Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – 12. Show, don’t tell! – Teil 3

Show, don’t tell 3: Ausnahmen bestätigen die Regel

Gutes, vor allem anschauliches Beschreiben gilt in der modernen Literatur als Pflicht. Wer „Zeigen, nicht erzählen!“ nicht oder suboptimal beherrscht, kann mit den eigenen Texten gerade bei den meisten Verlagen keinen Blumentopf (mehr) gewinnen. Aber wir alle kennen das Sprichwort, dass die Ausnahme die Regel bestätigt. Deshalb gibt es auch Ausnahmen von dieser Regel. Sie gelten immer dann, wenn eine anschauliche Beschreibung die Handlung unterbrechen, sinnlos aufblähen oder verzögern würde. Befindet sich der Text mitten in einer Actionszene, einer romantischen oder erotischen Liebesszene oder einer Situation, die ein zügiges und schnörkelloses Fortführen der Handlung erfordert, ist „Show, don’t tell!“ unangebracht.

  1. Actionszene

Zum ersten Mal sah er seinen Gegner von Angesicht zu Angesicht – über den Lauf eines Revolvers hinweg. Sandfarbene Haare, ebenmäßige Züge, kalte blaue Augen, in denen der Tod stand. Augen, die sich für den Bruchteil einer Sekunde verengten, bevor er abdrückte.

Beschreiben wir diese Szene nach der Prämisse der „Show“:
Zum ersten Mal sah er seinen Gegner von Angesicht zu Angesicht – über den Lauf eines Revolvers hinweg. Der Wind fuhr ihm durch das Haar und die Mittagssonne ließ es sandfarben leuchten. Sie verlieh seinem Gesicht das Aussehen einer antiken Statue mit Lippen, die manche Frau nur zu gern geküsst hätte. Nur der Ausdruck seiner blauen Augen störte den Eindruck von Schönheit. Sie waren kalt wie der Tod. Augen, die sich für den Bruchteil einer Sekunde verengten, bevor er abdrückte.

Nun haben wir zwar ein wunderbares Bild von einem gutaussehenden Killer vor Augen, aber die Handlung wurde dadurch von Tempo Hundert auf Schrittgeschwindigkeit ausgebremst. Hier ist die „Show“ unangebracht. Unter anderem deshalb, weil wir in der Perspektive unserer Figuren immer nur beschreiben bzw. benennen, was sie in DIESER Situation wahrnehmen, worauf sie sich konzentrieren. Wer seinem Todfeind gegenübersteht und berechtigte Angst um sein Leben hat, der nimmt nicht die leuchtende Mittagssonne wahr oder den Wind oder dass das Gesicht des Feindes auf Frauen anziehend wirken könnte. Man sieht nur eine auffallende Haarfarbe und die Kälte der Augen, und eine winzige „Stimme“ im Hinterkopf wundert sich, wieso ein so gutaussehender Mensch („ebenmäßige Züge“) derart gemein sein kann, dass er uns umbringen will. In der Perspektive unserer Figuren dürfen wir deshalb auch nichts anderes als das beschreiben.

  1. Liebesszene

Simon schloss die Zimmertür auf, ohne den Kuss zu unterbrechen. Nina schob ihn ins Zimmer und bugsierte ihn zum Bett. Er hatte gerade noch Zeit, die Tür mit einem Fußtritt zu schließen, ehe sie schon sein Hemd aufknöpfte und es ihm von den Schultern streifte. Ihre Hände verursachten ein heißes Kribbeln auf seiner Haut. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass die Einrichtung des Zimmers ebenso billig wirkte wie Ninas rotgefärbte Haare. Doch der Eindruck wurde von der Erregung ausgeblendet, die ihn durchfuhr, als sie die Hand in seine Hose schob.

Bis jetzt kann man sich das „billige“ Aussehen der Einrichtung nicht konkret vorstellen. Wir könnten es zeigen:
Simon schloss die Zimmertür auf, ohne den Kuss zu unterbrechen. Nina schob ihn ins Zimmer und bugsierte ihn zum Bett. Er hatte gerade noch Zeit, die Tür mit einem Fußtritt zu schließen, ehe sie schon sein Hemd aufknöpfte und es ihm von den Schultern streifte. Ihre Hände verursachten ein heißes Kribbeln auf seiner Haut. Er nahm die Einrichtung nur aus den Augenwinkeln wahr. Abgewetzte Ledermöbel, die ihre besten Tage längst hinter sich hatten. Flecken auf dem Teppich neben einigen Brandlöchern, ein unangenehmer Geruch im Raum. Vorhänge, die an mehreren Stellen aus der Halterung gerissen waren und farblich nicht zum Rest des Zimmers passten. Dafür passte ihre Farbe perfekt zu dem unnatürlichen Rot, mit dem Nina ihre Haare gefärbt hatte. Doch der Eindruck wurde von der Erregung ausgeblendet, die ihn durchfuhr, als sie die Hand in seine Hose schob.

