Ruinen, wohin das Gefühl reicht

von Dr. Karsten Beuchert

Ich kneife mir in den Arm. Es tut weh. Ergo bin ich wohl wach, und um mich herum nehme ich Realität wahr, wenn nicht gar Wirklichkeit. Andererseits: Ich kneife mir auch in jener Welt immer wieder in den Arm, und es tut auch dort weh. Ist also auch jene Welt Realität oder sogar Wirklichkeit?

Schon vor längerer Zeit habe ich begonnen, luzide zu träumen: Ich fing an, mich in meinen Traumwelten scheinbar genauso frei bewegen zu können wie in meiner „Realität“ — nur, und eigentlich auch dies völlig analog, verlassen konnte ich sie nie aus freien Stücken, sondern nur durch erneutes Einschlafen. Und irgendwann begannen die Unterschiede zu verschwimmen. Inzwischen ist es so: Wenn ich in dieser Welt einschlafe, wache ich „gefühlt“ sofort in jener Welt auf, wenn ich in jener Welt einschlafe, wache ich instantan in dieser auf. Ein ewiger Zyklus von Wachsein, in dem sich mein Körper irgendwie zu erholen scheint, als würde er tatsächlich schlafen — aber nicht mein Verstand, der das Gefühl hat, dauerhaft wach zu sein und aufmerksam sein zu müssen. Und auch nicht meine Emotionalität, die unter überforderter Dauererschöpfung leidet, wo ich sie doch so dringlich bräuchte, um zu einem eindeutigen Wirklichkeitsgefühl zurückzufinden — was sie schon lange nicht mehr leistet.

Gewiss, es gibt rationale Indizien, welche der beiden Welten die „reale“ ist und welche der Traum. In dieser Welt habe ich eine erinnerte Kindheit — in jener nicht. In dieser Welt gibt es eine Kontinuität von Raum und Zeit — wenn ich hier aufwache, ist es der Ort, an dem ich eingeschlafen bin, und es ist einen Tag später. In jener Welt gibt es dies nicht — in jener Welt gibt es nur eine einzige Konstante: Ruinen, wohin das Auge reicht.

Es gibt also tatsächlich Indizien, welche der beiden Welten ich als real annehmen sollte. Allein, fühlen kann ich dies schon lange nicht mehr, und für eine Empfindung von Gewissheit bräuchte ich genau dieses Gefühl. Welches ist also die Realität: Jene Welt, in der es nur Ruinen gibt, oder diese Welt, die in der verzweifelten Anstrengung gefangen ist, sich immer wieder zur Ordnung zu rufen, um nicht ebenfalls zur völligen Ruine zu verfallen? Jene Welt, deren Variationen den Lebenskampf schon lange aufgegeben haben? Oder diese Welt, die noch lebt und darum ringt, weiter zu leben? Oder sind es gar nicht zwei getrennte Welten, sondern Aspekte einer einzigen, in denen ich mich bewege?
Schon häufig habe ich mir überlegt, ob ich mich beim Eintritt in jene Welt in möglichen Zukünften dieser Welt wiederfinde. Wenn ich meine brennenden Augen in einem verwüsteten Rom öffne, das unter der sengenden Sonne einer global erwärmten Welt von einer paneuropäischen Wüste vereinnahmt wird. Wenn ich bitterlich fröstelnd in einem menschenleeren frosterstarrten Berlin aufwache, das ich mir nur dadurch erklären kann, dass vermutlich der Golfstrom zusammengebrochen ist. Und manchmal habe ich das Gefühl, das jene Welt mir immer wieder alternative Möglichkeiten dieser Welt zeigt, die nie eingetreten, nie allgemeingültige Realität geworden sind. Wenn ich nach dem Aufwachen in jener Welt durch völlig zerstörte Städte spaziere, deren gerade noch erkennbare Relikte sie mal als Dresden, mal als London und zuweilen auch als New York ausweisen, während ihr Gesamtzustand mich an die erinnerten Bilder von Hiroshima gemahnt, dann frage ich mich, welche Wendung der Zweite Weltkrieg wohl in jener Welt genommen haben mag.

