Schmaler Grat
Ulrike Schäfer, „Schmaler Grat. Erzählungen“, Kröner Edition Klöpfer 2025, ISBN 978-3-520-77305-0, Hardcover, € 22,00
Schmaler Grat ist ein Erzählband, der sich liest wie ein Stück Stoff ohne Saum: nach allen Seiten offen. Die Ränder der Geschichten verweben sich mit der Vergangenheit und der Zukunft, in die Tiefe und an die Oberfläche. Es werden keine klaren Handlungsgrenzen festgelegt. Jede dieser Geschichten könnte auch eher beginnen und später enden, sie könnten breiter sein, aber auch komprimierter. Genauso, wie sich auch Begebenheiten im echten Leben verhalten.
Gerade diese Konturlosigkeit bietet einen besonderen Reiz. Die Texte folgen weniger einer klassischen Dramaturgie, sondern vielmehr einem bestimmten Gefühl, einem inneren Erleben, das sie so intensiv wie möglich erfahrbar machen wollen.
Da ist zum Beispiel ein Ort, der über viele Jahre zum Alltag der Protagonistin gehörte, und dann plötzlich verschwindet – weggesprengt, ausgelöscht. Ein Empfindungsprotokoll, das kein Feuerwerk auslöst, kein Gamechanger ist, aber in der Tiefe eine Erinnerung bewegt. Und genau das macht das Erzählte so bemerkenswert.
Das Ziel dieser Erzählungen ist, die Leser:innen hineinzuziehen in die Allmählichkeit und Unausweichbarkeit emotionaler Prozesse.
Die Kunst der Anti-Pointe
Die Höhepunkte der Geschichten befinden sich nicht im Finale. Dort, wo man eine Pointe, eine Auflösung oder einen Überraschungsmoment erwartet, breitet sich vielmehr Ruhe aus, Akzeptanz, Hingabe. Ein ungewöhnliches Erzählkonzept, das klischeehafte Erwartungshaltungen einfach an sich vorbeiziehen lässt.
Allerdings fordert diese Offenheit der Kanten von den Leser:innen eine gewisse Geduld. Die Texte wirken manchmal wie ausführliche Erzählungen einer Freundin, die etwas zutiefst bewegt hat – man hört gerne zu, freundlich und entspannt, fragt sich aber irgendwann, wie lange es wohl noch dauert, bis alles gesagt, bis alle Last abgefallen ist. Auch dieser Effekt ist gar nicht schlecht. Wir üben wieder das Zuhören und den Respekt vor dem Verarbeitungsprozess des Gegenübers.
Die Andeutungen, das zögerliche Freigeben zentraler Informationen, erzeugen Spannung, wecken aber auch das Gefühl, beim Lesen dauernd das eine verborgene Element, das alles auflöst, im Voraus erraten zu müssen. Und dann kommt es anders, als man dachte. Ein kleines Lehrstück in Geduld- Geduld mit dem Erleben anderer.
Unfertigkeit als erzählerische Entscheidung
Vieles in den Geschichten bleibt ungesagt – oder besser: es wird angedeutet und verlangt von den Leser:innen, die Zwischenräume selbst zu füllen. Dieses Nicht-auf-den-Punkt-Kommen verstärkt den Ausdruck von innerer Not der Erzählenden, einer Überladung an Erinnerungen und Traumata, die sich nicht eindeutig fassen lassen.
Die Autorin bietet keine Erlösung. Sie lässt ihre Figuren – und damit auch die Leser:innen – in den Dilemmata, den inneren Katastrophen, dem Kummer zurück. Eine Transformation, ein kathartischer Moment, bleibt aus. Doch vielleicht ist genau dieses Ausbleiben Teil des „schmalen Grats“, den das Buch beschreitet: Es verweigert sich den üblichen literarischen Erwartungen, und darin liegt seine Konsequenz.
Zwischen literarischer Größe und Naivität
Besonders hervorzuheben ist die Sprache – sie ist sehr schön und angenehm: Präzise, ruhig, reflektiert. Und einige Erzählungen, etwa Agenda, sind schlicht großartig. Aber gerade dort, wo sich große literarische Spannung aufbaut, kippt das Erzählte immer wieder unvermittelt ins Banale. So wie auch im wirklichen Leben das empfundene Drama auf den einfachen Boden der Tatsachen keine Resonanz findet.
Beispielhaft hierfür ist auch eine Corona-Geschichte: Sie beginnt spannend, öffnet einen starken Erfahrungsraum und fällt am Ende fast ins Nichts, als wäre sie irgendwo unvollendet liegen geblieben – nämlich in der Biografie der Protagonistin, von der sie zeitlebens geprägt sein wird.
Gestaltung, die zum Inhalt passt
Das Cover ist angenehm unaufgeregt, besitzt dennoch Spannung, und das gebundene Buch mit dem praktischen Lesebändchen liegt ausgezeichnet in der Hand. Diese Erscheinung korrespondiert mit dem Inhalt: auch die Erzählungen sind unaufgeregt, fokussiert und ruhig – ein eindringliches literarisches Flüstern anstatt eines Ausrufs.
Fazit
Schmaler Grat ist ein Erzählbändchen, dessen Geschichten atmosphärische, fragile Gebilde sind, die mehr andeuten als erklären. Die Herausforderung, die sie stellen, ist zugleich ihr besonderer Wert: Sie fordern Mitdenken, Mitfühlen, Aushalten. Für Leser:innen, die das Offene und Unvollendete als ästhetische Form schätzen, ist dieses Buch ein leises, eigenwilliges Erlebnis.
