Im Dichter ist es dunkler als draußen

Im Dichter ist es dunkler als draußen

von Noel Smürge

Trinke ich, weil ich gerne schreibe, oder schreibe ich, weil ich noch lieber trinke?, steht in großen Lettern auf einem Post-it, den ich vom iPhone reiße, um den frustrierenden Wecker auszuschalten. Ich packe den Zettel zu den anderen und lege mich mit dem Handy zurück ins Bett.

Die Worte letzter Nacht schon weggeträumt,
oder doch noch gar nicht aufgewacht?
Im Kopf ist alles leergeräumt,
ich habe es ins Herz gebracht.

Es soll sein, was ich gern wär‘,
doch Schriftsteller, das bin ich nicht.
Der Kater fordert’s umso mehr:
Gute Miene zum gezeichneten Gesicht.

Ich schwitze sowohl Kater als auch Dachgeschoss aus und zwinge mich nach dem dritten Schlummern zur Kaffeemaschine. Der Kaffee schmeckt schon seit Wochen verkalkt, weshalb ich bloß den Kocher anschmeiße, der den Lärm der Bauarbeiter vor der Haustür übertönt, und im Anschluss heißes Wasser auf das klobige Pulver in der Tasse vom Vortag gebe. Zigaretten sind alle, also wird gedreht. Das Papier klebt nicht und von den Zügen, bis die Kippe eher auseinanderfällt, als dass ich sie ausdrücke, bleibt neben Teer in der Lunge und Tabak im Mund hauptsächlich hängen, dass mit mir etwas nicht stimmt. Auf die Morgenzigarette mit Minderwertigkeitskomplexen folgt eine Katzenwäsche und der Weg zur Haltestelle. Die Spucke klebt noch immer nicht.

Schon die Fahrt gen Uni wird zur Qual,
schließlich fühle ich mich nicht normal,
da mir nach nichts ist, außer zu weinen,
während alle so zufrieden scheinen.

Statt im Reinen mit mir selbst zu sein,
denk ich nur an meinen Freund den Wein,
von dem mich noch so viele Stunden trennen,
und wenn wir uns dann wieder einen brennen

entfremde ich mich weiter von mir selbst, denn jetzt mal ganz ernsthaft: Wie verfickt nochmal soll ich meine Träume verwirklichen, wenn ich sie in Alkohol ertränke, statt ein einziges Mal in meinem Leben ein Mann zu sein?!
Klingt genauso pathetisch wie der in vier Versen verpackte Blödsinn, den ich, ohne die profanen Reime, auch in zwei Minuten hätte schreiben können.

Allerdings ist dieser Ausbund an Lächerlichkeit für meine gegenwärtige Situation nicht nur kennzeichnend, sondern fast schon fortschrittlich, denn statt zu schreiben – nach einem Tag in der Uni, der auf dem Papier mitnichten so stressig ist, wie mir scheint –, haue ich mich nach Feierabend auf die Couch und öffne die erste Flasche Wein. Ist das Verlangen, noch weiter zu trinken, genauso stark wie die Sehnsucht, die sich mit jedem Schluck den Weg in Richtung Kopf bahnt, schnappe ich mir die zweite Flasche und stiefele zum Schreibtisch, nur um dann festzustellen, dass all das, was ich abladen und in Worte fassen möchte, zwar nach wie vor da ist, der Geist aber nicht in gleichem Maße mitspielt, weshalb am Ende nicht mehr rumkommt als ein Gedicht oder auch mehrere Strophen, die irgendwann vielleicht auf mehrere Gedichte verteilt werden, von denen dann schließlich alle in der Schublade verschwinden.
Um der ungewohnt langen Rede ein Ende zu bereiten: Gedichte ähneln Songs insofern, dass sie ein Gefühl andeuten und somit die gesuchte Zuflucht bei allerlei Trauer bedeuten und diese idealerweise gar heilen können, doch meine Gedichte realisieren nichts dergleichen. Meine „Gedichte“ sind scheiße, weil sie lediglich an der Oberfläche kratzen, statt nach dem Wesentlichen zu bohren.

Dichterfreund, hör mich an und gräm dich nicht,
kam dein wahres Ich denn schon ans Tageslicht?
Entspricht dein Reim auch deinem Herz,
oder lockt dich unser aller Schmerz?

Wie simpel ist es, den Reim, der eigentlich ein Spiegel der eigenen Empfindung sein soll, ein Stück weit anzupassen, damit er sowohl metrisch als auch emotional der Norm entspricht? Zu einfach! Lasst uns ehrlich schreiben, solange wir leben und erst dann dichten, wenn die Zeit kommt, auf das Erlebte zurückzublicken!

Soweit der Vorschlag eines Niemands, der zwar noch genauso dicht ist wie früher, mittlerweile aber weniger dichtet. Drei Jahre ist es nun her, dass ich mich in die Wälder Schwedens zurückzog und nach Thoreaus Vorbild lebte. Zwei Monate, die aus nichts anderem bestanden, als Bücher zu lesen und tatsächlich auch selbst eines zu schreiben. Ebenso wie der wichtigste Mensch meines Lebens, dem ich es widmete, liegt auch das Buch nun begraben. Wohlwissend darum, dass es dem Grund für den Schwung der Feder nicht gerecht wurde, schloss ich es ein und begann, mich an Kurzgeschichten zu versuchen.