Das Morbide hat mich schon immer angezogen. Als Kind, also in meiner erinnerten Kindheit in dieser Welt, habe ich Bilder von Autounfällen gesammelt. Kein Wunder also, welche Faszination später Cronenbergs „Crash“ auf mich ausgeübt hat!
Heute sammele ich keine Unfallbilder mehr — obwohl sich meine Faszination, möglicherweise gar Lust an Verfall und Zerfall erhalten hat. Welch eine Faszination sogar an einem grauen Regentag, in Südfrankreich einen Buchsbaumwald zu durchqueren, um den steilen Hügel hinauf zur „Gralsburg“ Montségur zu steigen, oder, historisch weniger bedeutsam, aber als Erlebnis umso eindrücklicher, bei heftigstem Wind die verlassene Kasse zu ignorieren und gerade zu diesem Zeitpunkt die sturmgepeitschten Höhen der Ruine Peyrepertuse zu erklimmen! Aber gleichzeitig: Welch ein Horror, sich auf dem Weg zur Burg Montségur klarzuwerden, dass wir bei diesem touristischen Besuch an dem Ort vorbeikommen, der noch heute als „Prat dels Cremats“ bekannt ist, als das „Feld der Verbrannten“, an dem Ort, an dem der größte Scheiterhaufen der christlichen Geschichte loderte, um die Katharer zu vernichten. Hingegen, welch eine Enttäuschung, beim vorfreudig erwarteten Besuch des Heiligen Urubamba-Tals in Peru und der Ruinen von Machu Picchu kein bisschen morbide Faszination einer untergegangenen Kultur zu spüren, sondern nur: Touristen, und nochmals Touristen. Und welche Ernüchterung, sich klarzumachen, selbst einer zu sein und so am schleichenden Untergang mitzuwirken.

Schon lange sammele ich keine Unfallbilder mehr. Es braucht sie auch nicht mehr für den morbiden Thrill, den ich damals als Heranwachsender in einer scheinstabilen Kinderwelt möglicherweise gesucht und genossen habe — heute, mit den Augen eines mehr oder weniger bewussten Erwachsenen, reicht es, sich auch in dieser Welt einfach umzuschauen.
Und da findet sich beileibe nicht nur Heimeliges wie die künstliche Ruine der Magdalenenklause im Münchner Schlosspark Nymphenburg, oder der Baumkronenpfad, von dem aus man in die Ruinen der Beelitz Heilstätten hineinschauen kann, oder die als Hohkönigsburg bekannte romantisch umgebaute staufische Reichsburg bei Orschwiller im Elsass.
Fährt man durch England, finden sich neben großartigen Abteiruinen auch massenweise säkularisierte und verfallende Kirchen. Fährt man durch Portugal oder Südspanien, finden sich in ähnlicher Fülle Investitionsruinen als Relikte völlig fehlgeleiteter Subventionen. Reist man durch Polen, stößt man möglicherweise in der Nähe der malerischen Masurischen Seen in einem ehemals dichten und nun touristisch erschlossenen Waldgebiet auf die geborstenen Überreste der Bunker der Wolfsschanze, Hitlers Hauptquartier für das Unternehmen Barbarossa — höchst eindrucksvolle Relikte einer Zeit, die es sogar in dieser Welt geschafft hat, größte Teile davon in Schutt und Asche zu legen.
Und wie dies durchaus noch hätte ausgehen können, zeigen mir immer wieder meine Besuche in jener Welt.