Hier wirkt die Beschreibung wie eine kalte Dusche, die der Szene vorübergehend die erotische Stimmung nimmt. Also verschieben wir sie auf einen Zeitpunkt nach dem heißen Bettgeflüster des Paares. Aber nur, falls sie für das weitere Geschehen oder zum Beispiel für die Charakterisierung von Nina relevant ist. Wenn nicht oder falls es sich um eine Kurzgeschichte handelt, können wir es der Fantasie der Lesenden überlassen, sich ihre eigene Vorstellung vom „billigen“ Aussehen der Einrichtung zu machen.

  1. Zügige Handlung erforderlich

„Aber Martin war es doch gar nicht, Papa. Im Gegenteil, er hat mir geholfen.“
Gruber starrte erst seine Tochter, dann Martin fassungslos an.
Martin nickte. „Das habe ich die ganze Zeit versucht, Ihnen zu erklären. Aber Sie haben ja nicht zugehört und stattdessen auf mich eingeprügelt.“
„Sie sind zwar unschuldig, was den Überfall auf Ihre Freundin angeht“, mischte sich Kommissarin Petersen ein, „aber Sie sind trotzdem festgenommen wegen vorsätzlicher Sachbeschädigung und versuchten Einbruchs. Drehen Sie sich um und legen Sie die Hände auf den Rücken.“ Sie zückte die Handschellen.
Die Verlegenheit stand Gruber ins Gesicht geschrieben, als er Martin die Hand reichte. „Ja, also, ich muss mich dann wohl bei dir entschuldigen. Aber es sah alles so aus, als wärst du es gewesen.“
„Schon gut. Schwamm drüber.“ Martin drückte ihm die Hand, ehe er sich umdrehte, beide Hände auf den Rücken legte und sich widerstandslos von der Kommissarin die Handschellen anlegen ließ.

In einer anderen Situation könnte man Grubers Verlegenheit plastisch zeigen:
Gruber räusperte sich und knetete seine Hände. Blickte zu Boden und wiegte den Kopf hin und her. Er räusperte sich noch einmal, ehe er Martin in die Augen sah und ihm die Hand reichte.

Die Lesenden erleben aber die Schilderung einer Handlung immer in gefühlter „Echtzeit“. Hier würden die Handschellen etwa eine Minute in der Luft hängen, bevor sie endlich ums Handgelenk des Verdächtigen klicken. Das ist an dieser Stelle nicht stimmig, weil die Kommissarin kaum warten würde, bis Gruber seine Verlegenheit überwunden hat und Martin die Hand zur Versöhnung reicht. Dessen Hände wären längst vorschriftsmäßig auf den Rücken gefesselt, wenn wir warten wollten, bis wir endlich mit dem Beschreiben von Grubers Verlegenheitsgesten fertig wären.
Deshalb hier kurz und bündig: Die Verlegenheit stand Gruber ins Gesicht geschrieben, als er Martin die Hand reichte.

Dagegen ist ein Verzicht auf Beschreibungen und ausschweifende Erklärungen in Kurzgeschichten das Mittel der Wahl. Darin verzichten wir auf alle Beschreibungen, die nicht zwingend für die Handlung und deren Verständnis erforderlich sind. Oder wir verknappen sie dort auf die ansonsten eher verpönte Aufzählung/Nennung von Adjektiven. Aber auch in diesem Punkt kommt die Finesse mit der Übung. Je mehr wir schreiben und andere Texte (Bücher) lesen, desto sicherer lernen wir zu erkennen, wann die „Show“ angebracht ist und wann man lieber darauf verzichten sollte.

In der nächsten Folge: Atmosphäre schaffen

Weitere Folgen von „Show, don’t tell“:

  • Der Einfluss der Perspektive
  • Gefühle beschreiben: Liebe, Hass, Angst, Mut, Schock (5 Folgen)
  • Landschafts- und Ortsbeschreibungen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert