Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – Die Kunst der Perspektive

Kluge Hinweise von Mara Laue

5. Mauerschau und Botenbericht

Beide sind eine Sonderform und genau genommen keine eigenständigen Perspektiven. Diese Techniken stammen aus dem Theater. Im Theaterstück können die Zuschauenden das Geschehen auf der Bühne nicht verlassen, und jeder Szenenwechsel erfordert mehrere Minuten Umbau des Bühnenbildes. Außerdem kann man im Theater im Gegensatz zum Film keine Menschenmengen (zum Beispiel ein Heer oder den wütenden Mob) auflaufen lassen (außer bei wirklich großen Bühnen oder Freilichtveranstaltungen).
Wenn dort erforderlich ist, Geschehnisse zu schildern, die sich während der Bühnenhandlung außerhalb des fürs Publikum sichtbaren Raums abspielen, greift man zur sogenannten „Mauerschau“. Man stellt eine der Personen auf der Bühne auf die Mauer des Schlosses, der Stadt oder ans Fenster, lässt sie nach draußen blicken und den Personen im Raum, also auf der Bühne, und somit den Zuschauenden erzählen, was sich draußen gerade abspielt: „Da reitet der König vorbei! Und da ist seine Königin! Oh, sie ist wunderschön. Sie trägt ein Kleid, so rot wie Blut.“ Und wenn im Verlauf des Stückes eine schöne Frau die Bühne betritt in einem Kleid „so rot wie Blut“, wissen die Zuschauenden sofort, dass das die Königin ist, auch wenn sie keine Krone trägt.

Eine Variante ist der Bote, der die Szene betritt und eine wichtige Nachricht bringt („Botenbericht“): „Mein König! Der Feind hat den Fluss überschritten und die Flussdörfer zerstört. Er ist nur noch eine Tagesreise von der Hauptstadt entfernt!“ Im Roman hätten wir das in einer eigenen Szene oder sogar in einem ganzen Kapitel beschreiben können.

Trotzdem können wir auch im Roman den Botenbericht und (seltener) die Mauerschau als Stilmittel anwenden. Da uns beim Roman aber die Möglichkeit des Perspektivwechsels zur Verfügung steht (außer bei der Ich-Perspektive), benutzen wir sie nur für Informationen, die aus einem Satz oder wenigen Sätzen bestehen und deshalb zu kurz für eine eigene Szene sind. In Kurzgeschichten und bei der Ich-Perspektive werden diese beiden Stilmittel wegen der Kürze des Textes häufiger gebraucht.

Für Mauerschauen und Botenberichte stehen uns zwei Varianten zur Verfügung: der Dialog und die Zeitungsnotiz beziehungsweise Nachricht im Radio oder Fernsehen. Eine Person betritt den Schauplatz (oder ruft an) und gibt die entsprechende Information: „Weißt du schon das Neueste? Die Polizei hat Lukas verhaftet. Er soll Bauer Schmidt ein Huhn geklaut haben.“ Oder unsere Figur liest dieselbe Neuigkeit in der Zeitung: „Gestern wurde in Veen Lukas N. verhaftet. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, steht er in dringendem Tatverdacht, bei Bauer S. eingebrochen und ein Huhn gestohlen zu haben.“

Wir verwenden den Botenbericht oder die Mauerschau, um kurze Informationen zu vermitteln, die keine eigene Szene erfordern oder um eine Person über ein Geschehen in Kenntnis zu setzen, das bereits in einer eigenen Szene/einem Kapitel beschrieben wurde, in dem diese Person nicht vorkam. Würden wir das an dieser Stelle in aller Ausführlichkeit wiederholen, wären die Lesenden schnell gelangweilt, da sie die genannten Informationen bereits kennen.

 

6. Du-Perspektive

Der Vollständigkeit halber sei auch die Du-Perspektive erwähnt. In ihr schreibt eine auktorial erzählende Person permanent „du“ und macht die Lesenden dadurch zu Figuren der Handlung.

„Die Landschaft fliegt an dir vorbei mit ihren bizarren Felsformationen. Du glaubst nicht, was für Gebilde die Natur hier geformt hat. ‚Wie Dämonen aus der Hölle’, sagt Henry zu dir. Und du denkst, dass er recht haben könnte.“

Aufgrund der direkten Anrede stehen solche Texte meistens im Präsens. In der normalen personalen Perspektive lautete der Text so:

„Die Landschaft flog vorbei mit ihren bizarren Felsformationen. Man glaubt nicht (alternativ: „Unglaublich“ oder „N.N. staunte“), was für Gebilde die Natur hier geformt hatte. ‚Wie Dämonen aus der Hölle’, sagte Henry. Und er/N.N. dachte, dass er recht haben könnte.“

Wer bis heute nicht gewusst hat, dass es eine Du-Perspektive gibt, weil man noch nie einen Roman oder eine Story mit dieser Perspektive gelesen hat, so ist das kein Wunder. Die Du-Perspektive gilt bei Lesenden wie Verlagen als absolutes Tabu. Lediglich in autobiografischen Texten kommt sie manchmal in einigen Sätzen/Passagen vor.
In Ausschreibungen für Kurzgeschichten sowie auf Verlagswebsites für die Vorgaben zum Einreichen von Manuskripten wird oft schon im Vorfeld erwähnt, dass die Du-Perspektive von Einsendungen ausgeschlossen ist. Sie hat hinsichtlich Spannung dieselben Tücken wie die Ich-Perspektive und die auktoriale Perspektive und verhindert, dass die Lesenden in den Text eintauchen können, weil eine fiktive Figur ihnen alles „vorbetet“. Außerdem missfällt den meisten Lesenden, permanent derart direkt angesprochen zu werden und von einer Romanfigur einen Dauermonolog serviert zu bekommen, der den Lesenden auf den Leib schreibt, was sie angeblich tun, sehen, erleben.

Die Du-Perspektive ist nicht zu verwechseln mit der Ich-Perspektive, bei der die Ich-Figur ab und zu die Lesenden direkt (und mit „Sie“ oder auch „du“) anspricht. Dort werden nur einige wenige Passagen mit der direkten Publikumsansprache eingestreut („Wie das passieren konnte, wollen Sie/willst du wissen? Tja, das frage ich mich bis heute auch.“). Bei der Du-Perspektive werden die Lesenden dagegen ununterbrochen angesprochen und in die Handlung integriert. Sie werden dadurch zur handelnden Figur und die Erzählfigur beschreibt die Beobachtungen dessen, was die Lesenden fiktiv tun. Das sowie das Präsens machen einen solchen Text schwer lesbar. Deshalb sollten man auf die Du-Perspektive in Texten verzichten, die man veröffentlichen will.

In der nächsten Folge:

  • Perspektivbrüche und ihre Folgen

In weiteren Folgen:

  • Anrede und Figurenbenennung
  • Was zu beachten ist

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert