Das Finden eines Buches als Beginn einer Reise ins Unbekannte
Rezension von Ronny Thon
Michal Ajvaz: „Die andere Stadt“. Allee Verlag, München 2025. Hardcover mit Lesebändchen, 203 Seiten, 27,00 EUR (D), ISBN: 978-3-911524-02-5
Michal Ajvaz ist in unseren Gefilden mangels Veröffentlichungen auf Deutsch noch kein großer Name in der Literatur. Bedauerlich, denn der Tscheche verbindet gekonnt Elemente des Surrealismus und des Magischen Realismus mit universellen Denkkonzepten. So entsteht ein ganz eigener Stil, der nicht immer einfach zu lesen ist, aber sich dennoch lohnt.
Nun erscheint im Allee Verlag die deutsche Übersetzung seines gefeierten Romans „Die andere Stadt“ aus dem Jahr 1993. Der erst 2024 gegründete Verlag aus München hat es sich zum Ziel gesetzt, unterrepräsentierte Künstler aus dem Ausland bekannter zu machen. Dafür hat die Verlagsleiterin Veronika Siska selbst den Text gekonnt in die deutsche Sprache übertragen, während der Slawist Tomáš Glanc das lesenswerte Nachwort beisteuerte.
Der 1949 geborene Prosaist und Lyriker Michal Ajvaz sorgte bereits mit seinem Debütroman im Jahr 1989 (bislang nicht auf Deutsch erhältlich) für Aufsehen und etablierte sich als Autor, der sehr fantasievoll vor allem über seine Heimatstadt Prag schreibt. 2005 erhielt er den Jaroslav-Seifert-Preis und 2020 den tschechischen Staatspreis für Literatur. Zusätzlich wirkt er als Philosoph auf dem Gebiet der Arbeiten Jacques Deridas und der Phänomenologie Edmund Hussels.
Die französische Übersetzung von „Die andere Stadt“ wurde 2016 mit dem Preis des Internationalen Science-Fiction Festivals Utopiales Européen ausgezeichnet, wobei dieser Roman ganz eigene Wege einschlägt. Die Phantastik in dieser Geschichte ist schwer zu fassen, denn die Hauptfigur erblickt stets nur Fragmente einer Stadt, die von bizarrer Schönheit geprägt ist und die ihn stets ratlos zurücklässt. Wie den Leser.
Die Geschichte beginnt mit einem Buch. Der namenlose Erzähler stößt in einem Antiquariat auf ein ganz besonderes Exemplar der Literatur, denn dieses ist in einer ihm unbekannten Schrift verfasst. Schließlich kauft er es und versucht, dessen Ursprung zu ergründen. Die Faszination führt ihn zu Gerüchten einer mysteriösen Stadt, aus der das Buch stammen soll. Eine scheinbar ziellos durch das verschneite Prag fahrende Straßenbahn aus grünem Marmor könnte die Verbindung zu ihr sein.
Doch der Erzähler muss lernen, wie schwierig es ist, die Stadt zu finden, wenn er direkt nach ihr sucht. So wandelt er auf einem Pfad aus geflüsterten Gerüchten, in der Stadt verteilten Symbolen und praktisch jedem Fetzen, der ihn ein bisschen weiter in eine Richtung bringt, die von Erkenntnis und Verwirrung sogleich geprägt ist.
„Die andere Stadt“ ist ein außergewöhnlicher Roman. Er ist spannend geschrieben, da man als Leser neugierig auf die fremde Welt gemacht wird. Die verborgene Zivilisation bleibt einem jedoch fremd, da man nur Bruchstücke erlebt, die grotesk und einfach unglaubwürdig verlaufen.
So besucht die Hauptfigur eine nächtliche Vorlesung in einer Universität, wobei er in eine Verfolgungsjagd durch Wiesel gerät. An einer anderen Stelle rettet die Erzählfigur einen fliegenden Rochen. Dabei wird die Suche des Erzählers stets von den Medien dieser ebenfalls namenlos bleibenden Stadt begleitet. Zeitungen berichten über ihn und sein Kampf mit einem Hai wird live im Fernsehen übertragen. Die fremde Stadt als Verbindung zwischen Märchen und Moderne.
Ajvaz ist offensichtlich von Jorge Luis Borges beeinflusst, über dessen Werke er 2003 bereits ein ganzes Buch veröffentlichte. Die Faszination für die Kraft von Büchern, der es vermag, Menschen in bislang ungesehenen Welten zu führen ist beiden gleich. Zusätzlich schöpft der Autor von „Die andere Stadt“ aus der Faszination, die Prag auf viele Menschen ausübt. Von Düsternis, Schönheit und Rätselhaftem ist unser Blick auf diese Stadt geprägt.
Doch in „Die andere Stadt“ befindet sich in ihrer Mitte ein Ort, in dem diese Eigenheiten bis ins Extremste ausgeprägt sind. Imaginäre Städte stellen ein weiteres Thema im Werk von Ajvaz dar. Auch hierüber verfasste er 2006 ein Essay. Doch bleibt lange Zeit offen, wie greifbar und plastisch diese Stadt sein soll. Ihre Realität ist fragil und es scheint, ob ein einzelner Atemzug (oder ein einziger Zweifel) ausreichen könnte, sie einfach hinwegzuwehen.
An einer Stelle des Romans rät ein Tempelwächter dem Erzähler, auf seiner Suche nirgendwohin zu gehen, denn „jede Landschaft ist Anfang und Ende, jede Stadt ist im gleichen Maße Phantasmagorie eines wahnsinnigen Traumes und langweilige Wirklichkeit“. Auf lesenswerte Art und Weise gelingt es dem Autor, dem Leser genau diesen Eindruck zu vermitteln. Es ist wünschenswert, wenn die Veröffentlichung zu weiteren führen würde. Ich jedenfalls bin neugierig, welche weiteren verborgenen Welten im Werk von Michal Ajvaz warten, endlich entdeckt zu werden.

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