Pedros Suche nach dem Wissen

von Elisabeth Rosche

Niemand konnte seine vielen Fragen beantworten, seitdem an dieser furchtbaren Epidemie alle Erwachsenen gestorben waren. Früher, vor der Verbreitung des Virus, gab es Lehrer und Bücher oder auch Computer, die Auskunft gaben. Damals erschien dem fünfjährigen Pedro dieser unsichtbare Feind unendlich mächtig und sehr böse zu sein. Woher war er gekommen? „Aus der Hölle, Pedro“, hatte sein Vater, ein Pastor, ihm erklärt, bevor auch er vor dreizehn Jahren gestorben war, und noch hinzugefügt, „dieser Teufel holt uns Sünder, alle und gleichzeitig. Er verschont nur die Kinder.“
Pedro hatte überlebt wie auch sein älterer Bruder Laurenz und alle anderen Dorfbewohner unter sechzehn Jahren. Sein Vater hatte Recht behalten.

Er erinnerte sich noch genau daran, dass ihr Bürgermeister zu Beginn der Epidemie angeordnet hatte, sich mit Proviant zu versorgen und die Straßen zu verbarrikadieren. „Im Internet ist zu lesen, alle Länder gehen so vor, es ist unsere einzige Chance sich zu schützen und zu überleben“, begründete man das Vorgehen.
Trotzdem fand das Virus auch hier seine Opfer. Es lief das Gerücht, die Frau des Bürgermeisters hätte sich heimlich mit ihrem Liebhaber aus dem Nachbardorf getroffen, weil sie als erste erkrankt und verstorben war.

Auf jeden Fall hatten sich alle Dörfer und Städte eingeigelt, hohe Grenzzäune errichtet und auf das Ende dieser furchtbaren Epidemie gewartet. Doch überall hielt der Tod Einzug, wenn nicht durch Ansteckung, dann doch in Folge einer anderen Krankheit oder einfach durch Hunger und Erschöpfung. Nicht zu vergessen die körperlichen und meist tödlichen Auseinandersetzungen zwischen den Einwohnern, oftmals verursacht durch einen gestohlenen Sack Mehl.
Inzwischen bestimmte der praktisch veranlagte Laurenz die Geschicke des Dorfes. Rechtzeitig hatte er sich von den Erkrankten noch Kenntnisse über Fischfang, Schafzucht und Ackerbau angeeignet und mit Lucia, die über Koch-, Näh- und Heilkünste verfügte, eine Gemeinschaft gebildet. Die beiden gaben ihr Wissen an die Bewohner weiter, die Dank der milden Temperaturen, eines Dorfbrunnens und des nahen fischreichen Flusses mittlerweile nicht mehr an Hunger und Durst litten und deshalb Laurenz sehr ergeben waren. Vielleicht überstanden sie die schwierige Anfangszeit auch aufgrund ihrer robusten Natur überraschend gut. Pedro, mit einem grazilen, fast schon zierlichen Knochenbau ausgestattet, beneidete sie darum.

Nur selten verirrten sich Fremde in ihr Dorf. Meistens solche Menschen, die aus ihren bisherigen Orten verjagt worden waren, da sie sich nicht in die Gemeinschaft einfügten. Im letzten Jahr war Matteo gekommen. Lucia hatte sich für ihn eingesetzt, weil er ihr geeignet schien, den Kindern und Jugendlichen des Dorfes das Rechnen, Schreiben und Lesen beizubringen.
Während Pedro dem Unterricht mit großem Interesse folgte und das Wissen wie ein Schwamm einsaugte, trieben die anderen Schüler nur Unfug. Da Matteo es mit dem Eigentum der Dorfbewohner nicht so genau nahm und sich im Übrigen an keine der anderen Dorfregeln hielt, setzte Laurenz ihn nach einer erfolglosen Abmahnung vor die Tür. „Störung unseres Dorffriedens“, wie Laurenz in diesen Fällen streng entschied.