„Siehe, das Oberste kommt vom Untersten, und das Unterste vom Obersten“, orakelt schon Hermes Trismegistos. Kriegstraumata, und andere, werden transgenerational weitergegeben. Physical disorder, wie zerbrochene Fenster, und social disorder, wie Obdachlose, bedingen sich gegenseitig, so die Broken-Windows-Theorie. Schaue ich Gruppen von Obdachlosen an, und mehr noch, sofern ich mich traue, schaue ich ihnen in die Augen, oder auch den unzähligen Depressiven, dann sehe ich Ruinen menschlicher Hoffnungen und Potenziale. Und müsste die Rumpffamilie nicht eigentlich Ruinenfamilie genannt werden — zerborstenes Zerrbild menschlicher Obhut?

Selten nur findet sich in dieser Welt Stimmigkeit im Umgang mit dem allgegenwärtigen Verfall — zumeist da, wo dies kein Tabu darstellt, in der Kunst. So zog mit der Ausstellung „Fraktale IV“ und deren Thema „Tod“ explizit das in die Ruine des Berliner Palasts der Republik ein, was ihr implizit bereits innewohnte — weitgehend entkernt und zum Zeitpunkt der Ausstellung bereits zum Abriss freigegeben.
Kunst. Um nicht völlig verrückt zu werden, schreibe ich — Kurzgeschichten, in denen sich autobiografische Besuche von Ruinen dieser Welt mit Szenarien von Apokalypse und Zerstörung abwechseln und verbinden, die jener Welt entlehnt sind.
Mein Besuch der Nekropole von Son Real auf Mallorca scheint nicht nur gemäß Namen, sondern ganz „real“ in dieser Welt stattgefundenen zu haben, ebenso wie die Erforschung der gut erhaltenen Ruine der Weinfabrik in Felanich, deren ungesicherte Bodenlöcher bei Dunkelheit zu gefährlichen Fallen werden können. Auch Hashima, die Inselstadt vor Japan, die verlassen wurde und nun völlig verfällt, nachdem der unterseeische Kohleabbau aufgegeben wurde, scheint dieser Welt zuzugehören, obwohl ich persönlich niemals dort war.
Hingegen, das Gespräch der zwei Dimensionenreisenden, die sich von ihren völlig zerstörten Heimatstädten erzählen, Dresden und London, beruht auf den Bildern, die ich in meinen Wachphasen in jener Welt gesehen habe — von der ich vermute, dass sie mir Alternativen und mögliche Zukünfte dieser Welt vor Augen führt.
Aber meine größte Angst besteht darin, zweimal hintereinander aufzuwachen, und nichts als Ruinen vorzufinden. In jener Welt kann ich sie fast schon genießen, die Ästhetik von Stahlbetonskeletten, die sich in die blauen Himmel überhitzter Atmosphären hinaufrecken, von geborstenen Industriekomplexen, die chemische oder radioaktive oder pathogene Substanzen verströmen, von Hafenstädten mit glorreicher Vergangenheit, aus denen natürlich nicht real, aber atmosphärisch immer noch Klaviermusik erklingt, während sie in den unbarmherzigen Fluten steigender Meere versinken. Das alles kenne ich aus meinen Wanderungen in jener Welt — und all dies hat für mich irgendwann die melancholische Schönheit dessen angenommen, das seinen Tod und Verfall als dionysische Notwendigkeit akzeptiert.
Wovor es mir wirklich graut, wenn ich in dieser Welt wach bin, das sind die Phasen, in denen sich pubertierende Präsidenten gegenseitig mit roten Knöpfen und dahinterliegenden Waffenarsenalen bedrohen, wenn nicht gar in Gesprächen und Stellungnahmen von Experten mit zunehmender Glaubwürdigkeit ein Dritter Weltkrieg beschworen wird, aber auch bereits die Zäume und Mauern, die um Mitgefühl und Mitmenschlichkeit herum errichtet werden — wovor es mir wirklich graut, ist der Gedanke, dass jene Welt auch in diese einsickert, dass ich nach einer Wanderung durch jene Ruinenwelt in dieser Welt aufwache, um auch hier nur Ruinen vorzufinden, nicht nur hier und da, sondern überall.

Ruinen, soweit das Auge reicht.

2 thoughts on “Ruinen, wohin das Gefühl reicht

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert