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Ruf der Wildgänse

Geschichte von Birgit Sonnberger

Die S-Bahn ratterte über die Schienen. Vier Wagen bestückt mit blauen Sitzgruppen. Aufgeschlitzte Polster. Schaumstoffstückchen quollen heraus. Schwarze Graffiti an der gewölbten Decke.
Hier saß er in Fahrtrichtung. Sah die sich vorbeischiebenden Häuserzeilen im blassen Märzlicht. Endlose Scherenschnittreihen in Grau. Nur noch wenige Stationen und ein kurzes Stück zu Fuß bis nach Hause. Elfter Stock in einem der weißen Riesen am Stadtrand. Hier wartete keiner auf ihn. Weder Frau noch Kind.
Er hatte die Nachmittagsstunden frei. Kurzarbeit. Nach der Mittagspause war die Belegschaft über die Firmeninsolvenz informiert worden. Mit viel Arbeit für wenig Lohn war er zurechtgekommen. Er hat sich in Streiks dagegen aufgelehnt und war aufmüpfig gewesen. Seine Wut über diese Ungerechtigkeit rausgeschrien. Doch gar keine Arbeit war ausweglos.

Er kroch tiefer in seine graue Kapuzenjacke hinein. Seit einem Jahr gab es die große Krise. Für alle auf der ganzen Welt. Als Inka ihre Koffer packte und mit dem Kleinen auszog, hatte seine persönliche Krise begonnen, vor einem halben Jahr. Die Welt testete ihn mit all ihren verschiedenen Aspekten, ob er das, was ihm zu Beginn seines Lebens nicht versprochen wurde, aushalten würde. Doch wie lange noch? Ein Leben ohne Pläne und kaum Geld. Bisher hatte er sich wehrlos angepasst. Allein sein, arbeiten, essen und trinken. Von dem einen zu viel und dem anderen zu wenig. So stolperte er durch die Stunden seiner Tage und tastete sich in der Nacht durch seine Träume. In diesem Dämmerzustand spürte er nur noch die Furcht vor dem nächsten Tag.
Die Bahn fuhr über die Brücke. Er stand auf und presste seine Stirn an die kühle Scheibe. Sein Blick suchte zwischen den Stahlträgern die Wasseroberfläche. Dort in der Tiefe entdeckte er ein Containerschiff. Kleine bunte Kästen Er drehte sich vom Fenster weg und ging in Richtung Wagenübergang. An der Türe neben der Notbremse blieb er stehen. Seine Hand umschloss das kühle Eisen des Griffes. Unter seinen Fingern spürte er die Unebenheiten. Ein Leben ist ein Leben, mehr nicht, dachte er.
Eine halbe Stunde später betrachtete er sich im Spiegel des Fahrstuhls. Seine Hose im Bund zu weit. Unter der Jacke ein Bauch ohne Sixpack. Seine blonden Haare verfilzt. Sein warmer Körper voller Sicherheiten war längst Vergangenheit

Jetzt hauste er nur noch in einem zugigen Gerippe.
Der Aufzug ruckelte und blieb stehen. Die Türen schoben sich zur Seite. Er verließ den Lift. Ging den im Orange der 70er-Jahre gehaltenen Flur entlang zu seiner Wohnungstüre. Als er den Schlüssel ins Schloss schob, hörte er hinter sich die Stimme seines Nachbarn.
„Hey, schon wieder Feierabend. Komm`ste nachher auf `nen Bierchen rüber?”  Kai stand im Türrahmen gegenüber.
“Klar, bin gleich da.” Er schaute kurz über die Schulter und betrat seine Wohnung. Er lehnte sich matt von innen gegen die Türe. Spürte die Jacken im Rücken, aus der ein miefiger Geruch in seine Nase drang. Kalter Schweiß.
Bin ich das?

Für einen Moment blieb er so stehen und blickte ratlos durch die offene Wohnzimmertüre und die Fensterfront in den weiten Märzhimmel hinaus. Dort entdeckte er das langgestreckte V einer Formation von Wildgänsen. Für einen Moment lächelte er, und seine Augen glänzten. Dann durchquerte er eilig den Flur und blieb vor der Balkontüre stehen. Seine Finger umschlossen den Türgriff und drückten ihn runter. Sofort drangen die Schreie bis an seine Ohren durch. Sie riefen ihn. Flieg mit uns. Raus aus der Krise. Ein Leben ist ein Leben, mehr nicht.

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