Flucht

von Linnéa Schriek

Flucht stellt nicht allein den physischen Akt dar, der zurzeit die Medien beherrscht und von jedermann als Erstes assoziiert wird. Flucht beschreibt weit mehr als da, und muss auch in ihren oft in Vergessenheit geratenen, übersehenen und verkannten seelischen und symbolischen Facetten erkannt werden.

Damals. Ich bin zehn Jahre alt und sollte zur Schule gehen, doch das mache ich bereits seit geraumer Zeit nicht mehr. Ich kann keinen genauen Auslöser definieren, aber was würde das auch ändern? Nichts. Ich gehe nicht zur Schule. Punkt. Es ist, als wäre ein Schalter in meinem Kopf umgelegt worden, vom einen auf den anderen Tag. Es kennt niemand den Grund, niemand bis auf mich. Und doch bin ich nicht fähig, Worte dafür zu finden, mich mitzuteilen, meinem inneren Käfig zu entfliehen. Mein Körper hat sich eigenmächtig einen Weg gesucht, mich von der Welt zu schützen, von allem zu isolieren, mir die Flucht vor der Realität zu ermöglichen. Ich bin wohl schon immer anders als die meisten Kinder gewesen, habe Dinge früher und intensiver wahrgenommen, ähnlich wie ein Spürhund mit seiner feinen Nase, war verträumter und in gewisser Weise auch reifer als der Rest meiner Altersgruppe.

Ich kann nichts tun. Jeder Tag ist ein Kampf, voller Reue, Trauer, Vorwürfen und Selbsthass. Ich weiß, was ich meiner Familie damit antue, die sich doch nur Sorgen macht. Aber ich kann nicht, ich kann nicht, kann nicht. Ich bin so dumm, unnütz. Wie ein Mantra vor mich hersagend wiege ich mich auf dem großen, warmen Bett meines Vaters hin und her und hoffe, dass das alles eines Tages einfach aufhört. Mich verlässt, genauso unerwartet, wie es gekommen ist. Und bis es soweit ist, bleibt mir nur eines: Mich weiter abzukapseln und in mein Inneres zurückzuziehen, bis mein krankes Hirn mir nicht mehr vorgaukelt, meinem Leben um jeden Preis entfliehen zu müssen.

Heute. Es ist alles so anders, und doch hat sich nichts verändert. Im Grunde ist alles nur schlimmer geworden. Die vergangenen acht Jahre haben mich auf erschreckende, nahezu gruselig anmutende Weise gelehrt, die Fähigkeit, andere nicht wissen zu lassen, wie es mir wirklich geht, zu perfektionieren. Tag für Tag, Woche für Woche trage ich meine lächelnde Maske, zeige keinem mein wahres Gesicht. Wer eine Maske trägt, wird in gewisser Weise unverwundbar, kann das Leben zu einem Spiel machen, in eine ganz andere Rolle schlüpfen. Vorsicht aber ist weiterhin geboten, denn auch andere tragen Masken und spielen bloß – wird am Ende überhaupt jemand so gewinnen können?

Die Frage nach der Zukunft drängt sich zunehmend unangenehm auf, greift mit ihren warmen schwitzigen Händen nach mir und zieht mich in eine dunkle Umarmung, welche mich zu ersticken droht. Sie kommt immer näher und scheint doch noch so weit entfernt, dabei lebe ich doch jeden Tag aufs Neue in der Zukunft von gestern. Ich bin doch noch gar nicht bereit, erwachsen zu sein, Verantwortung zu übernehmen, mich meinen Problemen und somit dem Leben zu stellen. Ich will einfach nur rennen, rennen, soweit mich meine Beine tragen, rennen an einen Ort weit, weit weg, wo alles gut ist.

Ich bin schon immer ein Mensch gewesen, der weggelaufen ist. Doch kann man vor dem Leben davonlaufen? Man sollte meinen, es handle sich um eine Unmöglichkeit, ein Paradoxon ohne Sinn und Lösung. Doch wenn das Leben also zu groß, zu angsteinflößend wird, nehme ich einfach eine dieser Pillen und lasse mich ganz fallen, im Techno-Beat des Clubs. Es ist alles so einfach. Und dann noch eine – fange an zu lachen und tanze, lasse alles raus. Spätestens nach der dritten Pille gibt es kein schöneres, kein erfüllteres Leben als das meine. Ich fliege immer höher, höher, höher, nichts und niemand kann mir noch etwas anhaben.
Aber wer hoch fliegt, fällt umso tiefer. Und die Landung ist hart, wie ein Schlag ins Gesicht. Schon ist das Leben wieder scheiße. Nach einem solchen Trip wird man von der Realität mit einer solchen Brutalität wieder eingeholt, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als sich in die Depression zu flüchten.
Die scharfe Klinge der Schere kratzt über meine Oberschenkel und Arme; der erlösende Schmerz löscht für einen Moment lang alles andere aus. Und dennoch ist dies nur einer von unendlich vielen Momenten, aus denen mein Leben besteht. Eine ewige Abfolge von qualvoller Konfrontation und noch schmerzhafteren Versuchen, allem zu entfliehen. Ich denke, dass sich jeder Mensch an einem bestimmten Punkt entscheiden muss: Stelle ich mich, lebe mein Leben, oder laufe ich weiter weg, bis eines Tages der Schnitt am Arm zu tief und die vierte Pille zu viel gewesen sein wird, und die Flucht somit endgültig beendet?

Inzwischen bin ich froh, aufgewacht, im „echten“ Leben angekommen zu sein. Es war viel Arbeit, und auch vor mir liegt noch ein steiniger Weg, den ich zu gehen habe, aber ich weiß, dass ich es schaffen kann, schaffen werde. Ein Neuanfang ist nie einfach, und doch bedeutet er in meinem Fall nichts als Erlösung; furchteinflößend, mein Leben komplett auf den Kopf stellend, trotzdem erlösend. Ein Schritt in ein neueres, besseres Leben, mit Menschen, die jederzeit bereit sind zu helfen, bedingungslos zu lieben und zu unterstützen. Egal, um welche Art von Flucht es sich handelt, physisch oder seelisch, metaphysisch, egal, wodurch der Neuanfang bedingt wird, ein zerstörtes Heim oder eine gebrochene Seele – beides wird erst möglich durch persönliche Stärke, Antrieb und Menschen, die einem mit helfender Hand zur Seite stehen. Dieses Gut, die Menschlichkeit, die Hilfsbereitschaft, sollte niemals in Vergessenheit geraten, sondern weiterverbreitet werden. Denn nur dadurch kann wiederaufstehen, wer am Boden liegt und anderswo keinen Halt findet, nur so wird dieses Leben erst wirklich lebenswert und die Welt ein kleines Bisschen besser.

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