Den Jakob, den ich erschuf, gibt es heute wahrscheinlich nicht mehr. Seine Mutter wird ihre Liebe wohl bis zuletzt mit Worten bekundet haben, doch was sind diese wert, wenn das Kind von ihnen erdrückt wird, statt gedrückt zu werden?
Jakob war vielleicht ein geliebtes Kind, doch sobald der Lebensgefährte der Mutter zuschlug und fremdging, war Jakob mit seinen acht Jahren nicht bloß Kind, sondern auch Ersatz, bis dann ein neuer Mann vor der Tür stand. Bei meiner letzten Auseinandersetzung mit dem Schicksal Jakobs band seine Mutter ihrem nackten Kind ein Handtuch um die Hüften und verkündete fordernd, dass es beide beim nächsten „Vater“ besser machen würden.
Gerne wäre ich optimistisch, doch wie sollte sein kleiner Kopf auf Dauer die Vorstellung ertragen, der Grund dafür zu sein, dass seine Mutter nicht nur reihenweise verlassen, sondern in der Regel davor auch noch verprügelt wird?! Vielleicht hat er sich irgendwann schützend vor sie gestellt und wurde dann unglücklich getroffen. Möglicherweise kam er auch zu spät und konnte es sich nicht verzeihen, seine Mutter erneut enttäuscht zu haben. Oder aber er eiferte ihr bei der Suche nach etwas Größerem nach und fand, was sie in der Flasche verloren hatte.
Meinem Dagur gelang das nicht. Er sitzt wahrscheinlich noch immer in einem isländischen Gefängnis. So, wie ich ihn mir vorstelle, spricht er nun gar nicht mehr, und doch habe ich die Hoffnung, dass er vielleicht wieder zu Stift und Papier gegriffen hat. Vielleicht verarbeitet er das Schicksal seines Freundes, das sein eigenes bestimmt hat, und vielleicht kann er sich verzeihen, dass seine wahnsinnige Racheaktion Birkir nicht lebendig gemacht, sondern bloß für mehr Leid gesorgt hat. Ich denke an beide, vor allem an Dagur, der die gleichen Bücher las, die auch bei mir im Schrank stehen, und wünsche ihm den Trost zurück, den er einst in Rousseaus Zeilen fand.

Ich war sowohl Jakob als auch Dagur. Einst war ich klein, dann wurde ich traurig, und schließlich begann die Wut auf das, was ich versäumt hatte oder hätte verhindern können. In meinem Leben gab es meist nur das Präteritum, die Gegenwart fand höchstens im Konjunktiv statt.
Ich war ein geliebtes Kind und könnte mich nach wie vor als solches bezeichnen, da die damalige Liebe so fest in meinen Zügen und auch auf der Haut verankert ist, dass ich den Freitod trotz seiner beständigen Annäherungsversuche ausschließen kann.
Ich liebe, also lebe ich. Punkt.
Meines Studiums wegen kommt mir nun die Frage in den Sinn, ob dieser Ausspruch nach Descartes ein Cogito-Urteil sein könnte, da ja lediglich das erste Verb erneuert wurde und dieses ohne das Original buchstäblich nicht denkbar wäre, doch statt mich weiter mit diesem Gedanken auseinanderzusetzen, drifte ich ab und trinke ein Glas Rotwein auf Morrisey.

And why did you give me so much love in a loveless world,
When there is no one I can turn to
To unlock all this love?

Ach Jesus, sag, wie hältst du’s mit der Liebe, und wollen wir das Fass, das ich längst ausgetrunken haben wollte, wirklich von neuem aufmachen? Scheint ja noch was drin zu sein.
Meinen Mitmenschen gegenüber behaupte ich, mit dem Glauben abgeschlossen zu haben, wenn man Sehnsucht und Rückhalt denn so nennen mochte, und doch bitte ich den vermeintlich Heiligen da oben jede Nacht darum, dafür zu sorgen, dass es meiner Liebsten, meinem Engel im Himmel gutgeht, und versuche ihn davon zu überzeugen, was sie mir mein Leben lang bewiesen hat: nämlich, dass es niemand mehr verdient hat als sie!

Ich lege meine Hoffnung also in Hände, deren Existenz ich bezweifle, und diese Ambivalenz steht sinnbildlich für alle Umstände in meinem noch jungen Leben. Ich studiere mit großem Erfolg und hadere dennoch tagtäglich mit meinen Leistungen. Vor allem, wenn ich sie perspektivisch betrachte, sie also in ein Verhältnis setzte, das echte Arbeit beinhaltet. Von 22 Jahren meines Lebens habe ich nur zwei Monate hart gearbeitet, auf einer Huskyfarm in Nordnorwegen, und noch nie habe ich mich besser gefühlt! Die halbjährige Europareise, durch die der Job auf den Vesterålen überhaupt erst zustande kam, hatte übrigens den Hintergedanken, mehr denn je zu schreiben, was auch gelang, bis ich dann auf die Hunde traf.
Nebst der fehlenden Zeit gab es vor allem keinen Grund zum Schreiben. Gut, das Reisetagebuch pflegte ich zwar nach wie vor, aber ansonsten fühlte ich mich viel zu ausgeglichen, beinahe schon lebendig, als dass ich das Verlangen verspürt hätte, einen Protagonisten zu erschaffen, dessen Leben ihm mit meinem Impuls, überhaupt zum Stift zu greifen, von Wort zu Wort entglitten wäre.
Was ich erschaffe, scheitert, und doch sitze ich nun hier, und sinniere in Schriftform über das Scheitern, womit ich letztlich etwas Neues schaffe, das wiederum auch scheitern könnte, aber für den Moment fühlt es sich richtig an, jedenfalls richtiger als die albernen Verse und vor allem ehrlicher!

Ehrlichkeit – noch so ein Fass. Ich setze zum Schluck an und stelle die Frage in den leeren, verrauchten Raum, ob nicht vielleicht auch ich das Werk eines versoffenen Autors sein könnte. Wenn dem so ist, Dichterfreund, dann ist dem so.
Ich klappe den Laptop zu, drücke den kokelnden Filter aus und schreibe den Post-it für den nächsten Tag.

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