31052022 Doppelausschreibung 13_14 Selbstaufgabe_Egozentrik LOGO

Leer gefegt

von Ines Geishauser

Als deine Nachricht kam, hätte ich am liebsten auch abgesagt. Doch ich stand schon mit dem Fahrrad an der Ampel, und Karo, die auf der anderen Seite der Kreuzung wartete, hatte mich entdeckt. Sie trug ein kurzes, enges Kleid und nur ein grob gestricktes Wollcape darüber, obwohl es an dem Abend einen eiskalten Sturm gab.
Ihre Wangen schimmerten rosig im Licht der Straßenlaternen, sie musste zu Hause schon ein oder zwei Gläser getrunken haben. Wir fuhren am Bahnhof vorbei in Richtung Museum. Du weißt, wie eng der Fahrradweg dort ist. Karo drängte sich neben mich, ihr war es egal, dass hinter uns Leute klingelten und sich beschwerten, sie rief Spießer und lachte laut. Wenn du dabei gewesen wärst, hättest du bestimmt etwas zu ihr gesagt. Ich aber schwieg und versuchte, bei allem Gerangel das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Ich war zum ersten Mal bei Nacht im Museum. Die Balustraden hinter den Säulen waren rot beleuchtet, und ich stand einen Moment staunend da. Karo hantierte mit ihrem Fahrradschlüssel und erzählte von einer Veranstaltung, die sie irgendwann einmal besucht hatte.
Es ging um sexuelle Befreiung, und die Besucher konnten farbige Abdrücke ihrer Geschlechtsteile auf Papier drucken. Vielleicht habe ich das auch falsch verstanden, ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Mir fiel ein, dass ich wahrscheinlich noch nie richtig zugehört hatte, wenn Karo redete. Sie hat ja, wie du weißt, diese undeutliche Aussprache, das leichte Nuscheln, und springt immer so hin und her in Zeit und Handlung, dass es schwer ist, ihr zu folgen. Mir fiel auch ein, dass ich an diesem Abend zum ersten Mal allein mit ihr war und mir Mühe geben sollte, sie zu verstehen.

Am Eingang bekamen wir Programme in die Hand gedrückt. Es gab mehrere Führungen durch das Museum, und Karo entschied sofort, dass wir die Transgender-Führung machen sollten. Zuerst brauchte sie aber etwas zu trinken. Wir stellten uns an der Bar an, ich bestellte ein Glas Weißwein, Karo bestellte zwei, die sie sich in ein großes Bierglas umfüllen ließ. Dann wollte sie eine Zigarette rauchen, und wir gingen hinaus auf die Balustrade.
„Wie geht es dir“, fragte ich. Sie erzählte von einer Ohrenentzündung, die sie seit Wochen geplagt hatte, ein besonders hartnäckiges Bakterium, schwierige Behandlung. Immer, wenn man dachte, man sei gesund, fing es wieder von vorne an. On and off.
Dann erzählte sie von Bob, der sich eine neue Elektroorgel gekauft hatte, von welchem Geld auch immer. Die stand nun im Wohnzimmer auf dem Boden, und abends spielte er darauf herum, während er seinen Wein trank. Durch die ungünstige Haltung hatte er sich dann im Nacken einen Nerv eingeklemmt. Seitdem kam er nur noch mit Morphin klar, trank aber weiterhin mindestens eine Flasche Wein am Tag.
„Oft ist er gar nicht mehr ansprechbar. Döst so vor sich hin.“
Sie legte ihren Kopf schräg, ließ den Kiefer fallen und illustrierte so das abwesende Dösen. Sie erzählte von Rocko, dessen Freundin bei ihnen eingezogen war. Ein Adoptivkind aus China, und ihre Eltern hatten sich noch nicht einmal gemeldet. Nicht ein Mal.

„Hört sich anstrengend an“, sagte ich und sah auf die Stadt, die glitzernd unter uns lag, und in den Himmel darüber. Hellgraue Wolken rasten über das Firmament und legten hin und wieder den Vollmond frei. Ich weiß nicht, ob du auch im Vollmond ein Gesicht siehst. Da hat ja jeder so sein Bild. Gewöhnlich sehe ich ein gütiges Frauengesicht mit geschlossenen Augen. Doch an dem Abend sah mich eine hässliche Fratze an, so abstoßend, dass ich wegsehen musste.
„Eine Flasche am Tag, das geht gerade noch. So viel trinke ich auch. Aber wenn es mehr wird, das halte ich nicht aus. Ich habe Bob gesagt, wenn das nicht aufhört, muss er ausziehen. Das wirkt immer. Und er weiß genau, wenn ich ihn rauswerfe, dann ist er verloren. Der schafft es nur, weil er mich hat. Und Dani, der macht gerade eine schwere Zeit durch. Immer wieder rufen sie aus der Schule an, dass er mal wieder jemanden verprügelt hat.“
„Dani? Das war doch immer so ein Sanfter.“

Ich sehe ein Bild von einer unserer Schulfeiern vor mir, Dani auf Karos Schoß, seinen Kinderkopf in ihrem Ausschnitt vergraben.
„Das ist lange her. Von früher ist bei dem nicht mehr viel übrig. Höchstens noch das Übergewicht und der Sprachfehler. Das Nuscheln. Dagegen bekommt er jetzt Antidepressiva, die Ärztin meinte, das könnte vielleicht helfen.“
Wieder hatte ich das Gefühl, sie nicht richtig zu verstehen.
„Neulich hat mich mal wieder sein Lehrer angerufen, da habe ich schon gedacht, jetzt hat er wieder irgendeine Schlägerei angefangen oder so etwas, aber dann hieß es, Dani hätte in der Klasse gesagt, er würde sich bald umbringen.“
„Was?“
„Das war aber anscheinend nur eine bekannte Nebenwirkung des Medikaments. Wenn du mich fragst, ist er einfach mit den falschen Leuten zusammen. Autoaggressiv, aggressiv, depressiv, alle möglichen Diagnosen. Die wandern durch unsere Wohnung wie Zombies, sagen kein Wort. Erwachsene sind für sie die Feinde schlechthin.“

„Ich weiß gar nicht, wie du das aushältst“, sagte ich.
„Das Schlimmste ist das neue Rauchverbot für alle im öffentlichen Dienst. Wenn sie mich beim Rauchen erwischen, wird mir sofort gekündigt.“
„Und, wie schaffst du es?“
„Pflaster, Kaugummi, manchmal erfinde ich was, dass ich plötzlich weg muss wegen eines Notfalls, dann stelle ich mich an eine Tankstelle und rauche.“
„Klingt unwürdig.“
„Was soll ich machen? Sag mal, müssen wir nicht mal rein? Die Führung fängt doch bald an.“
Ich sah auf mein Handy.
„Die haben wir verpasst.“

„Komm“, sagte sie und zog mich am Arm, „wir sehen, ob wir die noch irgendwo finden.“
Ich rannte ihr nach durch das überfüllte Museum. Karo stieß eine Frau an, die ein Weinglas in der Hand trug, doch sie merkte es nicht. Ich sagte Verzeihung und gab der Frau ein Taschentuch. Karo hatte jemanden entdeckt, den sie offenbar kannte, und ich wandte mich ab. Im Foyer trat gerade eine schwedische Hip-Hop-Sängerin auf. Sie tanzte, während sie ihren Text hinausschrie, und jede ihrer Bewegungen war so voller Kraft und Wut, dass ich wie gebannt zusah. Dann war die Vorstellung zu Ende und ich ging im Museum umher. Mir hat schon immer die Sammlung mit der nordischen Malerei am besten gefallen. Bleiche Menschen, die im Winterlicht auf Betten sitzen. Eine junge Schriftstellerin mit blutrotem Halstuch, einen Wachholderzweig in den Händen.
„Da bist du ja.“ Karo fasste mich von hinten an. „Komm, wir gehen noch was trinken.“

Dieses Mal kaufte sie gleich eine ganze Flasche von dem Weißwein. Ich nahm ein Wasser, und wir gingen noch einmal hinaus auf die Balustrade. Während Karo eine Zigarette aus der Tasche nahm und sie sich anzündete, trat Ruhe ein. Die letzten Wolkenfetzen rasten, das hässliche Mondgesicht kam und ging – on and off – und die Stadt zu unseren Füßen glitzerte in der kalten Sturmnacht. Karo nahm den ersten Lungenzug, ließ ihn lange wirken und hob dann im Ausatmen ihr Wollcape an. Ich sah darunter ihr Kleid, die zwei untersten Knöpfe waren aufgegangen.
„Ich habe zugenommen“, sagte sie. „Fühl mal.“
Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre Hüfte. Ich war froh, dass ich wegen der Kälte Handschuhe trug, und nicht so genau spürte, wie sich ihr Bauch unter dem dünnen Stoff anfühlte. Trotzdem war dieser Moment für mich die Überschreitung einer Grenze. Ich fühlte deutlich, dass ich wegmusste.

Du weißt, dass man sich von Karo nicht so einfach verabschieden kann. Wie lang sie bei Festen immer bleibt, wie taub sie ist gegenüber allen Andeutungen, dass wir anderen müde sind. Es kam also so weit, dass ich ging, ohne mich zu verabschieden. Das heißt, ohne dass Karo meinen Gruß hörte. Jedenfalls antwortete sie nicht.
Auf dem Heimweg kämpfte ich gegen den eisigen Wind, der jetzt zum Gegenwind geworden war. Schließlich musste ich absteigen und mein Gesicht abwenden, um Luft zu bekommen. Der Sturm zerrte an meinem Fahrrad, ich umklammerte den Lenker, als sei er das Letzte, was mir blieb. Auf meinen Wangen brannten Tränen. Und über mir, im leer gefegten Himmel, grinste das Mondgesicht.

 

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