Zwei Fundstücke, gedichtet.

Fundstücke

Nicht immer benötigt man ein Antiquariat, um Gedichtbände zu finden, die nicht mehr brand neu sind. Nun hat Sprache die Eigenschaft, dass sie weniger rasch altert als wir, die wir sie gebrauchen. Manchmal verbrauchen wir sie auch, Generation um Generation, weshalb die Jugend sie – oder wenigstens Teile – immer wieder neu erfindet.

Ich stehe also wieder einmal im Halbsouterrain der Buchhandlung Winzerer in Bad Tölz und frage Frau Zantl, was sie denn gerade so empfiehlt. Sie zeigt auf mehrere Bändchen, die ich aus dem Regal herausziehe und anschaue, blätternd. Meine Liebste schaut mich in ihrer ganz speziellen Weise an, was ich immer innerlich als liebenswerten Kopfschüttelblick bezeichne. Das ist der Blick, mit man den liebsten Menschen anschaut, wenn man denkt: ‚Du hast zwar einen kleinen Knall, aber gerade deshalb und dennoch habe ich Dich so lieb!’

Als ich das Erscheinungsdatum beider Bände anschaute, war ich verwundert, dass das in beiden Fällen schon über zehn Jahre her war, in einem sogar beinahe zwanzig. Der Sprache habe ich es kaum angesehen. Und letztlich geht es ja um das Lesevergnügen, nicht um das Alter bei Lyrik. Denke ich wenigstens.

 

Rainer Schedlinski, die rationen des ja und des nein – Gedichte, Edition Suhrkamp, Neue Folge Band 606, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 1990, 134 S., brochiert, ISBN 3-518-11606-1<1000>

Netfinder:
Zum Autor:     http://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Schedlinski
Der Verlag:     www.suhrkamp.de

Rainer Schedlinski, geboren 1956 in Madgeburg, war einer der führenden jungen Lyriker in der Spätphase der ehemaligen DDR, der u.a. auf dem Prenzlberg zusammen mit Andreas Koziol ab 1986 die Ariadnefabrik herausbrachte. Seit 1992 ist bekannt, dass er seit Ende der siebziger Jahre zugleich als Stasispitzel tätig war. Nach 1991 ist er nicht mehr in der Literaturszene erkennbar, er hat sich wohl völlig nach seinem Schuldanerkenntnis zurückgezogen.

Ich will nicht verhehlen, dass ich mir lange überlegt habe, ob man diesen Band angesichts der Vergangenheit des Autors besprechen kann. Allerdings darf ich dennoch sagen, dass mich die Sprache des Autors und seine Lyrik dann dennoch dazu bewogen haben, ihn wieder an die Oberfläche zu bringen.

Die Zeitenwenden des vergangenen Jahrhunderts haben manchen Menschen viel abverlangt. Nicht alle waren den Herausforderungen an ihre moralische Integrität gewachsen. Die Frage ist: Wird ihre Kunst durch ihre Verfehlungen befleckt oder nicht? Sie wird es mit Sicherheit, wiewohl die Flecken mit der Zeit verblassen und das bleibt, was an Substanz in den Werken verborgen ist.

Die Sprache von Rainer Schedlinski hat ein Strahlen, das die Zeiten, die Wende, ihre Entstehung und den Autor hinter sich zurücktreten lässt. Daher habe ich mich auch entschlossen, diesen Band dem Vergessen hier ein wenig zu entreißen. Eines der Beispiele ist das Sonett (fraktur) auf der S. 95 des Bandes, das ich hier einmal für sich sprechen lassen möchte:

verwittert am anfang / das chaos
gestein & gestein / zum vergleich
ein strenges gelübde / von allem
gebrochen / wir türmen

die steine zu mauern / mauern
& mauern / pressen die stadt
in die augen / wie marmor-
brüche / des wissens

griechische steingläübigkeit / fort-
gepflanzt in der säulen / gestalt
die gebiert / ohne empfangen zu haben

nichts wächst / nur der stein
bricht vom stein / bricht
mit allem / woraus er entstand

So gibt es noch viele sprachliche Kleinode zu schöpfen, die ohne Echo vergingen, würde man sie mit dem Autor dem Verdikt des Nichtakzeptablen, des ewig Schuldigen unterwerfen. Nicht ganz von ungefähr bekam Rainer Schedlinski 1989 den Förderpreis des Darmstädter Leonce-und-Lena-Preises.

So sehr ich den Schmerz und den gerechten Zorn der von ihm Geschädigten und Verratenen verstehe, möchte ich doch um Vergebung wenigstens für die Gedichte von Rainer Schedlinski nachsuchen. Und sie zum Studium für die empfehlen, die einen Virtuosen deutscher lyrischer und poetischer Sprache kennen lernen wollen, der zugleich erkennen lässt, dass auch das größte Talent weder vor moralischen Verfehlungen noch vor persönlichem Scheitern schützen kann.

 

Albert von Schirnding, Zwölf neue Gedichte, Verlag Langewiesche-Brand, Ebenhausen bei München, 1995, 12 Seiten, ISBN 3.-7846-0159-6

Netfinder:
Zum Autor:     http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_von_Schirnding
Der Verlag:     http://www.langewiesche-brandt.de

Albert von Schirnding, Jahrgang 1935, er lebt heute in Egling in der Nähe von Bad Tölz, ist beleibe kein Newcomer und auch kein unbeschriebenes Blatt. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten über Lessing, Dante und andere Klassiker der Literatur.

Dennoch gehört sein lyrisches Werk sicherlich nicht zu den wirklich bekannten. Das Gedicht „ Einer der stirbt“, das auf S. 4 des hier besprochenen Bändchens abgedruckt ist, möchte ich zitieren:

„Einer der stirbt hat keinen gekannt
fremd geht er fort mit niemand verwandt

Nichts hat er gehofft und nicht geglaubt
er ist seiner Träume und Bilder beraubt

Die nächsten Namen hat er verlernt
sich aus dem Haus seiner Sprache entfernt

Einer der stirbt hat alles verlorn
es ist als sei er niemals geborn

Der eine der haßt der andre vergibt
Einer der stirbt hat keinen geliebt“

Erschütternder und kürzer, lakonischer und nüchterner kann man die Vergeblichkeit des Menschenlebens, wie ich finde, kaum fassen. Zugleich aber ist dieses Gedicht der laute und deutlich lesbare Widerspruch der Thesen, die hier aufgestellt sind. Der Widersinn, die Doppeldeutigkeit der Existenz wird sicherlich selten klarer dargebracht.

Man merkt den 12 Gedichten an, dass sie dem Spätwerk eines Lyrikers zuzuordnen sind. Das selbst dort Orte der Hoffnung bleiben, erkennt der Leser hier: „Auf meinen Schultern / trag ich dich / übers Wasser/ Anfangs / spürte ich dich kaum / Das Ufer / rückt ferner / trag du mich jetzt“ (Gedicht „Übers Wasser“, S. 11).

Das Bändchen macht Lust auf mehr. Ich werde mir also sicherlich auch den aktuellen Band „Übergabe“, der 2005 im gleicher Verlag erschien, zulegen.

Weltweitweb, den 10. August 2008

Walther

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