70 Meter

70 Meter

von Manuela Feiler

„Was hast du denn Lisa? Ist dir schlecht?“, flüstert Mareike in mein Ohr.
„Nein, alles okay.“
Ich atme tief durch und zwinge meine Mundwinkel nach oben. Noch vor vier Wochen hätte Mareike mich in den Arm genommen und gesagt: „Hey, das ist kein Lächeln. Was ist denn los?“
Nun gibt sie sich mit der aufgesetzten Fratze zufrieden und läuft zu Kai und Tom, die am Getränkestand Colas holen. Seit zwei Monaten geht Kai in unsere Klasse, und seit eben so langer Zeit ist Mareike in ihn verliebt. Was an und für sich ja nichts Schlimmes ist. Letztes Jahr war sie in Torben verliebt und ich in Max. Stundenlang hatten wir uns ausgemalt, wie es wäre, wenn wir im Doppelpack Händchen haltend durch das Dorf laufen würden. Und wie es sich wohl anfühlen würde, von ihnen geküsst zu werden. Wir haben nie herausgefunden, wie sie küssen, stattdessen ging uns irgendwann auf, was für Angeber sie sind. Und da war die Verliebtheit dann vorbei.

Nach den Osterferien kam Kai in unsere Klasse, und Mareike war sofort hin und weg. Total verknallt. Ich fand das zuerst süß und dann nervig, hatte mir aber gedacht, das würde wieder vorbeigehen. Und dann wäre alles wie vorher.
Und dann, vorgestern, zwei Tage vor den Sommerferien, kam die Einladung von Kai.
In der Pause schlenderte er zu uns.
„Tom und ich gehen am Samstag in den Freizeitpark. Meine Tante arbeitet dort und hat mir vier Freikarten geschenkt. Habt ihr vielleicht Lust mitzugehen?“
„Ja“, quietschte Mareike, bevor ich etwas sagen konnte, und kniff mir so fest in den Arm, dass ich immer noch einen blauen Fleck an der Stelle habe.
„Super“, grinste Kai und schlenderte wieder davon.
Meine Freundin sah ihm versonnen nach, während sich in meiner Magengegend ein mulmiges Gefühl ausbreitete.

„Kommst du? Die Cola wird sonst noch warm.“
Mit diesen Worten reißt Mareike mich aus meinen trüben Gedanken. Ich schlendere zu Kai, Tom und ihr, die inzwischen auf einer Bank neben der Wildwasserbahn sitzen. Kai drückt mir einen Pappbecher mit Cola in die Hand. Wir trinken und reden über die letzte Klassenfahrt. Dann grinst Kai Mareike an.
„Hast du Lust auf eine Fahrt mit der Achterbahn?“
„Ja, klar“, nickt diese.
Ich starre meine Freundin ungläubig an. Seit zwei Jahren gibt es die Achterbahn. Mareike hat Respekt vor der Geschwindigkeit, und ich habe tierische Höhenangst. Deshalb kam eine Fahrt für uns bislang nie infrage.
„Kommt ihr auch mit?“, fragt Kai.
Tom nickt. Ich schlucke. Ich hasse alle Fahrgeschäfte, die aus der Höhe in die Tiefe stürzen. Schon in der Wildwasserbahn wird mir bei der Abfahrt schwindelig. Alles darüber hinaus überschreitet meine Grenzen. Mir wird schon schlecht, wenn ich da nur hochsehe. Freier Fall aus 70 Metern! Hilfe suchend schaue ich Mareike an. Sie kennt meine Angst. Sie ist meine beste Freundin. Wir waren uns einig, nie in diese Bahn zu steigen. Sie wird mich doch jetzt nicht im Stich lassen?

Mareike wendet den Blick ab.
„Na, dann los!“, Kai springt auf und streckt Mareike die Hand hin.
Sie lächelt, als er sie von der Bank hochzieht.  Mir wird schlecht, als ich sehe, dass Kai ihre Hand nicht mehr loslässt. Tom läuft neben den beiden. Ihn scheint es nicht zu stören, dass sein Kumpel die Hand von Mareike hält.
Ich dagegen bin stinksauer. Auf Kai, weil er mir meine Freundin wegnimmt. Auf Mareike, weil ich ihr anscheinend nichts mehr bedeute. Auf Tom, weil ihn die Turtelei nicht stört, und auf mich selbst, weil ich den Anblick der beiden kaum ertragen kann.
Mensch, wir sind 15. Da ist es normal, einen Freund zu haben. Wie lange haben wir darüber geredet, wie es wohl sein wird, wenn der Richtige kommt. Nun ist Mareikes Richtiger hier, und ich verstehe uns beide nicht mehr. Sie ist meine Freundin und müsste mit mir vor der Achterbahn warten, und ich bin ihre beste Freundin und müsste mich über ihr Glück mit Kai freuen.

„Oh Scheiße, ist die Schlange lang“, murrt Tom, als wir bei der Achterbahn ankommen und zeigt auf das Schild mit der Aufschrift „Wartezeit ab hier 30 Minuten“.
„Auch Warten kann schön sein“, grinst Kai und legt seinen rechten Arm um Mareikes Schultern.
„Uhhh, wie romantisch“, feixt Tom und lacht. Er hat gut lachen. Er ist nur mit im Park, weil sein bester Kumpel Alex auf Sprachreise in England ist.
„Lisa, willst du wirklich in die Achterbahn?“, fragt Mareike plötzlich.
„Du bist sie auch noch nie gefahren“, stelle ich klar.
„Nein, bisher nicht“, gibt sie zu und bekommt rote Flecken auf den Wangen. „Aber ich habe keine Probleme mit der Höhe. Also wenn du …“
„Hey, Lisa ist doch kein Weichei“, lacht Tom.
„Schon okay. So hoch ist sie auch wieder nicht“, sage ich.
Nur 70 Meter, füge ich in Gedanken hinzu und bekomme weiche Knie. Trotzdem stelle ich mich zusammen mit den anderen an. Meine Freundin habe ich bereits verloren. Meinen Stolz will ich behalten.

Stück um Stück rücken wir vor. Kai und Tom diskutieren über die Mannschaftsaufstellung im Fußballverein. Kais rechter Arm hängt immer noch über den Schultern meiner Freundin.
Muss das warm sein bei dieser Hitze. Muss Liebe schön sein. Und wie fühlt es sich wohl an, wenn man aus 70 Metern Höhe in die Tiefe fällt?
Um mich von der Achterbahn über mir und meiner verliebten Freundin neben mir abzulenken, mustere ich die Leute vor und hinter uns. Alle sind bester Laune. Manche essen Eis, andere Schokoäpfel.
Bin ich denn die Einzige mit einer Scheißangst vor dieser Bahn?
„Lisa, du musst nicht mit, echt nicht“, sagt Mareike plötzlich.
Tom und Kai unterbrechen ihr Gespräch und starren mich an. Ich merke, wie meine Wangen anfangen zu brennen. Bestimmt bin ich feuerrot im Gesicht. Begreift meine Freundin denn nicht, dass sie alles nur noch schlimmer macht? Wir haben uns immer ohne Worte verstanden, wussten immer, was die andere denkt. Und jetzt das?
„Jetzt halt endlich die Klappe“, fahre ich sie so laut an, dass sich das Pärchen vor uns umdreht.
„Wohl nervös, was?“, fragt der Typ.
„Ging mir beim ersten Mal auch so. Jetzt finde ich es nur noch genial.“
Er grinst mich ermutigend an und wendet sich dann wieder ab.

Mittlerweile sind wir ein ganzes Stück weiter vorne. Meine Hände sind klatschnass, und ich habe Kopfweh. Außerdem ist mir übel. Mareike schaut mich nicht mehr an. Okay, es war nicht gerade toll von mir, sie vor allen blöd anzumachen. Andererseits hätte sie auch anbieten können, mit mir draußen zu warten. So was machen Freundinnen für Freundinnen – bis irgendwelche Kais daherkommen und alles auf den Kopf stellen.
Ob Mareike jemals wieder mit mir verregnete Sonntagnachmittage durchquatschen wird? Ob sie noch Zeit haben wird, mit mir stundenlang zu telefonieren? Über was sollen wir denn jetzt noch reden? Sie hat einen festen Freund. Ich nicht. Von jetzt auf gleich ist sie in einer anderen Welt. In einer Welt, deren Regeln und Gefühle ich nur vom Hörensagen kenne. Düster grüble ich vor mich hin.

„Wir haben es gleich geschafft“, ruft Tom plötzlich und reibt sich die Hände.
„Schon?“
Erschrocken schaue ich auf und sehe, dass wir die letzte Biegung vor dem Einsteigen hinter uns gelassen haben. Vorne kann ich schon die Ordner sehen, die kontrollieren, dass sich jeder anschnallt.
„Komm schon“, mache ich mir Mut.
„So hoch sind 70 Meter auch nicht! Wenn Mareike das packt, dann packst du das auch. Bestimmt ist die Höhenangst nach der Fahrt besiegt.“
„Leute, gleich sind wir dran“, jubelt Kai.
„Ich sag’ euch: Der freie Fall ist das Beste an der Fahrt. Der Erdboden scheint auf einen zuzurasen.“
„Ohne mich“, sagt mein Mund und meine Beine steigen über das Absperrgitter. Während mein Hirn noch versucht zu begreifen, was da geschieht, höre ich mich sagen: „Ich nehme den Bus nach Hause. Viel Spaß noch.“

Und dann laufe ich an den coolen Leuten in der Schlange vorbei. An den Leuten ohne Höhenangst. An den Leuten, die Dinge für selbstverständlich halten, die mir eine Heidenangst einjagen, und die in einer Welt leben, die ich nicht mehr verstehe.

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