Pedro blickte sich um. Alle Straßen waren aufgerissen und mit Gestrüpp zugewuchert. Wie sollten auch willkommene Besucher zu ihnen ins Dorf gelangen? Es gab keine funktionierenden Autos, Züge oder Flugzeuge, alles mittlerweile Schrott. Zum Höhepunkt der Krise waren die Stromversorgung sowie alle Kommunikationssysteme zusammengebrochen, Verschleißteile konnten nicht mehr nachgeliefert, ganze Anlagen nicht mehr repariert werden. Alle ausgebildeten Techniker und Ingenieure waren innerhalb weniger Wochen erkrankt und kurz darauf gestorben. Ihre Aufzeichnungen inzwischen verbrannt, willkürlich zerstört oder unauffindbar, wie manche berichteten.
Rückblickend erschien es Pedro so, als wenn das Virus gerade diese Experten, die die moderne Welt am Laufen hielten, als erste heimgesucht hatte. Nachwuchs in diesen Berufen war nicht in Sicht, schlicht und einfach nicht vorhanden.

„Ein wenig erinnert mich diese Zeit an die Geschichte vom Turmbau zu Babel “, hatte sein Vater einmal gesagt. „Damals versuchten die Menschen, Türme bis in den Himmel zu errichten und fühlten sich wie Götter. Aber der Herr strafte sie und schickte ihnen eine Sprachverwirrung, so dass niemand mehr den anderen verstand. Die Menschen gingen deshalb ratlos in alle Richtungen auseinander.“

Pedro seufzte. Das Leben vor der Epidemie musste so viel leichter gewesen sein. Es gab damals unendlich viele Möglichkeiten sich zu bewegen, andere Menschen zu treffen. Er hatte damals schon als kleiner Junge den Eindruck gehabt, die Menschen wären zum Teil überfordert gewesen, aus den vielen Alternativen die für sie richtige zu wählen. Wie gern würde er einfach einmal ein anderes Dorf oder vielleicht eine Stadt besuchen und deren Bewohner kennenlernen. Wie schön wäre es, einen seelenverwandten Freund zu finden, ihm seine Wünsche zu gestehen, seine Sehnsüchte zu teilen. Vielleicht könnte man mit anderen Interessierten daran arbeiten, den früheren Zustand wiederherzustellen. Natürlich würde es dauern, aber einen Anfang müsste man wagen.

Das Wissen der jetzt Verstorbenen konnte sich nicht in Luft auflösen. Es durfte einfach nicht wahr sein, dass alle Aufzeichnungen verloren waren. Die Welt war so groß, es hatte viele kluge Leute gegeben. Warum sollten sie diesen Fall nicht auch vorausgedacht haben. Ja, entschied er sich, ich muss hinaus in die Welt. Dieses enge Dorfleben hinter mir lassen. Früh am nächsten Morgen zog er mit einem Messer und etwas Proviant hinaus, immer dicht am Ufer flussabwärts.
Nach drei Tagen erreichte er eine Eisenbahnbrücke auf filigranen Pfeilern, deren linke Seite jedoch jäh abbrach und dann senkrecht wie ein unförmiger Daumen ins Wasser zeigte, während die rechte Seite wie eine Hand mit abgeschnittenen Fingern waagerecht in der Luft endete.

