Autoren erfinden neue Sprachen für Ihre Romane und Skripte - (c) Midjourney - prompted by Walther

Sei ein Droog und lies diesen doppelplusgut Text. Qapla‘! – Fiktive Sprachen in der Literatur

Essay von Ronny Thon

Nadsat, Balbuta und Neusprech. Noch nie gehört, werden die meisten Personen sagen, und das auch zu Recht, denn es ist recht unwahrscheinlich, diesen Sprachen im Alltag zu begegnen. Aber man kann sie beim Genuss narrativer Werke wie Literatur und Film lesen und hören und sich somit in ferne Welten flüchten, wo diese heimisch sind.

Das Literatur die Fähigkeit besitzt, fiktive Kulturen für den Leser real und greifbar zu machen, zeigte bereits meisterhaft überspitzt die legendäre Geschichte Tlön, Uqbar, Orbis Tertius von Jorge Luis Borges, in der ein mysteriöser hinzugefügter Lexikonartikel eine ganze Welt erschaffen kann, solange Menschen davon lesen.

Kunstsprachen vermögen es, das Publikum besonders mit fiktiven Welten zu verbinden, seien es Prosa, TV-Serien, Filme oder Videospiele. Je komplexer diese Sprachen aufgebaut sind, desto authentischer wirken sie, und zusätzlich kann der Konsument auch abseits des jeweiligen Mediums mit diesem in Verbindung treten, wenn er einzelne Worte oder gar die gesamte Sprache verwendet.

Darin unterscheiden sich diese Kunstsprachen von Plansprachen wie Esperanto oder Volapük, wachsen nur selten zu viel gesprochenen Sprachen, die über Wörterbücher und grammatischen Regeln verfügen. Zudem gibt es verschiedene Arten von eigenen Sprachen in fiktionalen Medien.

In vielen literarischen Texten treten einzelne dem Leser unbekannte Wörter auf, die in Form von ausgedachten Slangs, Fachsprachen oder ähnlichem verwendet werden. Dabei kann es sich um komplett neue oder um zweckentfremdete Wörter handeln. 1962 schockierte Anthony Burgess mit seiner Romandystopie Clockwork Orange (dt. Uhrwerk Orange) weltweit die Öffentlichkeit. Die Handlung spielt in einer Zukunft, in der Jugendliche den Slang Nadsat verwenden. Dieser enthält vor allem Elemente aus der russischen Sprache und ist auch in der ebenfalls sehr kontroversen Verfilmung benutzt worden. Sehr bekannt ist mittlerweile der Begriff Droog für Freund oder Kumpan. Auch wurde Burgess damals für den rhythmischen Klang von Nadsat von der Kritik sehr gelobt.

In Geschichten aus spekulativen Genres wird man oft mit Fachwörtern konfrontiert, die in der beschriebenen Welt unter den Protagonisten verbreitet sind und deren Gesprächen einen besonderen Ton verleihen.

Im russischsprachigen Roman Piknik na obotschine (dt. Picknick am Wegesrand) aus dem Jahr 1972 von Arkadi und Boris Strugatzki suchen sogenannte Stalker in einem verlassenen Gebiet, Die Zone, verbotenerweise außerirdische Technologie. Doch die Aliens haben gefährliche Anomalien zurückgelassen, die allesamt eigene Namen besitzen. Die Stalker verwenden auch für ihre Ausrüstung und für andere Dinge eigene Worte. So findet man in der deutschen Übersetzung Begriffe wie Sülze oder lustige Gespenster.

Manche Autoren ziehen ihre Leser in den Bann, in dem sie ganze Texte in einer besonderen Sprachform verfassen. Dabei kann es sich um bereits bekannte Dialekte handeln, die um einige Worte und Strukturen erweitert worden. Ken Saro-Wiwa aus Nigeria verwendete für seinen 1985 erschienenen Roman Sozaboy das sogenannte Rotten English. Dabei handelt es sich um eine sogenannte Pidgin-Sprache, also einer vereinfachten Version einer Sprache, die nicht als Muttersprache erlernt wird und meist als Verkehrssprache in ehemaligen Kolonialgebieten verbreitet ist. Im Roman spricht ein Kindersoldat diese Sprache, was den Text von vielen anderen englischsprachigen Romanen Afrikas unterscheidet. Somit wird die kindliche Naivität des Protagonisten hervorgehoben.

