möglich die Zeitabläufe beschreiben und sie entsprechend gut recherchieren müssen. Ist es möglich, von A nach B mit dem Auto in zwanzig Minuten zu gelangen? Oder braucht man für diese reale Strecke selbst bei „grüner Welle“ und Überschreiten der erlaubten Höchstgeschwindigkeit doch eine halbe Stunde oder länger? Wie viele Sekunden dauert eine Prügelei der Heldinnen/Helden mit einem Gegner? Wann wacht die Heldin wieder auf, wenn sie um 11.23 Uhr Beruhigungsmittel X in Dosis Y geschluckt hat und bewusstlos umgekippt ist? All diese Kleinigkeiten gilt es zu bedenken.
Doch wenn uns gelingt, diese Hürden zu meistern und unseren Hauptfiguren immer neue Hindernisse in den Weg zu werfen, die ihre ohnehin schon zu knappe Zeit noch weiter verkürzen, haben wir ein nicht zu unterschätzendes Spannungsmittel. Diese Methode eignet sich selbstverständlich auch für einzelne Szenen oder einzelne längere Passagen in einem ansonsten ohne Echtzeit auskommenden Roman. Sie erhöht die Spannung in diesen Passagen zusätzlich und ist deshalb gerade für Actionszenen unerlässlich.
Nur eines sollten wir NIEMALS tun: in den Echtzeit-Passagen das Tempus wechseln vom Präteritum (Vergangenheit) zum Präsens (Gegenwart)! NIE! Ein Tempus-Bruch ist IMMER TABU! Wir haben andere Möglichkeiten, Echtzeit-Szenen zu (be)schreiben. Der Rest dieser Kunst, Echtzeit „rüberzubringen“, kommt mit der Erfahrung und der Übung.

(18) Zeitnot

In Verbindung mit den Hindernissen und dem Echtzeit-Effekt oder auch für sich allein genommen ist die Zeitnot, in die wir unsere Hauptfigur bringen, ein probates Mittel, um Spannung zu erzeugen. Die Einhaltung einer Frist, einer Verabredung, eines Termins kann (über)lebenswichtig sein oder, wenn sie versäumt wird, „nur“ eine gemessen an der Gesamthandlung leichte bis mittelschwere Unannehmlichkeit darstellen. Das Gute an der Zeitnot ist für uns Schreibende, dass wir sie in jedem Genre einsetzen können.
Im Krimi kann die Zeitnot darin bestehen, dass das Ermittlungsteam oder die Privatdetektivin den Mörder entlarven muss, weil er sonst ein weiteres Opfer tötet. Das muss nicht einmal so dramatisch sein, dass die Betreffenden nur noch eine Stunde oder wenige Minuten Zeit dafür haben, bevor der Täter – vielleicht laut einer von ihm lancierten Vorankündigung – erneut zuschlägt. Tötet der Serienkiller immer bei Vollmond (bitte nicht, denn das kam schon in zu vielen Krimis und Thrillern vor) und der letzte Vollmond liegt erst drei Tage zurück, bleiben den Leuten noch ungefähr 25 Tage, um die Lösung zu finden. Wenn wir ihnen ständig Hindernisse oder falsche Fährten in den Weg werfen, die das Entlarven des Killers verzögern, steigt die Spannung mit jedem Tag, der entlarvungslos verstreicht.
Im Liebesroman ist der Klassiker der Zeitnot ein Date oder ein anderer für die Beziehung wichtiger Termin, den die Hauptfigur unbedingt einhalten muss, andernfalls die gesamte Beziehung scheitert. Das muss nicht einmal so dramatisch sein, dass Braut oder Bräutigam zur eigenen Hochzeit gravierend zu spät kommen. Nach „Abarbeitung“ der für Liebesgeschichten genretypischen Missverständnisse haben sich die Liebenden zum klärenden Gespräch verabredet. Einer von beiden wird aufgehalten und hat nun eine höllische Zeit, um noch rechtzeitig zur Verabredung zu kommen, weil sonst der/die andere glaubt, er/sie sei an dem Gespräch und der Fortsetzung der Beziehung nicht mehr interessiert.
Zeitnot lässt sich ganz einfach in eine Geschichte einbauen, indem wir irgendein wichtiges Ereignis vom akkuraten Einhalten eines bestimmten Zeitpunktes abhängig machen. Wir können dieses Mittel nur ein einziges Mal oder mehrfach für verschiedene Ereignisse innerhalb desselben Romans benutzen, oder wir lassen über die gesamte Geschichte hinweg die Zeit bis zur einzigen „Deadline“ immer knapper werden, sodass die Lesenden bis zum Schluss nicht wissen, ob die Hauptfigur ihr Ziel doch noch erreicht. Gut verarbeitet, kann man einen ganzen Roman auf dem Prinzip der Zeitnot aufbauen.
Ganz besonders gut eignet sich die Zeitnot für Kurzgeschichten. Hier können wir – ebenfalls in jedem beliebigen Genre – ein Schlaglicht auf die zunächst fruchtlosen Versuche der Hauptfigur werfen, eine zeitliche Vorgabe einzuhalten. Je nachdem, wie wir die Story anlegen, kann die zunehmende Zeitnot bedrohlich oder witzig wirken. Wo im Roman ein Happy End vorausgesetzt wird, gibt es in der Kurzgeschichte die Möglichkeit, dass die Hauptfigur trotz aller Bemühungen die Zeitnot nicht aushebeln kann und am Ende scheitert.

(19) Die Perspektive

Dass die gewählte Erzählperspektive einen Einfluss auf die Spannung haben kann, mag vielleicht auf den ersten Blick unglaubhaft erscheinen. Dennoch trägt sie insofern zur Spannungserzeugung bei, dass es einige Perspektiven gibt, die uns einiger Möglichkeiten des Spannungsaufbaus beraubt. Allen voran ist das die Ich-Perspektive. In der Ich-Perspektive kann man eine Geschichte immer nur aus der Sicht einer einzigen Person berichten, nämlich der Ich-Figur. Man kann, vielmehr sollte die Perspektive bei der Ich-Erzählung nicht wechseln, weil sonst ihr Reiz verlorengeht. Dadurch fallen aber die Möglichkeiten aus, Cliffhanger einzubauen, die auf wechselnden Perspektiven basieren. Man kann keine Rückblenden einstreuen, die den Hauptfiguren und den Lesenden Rätsel aufgeben, weil die Ich-Figur nur zu Ereignissen rückblenden kann, die sie selbst erlebt/erfahren hat und deren Ausgang oder Folgen ihr somit klar sind. Deshalb wäre es nicht sehr glaubhaft, wenn eine Ich-Figur diese den Lesenden erst mal vorenthielte, um sie irgendwann a la „Ach, übrigens …“ nachzureichen.
Ebenso unmöglich ist es, den Lesenden Informationen zu geben, die die Hauptperson nicht hat, weil diese die Geschichte selbst erzählt und zum Beispiel keine Ahnung davon haben kann, dass der Feind sich im Schlafzimmerschrank versteckt hat, bevor der nicht daraus hervorgestürmt ist. Die Methode, Antagonistin/Antagonist scheinbar tödlich für die Hauptfigur gewinnen zu lassen (Kill your Darlings), scheidet auch aus, weil die Lesenden aufgrund der Ich-Erzählung wissen, dass die Bösen nicht gewinnen. Andernfalls könnte die Ich-Figur ihre Erzählung nicht vollenden. Ich-Figuren überleben immer.
Ähnliche Probleme ergeben sich, wenn wir unsere Story/unseren Roman ausschließlich aus der Sicht einer einzelnen Person erzählen, selbst wenn wir dazu die personale Perspektive („er/sie“) statt „ich“ wählen. Denn hinsichtlich der Spannungserzeugung wirkt die einseitige personale Perspektive ohne Perspektivwechsel genau so beschränkend wie ich Ich-Erzählung. Zwar ist es generell möglich, eine Geschichte auch in der Ich-Perspektive oder einseitig personaler Perspektive mörderisch spannend zu schreiben; dafür gibt es in der Literatur genug Beispiele. Aber diese Kunst bedarf der Erfahrung und eines virtuosen schreiberischen Könnens und geht bei leider sehr vielen (auch renommierten) Autorinnen/Autoren in die Hose.
Wenn wir also eine Story oder einen Roman schreiben, bei der/dem der Hauptaspekt auf der Spannung liegen soll (egal in welchem Genre), dann sind wir mit der wechselnden personalen Perspektive auf der sicheren Seite.

(20) Der „Schwarze Freitag“

Was der „Schwarze Freitag“ 1929 für die New Yorker Börse (Börsencrash) war, als alles zusammenbrach und Tausende Menschen ihre finanzielle Existenz verloren und ruiniert wurden, ist für unsere Heldinnen/Helden die ultimative Katastrophe. Nach den bereits erfolgten Konflikten und Hindernissen, die wir ihnen (hoffentlich!) bis hierher in den Weg gelegt haben, ist der „Schwarze Freitag“ das Ereignis, das sie endgültig zum Scheitern bringt. Alles scheint (!) verloren zu sein, sie sind am Ende, verzagt und mutlos und niemand – nicht einmal die Lesenden – würde ihnen übel nehmen, wenn sie jetzt aufgäben. (Aus diesem Grund passt der „Schwarze Freitag“ in der Regel am besten ins letzte Drittel, vielleicht sogar Viertel des Romans.)
An diesem Punkt zeigt sich dann, was wirklich in den Heldinnen/Helden steckt. Dass sie nicht aufgeben, ist für sie als Hauptfiguren der Geschichte selbstverständlich. Nachdem sie eine Weile verzweifelt waren, vielleicht getrauert haben, evt. sogar tatsächlich einige Zeit mit dem Gedanken ans Aufgeben gespielt (!), diesen vielleicht sogar als „Erstfall geprobt“ (d. h. sich ihm vorübergehend hingegeben) haben, rappeln sie sich wieder auf. Sie reißen sich schließlich zusammen und findet eine Lösung.
Das Wichtigste am Schwarzen Freitag ist, dass wir ihn absolut glaubhaft konstruieren. Die Katastrophe sollte sich bereits „schleichend“ über den gesamten Roman hinweg (mindestens ab ca. der Mitte) abzeichnen, wenn auch nicht in ihrer „geballten Vernichtungskraft“, sondern mehr als ein gefühltes Damoklesschwert. Außerdem sollten wir den Lesenden das Gefühl geben, dass die Hauptfigur an ihrem persönlichen Schwarzen Freitag tatsächlich, allen Ernstes, wirklich, wahrhaftig und unwiderruflich scheitert. Gelingt uns das nicht, gehen die Lesenden davon aus, dass Heldin/Held am Ende wie aus nahezu allen ihnen bekannten Romanen und Geschichten selbstverständlich den strahlenden Sieg davontragen und aus selbst der schlimmsten Bredouille heil herauskommen.
Wenn die scheinbar ultimative Katastrophe dann auch noch aus heiterem Himmel kommt, weil etliche Schreibratgeber vorschreiben, dass im letzten Viertel bis Fünftel eine solche „unbedingt“ einzubauen sei, aber vorher nichts darauf hindeutete (ich kenne mehrere Romane, in denen der Schwarze Freitag aus dem Hut gezaubert wurde), verfehlt er seine Wirkung, weil die Lesenden die „plötzlich und unerwartet“ auftauchende Katastrophe nicht ernstnehmen können.
Der Schwarze Freitag dient unter anderem dazu, der Story noch einmal eine (überraschende) Wendung zu geben. Wenn wir unseren Roman bis dahin gut entwickelt haben und darin auch die Möglichkeit eines echten „unglücklichen“ Endes schon angedeutet haben, werden die Lesenden nun um die Hauptperson und ihr Glück zittern. Verdammt – ist jetzt wirklich alles vorbei? Scheitert sie tatsächlich? Oder findet sie doch noch eine Lösung, obwohl alles (idealerweise) so aussieht, als gäbe es keine Lösung mehr? Je nach Genre haben wir hier die Möglichkeit, die Lesenden tatsächlich (noch einmal) zu überraschen.

ZUSAMMENFASSUNG

Um alle Möglichkeiten der Spannungserzeugung optimal zu nutzen, sollten wir auf folgende Dinge achten:

  • Wir wählen die Methoden nach dem Inhalt der jeweiligen Szene, in der wir sie anwenden wollen. Nicht jede Methode ist für jede Szene = Handlung gleich gut geeignet.
  • Wir benutzten nach Möglichkeit niemals dieselbe Methode zweimal oder mehrfach hintereinander, sonst nutzt sich ihr Effekt ab. Sorgen wir auch bei der Spannungssteigerung für Abwechselung (Ausnahmen: der Cliffhanger und die Bedrohung; sie kann man ohne „Abnutzungseffekt“ so oft verwenden wie man möchte).
  • Wir verwenden so viele verschiedene Methoden wie möglich.
  • Vermeidung von Klischees in Form von allzu oft gebrauchten Spannungsmethoden. Ausnahmen sind hier die Bedrohung (im weitesten Sinn; auch das Auftauchen einer Konkurrentin im Liebesroman ist eine Form der „Bedrohung“) sowie der Cliffhanger, denn ihn finden wir in nahezu jedem halbwegs spannenden Roman. Doch auch hierbei kann man Varianten einbauen hinsichtlich der Wahl des Moments, in dem man zu einer anderen Szene umblendet, oder des „Schlusswortes“, mit dem der Cliffhanger endet. Mit fortschreitender Schreiberfahrung findet man auch in diesem Punkt einen guten Weg.

In der nächsten Folge:
Spannung erhalten und retardierendes Moment

In der letzten Spannungs-Folge:
Besonderheiten in Actionszenen

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