Pedro hatte noch niemals von diesem Bauwerk gehört, das trotz seiner Zerstörung noch immer elegante Züge aufwies. Was mussten das für kluge Architekten und Ingenieure gewesen sein, die eine solche Konstruktion schaffen konnten. Wie gern wäre auch er unter ihnen aufgewachsen, hätte von ihnen gelernt und könnte jetzt selbst Brücken bauen, zumindest jedoch reparieren. Vielleicht lebten noch die Kinder dieser Brückenbauer und hatten ihre Kenntnisse und Fähigkeiten geerbt, so wie sein Bruder das Wissen der Bauern. Er beschloss, auf die andere Flussseite zu wechseln und dankte still seinem Bruder, der ihn das Schwimmen gelehrt hatte.
Der Fluss empfing ihn wie einen alten Bekannten, die Strömung erfasste ihn und nahm ihn mit sich, bis ein Wirbel ihn an die Böschung trieb, wo Pedro sich an einem Strauch festklammerte.
„Du bist ein zarter, aber mutiger Junge“, sagte eine brummige Stimme über ihm. Pedro zog sich hoch. Ein bärtiger grauhaariger Mann rollte soeben seine Angelschnur ein. „Es ist fast so, als hätte ich dich an Land gezogen. Was willst du hier?“
„Du bist alt“, stellte Pedro erstaunt fest. „Ich dachte, alle alten Leute sind gestorben. Ist diese Seite des Flusses von der Epidemie verschont worden?“
„Nein, außer mir sind alle gestorben, aber ich habe einsam in einem Kloster gelebt. Mich hat das Virus nicht gefunden“, antwortete der Alte. „Also, warum bist du hier?“
„Ich will die Brücke dort flussaufwärts wiederinstandsetzen. Dafür brauche ich Kenntnisse, also einen Lehrer. Kannst du mir helfen?“
„Jungchen, auf so einen Unsinn kann nur ein besonders Einfältiger kommen, aber genau diese Menschen sind von Gott gesegnet. Ich nehme dich mit. So habe ich noch eine Aufgabe. Wie heißt du übrigens?“
„Pedro.“
„Petrus, ein Fischer, eigentlich passt der Name eher zu mir. Übrigens ich heiße Simon. Wir bleiben bei der Bibel – wunderbar.“

Dann packte der Alte seine Ausrüstung und den Fang auf einen Karren und marschierte mit überraschend kräftigen Schritten voran, ohne sich nach Pedro umzusehen.
Nach einigen Stunden erreichten sie bei Einbruch der Dunkelheit ein einsam gelegenes uraltes Gemäuer, das von hohen Bäumen umgeben war. „Komm rein“, sagte Simon und öffnete die knarrende Holztür. „Ich hatte früher keinen Komfort, deshalb habe ich Elektrizität oder Wasser aus einer Leitung niemals vermisst, als alles zusammenbrach. Kerzen und Holz gibt es dagegen reichlich.“
Während Simon Kartoffeln mit Speck und Zwiebeln in einer Pfanne auf dem Holzfeuer briet, herrschte Schweigen, auch beim Essen wechselten sie kein Wort. Erst danach sprach Simon ein Dankgebet. Anschließend betrachtete er Pedro mit Wohlwollen und sagte: „Du bist ein ernsthafter junger Mann. Die Epidemie hat dich von einem Kind der Moderne ins Mittelalter zurückgeworfen. Trotz der schwierigen Verhältnisse hast du nicht nur der Verrohung getrotzt, sondern dir sogar den göttlichen Funken erhalten.“
„Was meinst du damit?“, fragte Pedro.
„Nun, dieser Funke steckt in allen Menschen, die meisten erkennen ihn nur nicht, weil sie damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern. Aber du wirst dir die Erde untertan machen, indem du nicht mehr wie im Mittalalter jeden Schritt mühsam tust, sondern du kannst die Schriften unserer Vorfahren mit Hilfe Gleichgesinnter entziffern. Wandere weiter flussabwärts. An der Mündung findest du eine Stadt mit vielen klugen und strebsamen jungen Menschen. Lasst gemeinsam den Fortschritt wieder Einzug halten.“

„Aber wie? Wir brauchen die Aufzeichnungen der Verstorbenen?“
Simon stand auf und öffnete die Tür auf der schmalen Seite des Zimmers. Das, was Pedro zuvor für eine Scheune gehalten hatte, entpuppte sich jetzt als eine riesige Bibliothek. „Mein Nachlass“, sagte Simon. Dann fügte er hinzu: „Ich werde ihn für euch bewahren. Komm bald mit den wissbegierigen Menschen zurück. Hier wird durch eure gemeinsame Arbeit das neue Forschungszentrum entstehen, eine Wiege der neuen modernen Zeit. Versprich mir jedoch, als erstes hier elektrisches Licht zu legen. Meine Augen sind nicht mehr so gut.“

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