Der Israeli Tomer Gardi veröffentlichte in Deutschland bislang zwei Romane, die er ganz bewusst teilweise in einem gebrochenen Deutsch verfasste. Vor allem Eine runde Sache begeisterte 2021 die Kritik und erhielt auch den Preis der Leipziger Buchmesse. Auf jeder Seite befinden sich mehrere Grammatikfehler und Gardi schafft so einen ganz eigenen Stil, der dem Leser das Gefühl vermittelt, welches die israelische Hauptfigur auf seiner Reise durch Deutschland erlebt, nämlich das des Fremdseins. Auch für Campeón Gringo (dt. Gringo Champ) von 2019 verwendete die mexikanische Autorin Aura Xilonen einen eigens für den Roman konstruierten Sprachstil, der Spanisch mit Elementen aus dem Englischem mischt. Die junge Autorin landete damit einen Welterfolg.

Eine weitere Spielart der Kunstsprache besteht darin, im Text eine in der Handlung selbst konstruierte Sprache detailliert zu beschreiben, während der Text an sich in einer gängigen Sprache verfasst ist. Das bekannteste Beispiel aus der Literatur ist sicher Newspeak (in den meisten deutschen Fassungen mit Neusprech übersetzt) aus dem Jahrhundertroman 1984 von George Orwell aus dem Jahr 1949. Im totalitären Staat Ozeanien entwickelt der alles beherrschende Parteiapparat eine neue Sprache, die alle »unnötigen« Wörter ausradieren soll. Als Bonus zum Haupttext liefert der Autor eine kleine Grammatik nach, die kurz zusammengefasst die Besonderheiten von Neusprech erläutert.

So werden Adjektive wie »gut« mit einem »plus« und zusätzlich mit einem »doppelplus« gesteigert oder Begriffe wie »Wahrheitsministerium« zu »Miniwahr« gekürzt. In diesem Fall betont die kreierte Sprache die Brutalität der herrschenden Klasse, die eine Sprache erfindet, der sämtliche Schönheiten und Besonderheiten konsequent genommen wurde.

Ein recht aktuelles Beispiel für eine Kunstsprache innerhalb einer Fiktion ist Balbuta aus dem Roman Sabaki Evropy (dt. Europas Hunde) von Alhierd Bachareviĉ aus Belarus. Sein Werk aus dem Jahr 2017 ist dort mittlerweile verboten und erhielt dieses Jahr den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Der Episodenroman erzählt unter anderem die Geschichte der fiktiven Plansprache Balbuta, die von einem komischen Kauz erfunden wird, eigentlich nur so aus Spaß. Doch dann findet er Mitstreiter, denen er, anfangs widerwillig, die Sprache beibringt, was jedoch zu einem tragischen Ereignis führt. Spätere Episoden spielen in der Zukunft, in der die Sprache eine neue Bedeutung erlangt hat. Die deutsche Fassung enthält ein kleines Grammatik- und Wörterbuch. Vor allem die erste Episode Wir sind leicht wie Papier fesselt den Leser mit den Details der fiktiven Sprache, die ihre Sprecher ins Unglück stürzt.

Besonderen Kultstatus genießen jene Kunstsprachen, die ein regelrechtes Eigenleben entwickeln und von mehreren Menschen mittlerweile flüssig beherrscht wird. Beispiele hierfür sind die Sprache der Elben aus Der Herr der Ringe und die Sprache der Na’vi aus Avatar. Aber bislang nicht zu überbieten ist die Reichweite der klingonischen Sprache. Sie ist international genormt und enthält mittlerweile über 5000 Wörter. Für den dritten Film aus der Star Trek-Reihe entwickelte der Linguist Marc Okrand Mitte der 1980er Jahre die Sprache für die kriegerische Spezies. Bis heute erschienen mehrere Wörterbücher und Texte zur Grammatik und, was vor allem für Literaturfans interessant sein dürfte, auch Übersetzungen von Klassikern wie Hamlet, Alice im Wunderland und Der kleine Prinz. Unter Fans, den sogenannten Trekkies, ist vor allem der Abschiedsgruß Quapla‘ sehr geläufig, den man grob mit Erfolg übersetzen kann.

Als Autor muss man keine eigene Sprache erfinden, um den Leser an die erschaffene Welt zu binden. Aber es ist jedes Mal faszinierend, wenn es geschieht und man zwischen den Zeilen in fremde Grammatiken und Wörtern eintaucht, die durch das eigene Lesen zu Leben erweckt werden. Wie sagte einst Michael Ende: Doch manche Dinge kann man nicht durch nachdenken ergründen, man muss sie erfahren.

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