In letzter Zeitlupe

von Ronja Traschütz

Der Bahnsteig ist voller Menschen. Fetzen fremder Sprachen, ratternde Koffer und das Flattern unzähliger Tauben mischen sich mit den Gerüchen von Kaffee, Fett und asiatischen Gewürzen. Und ständig muss ich aufpassen, dass Lilu nicht über all die Roboter mit Smartphone vor dem Gesicht stolpert. Gerade hat sich eine Lücke vor ihr aufgetan, und sie hüpft juchzend über die weißen Steinplatten – auf einem Bein, wie um mir zu demonstrieren, dass sie es nun endlich kann. Als ob mir das entgangen wäre.
„Was habe ich über die weißen Steine gesagt?“, frage ich streng.

Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln, kommt aber brav an meine Hand. Gerade rechtzeitig, denn schon kündigt eine mechanische Stimme über uns die Ankunft des Zuges an. Kaum ist sie verklungen, kommt Hektik auf. Als wäre der einfahrende Intercity das einzige Ticket ins Paradies, rennen sich die Menschen über den Haufen, um einen Platz direkt vor einer Tür zu ergattern. Kopfschüttelnd ziehe ich Lilu ein paar Schritte zurück.
Ungeduldig hüpft sie auf und ab, und ich kann ihre Vorfreude verstehen. Irini war für unser beider Geschmack viel zu lange fort. Als ein leuchend orangenes Stoffkleid in der Menge aufblitzt, ist Lilu nicht mehr zu halten. Ich lasse ihre Hand los und beobachte mit stillem Lächeln, wie sie ihrer Patentante in die Arme fliegt. Auch Irini strahlt, doch leise Schatten unter ihren Augen verraten die Wahrheit. Flüsternd erzählen sie mir von der Last, die auf Irinis schmalen Schultern ruht. Dennoch bin ich stolz, dass meine Tochter wenigstens für einige Augenblicke Licht in die dunklen Gedanken bringen kann. Irini hat es verdient.
Während ich langsam auf sie zu gehe, streift meine Erinnerung all die Momente, in denen Irini mich schon vor dem Ertrinken in tiefer Verzweiflung gerettet hat. Für einen Augenblick rücken Angst und Schmerz wieder an den Rand meines Bewusstseins, doch dann klärt sich mein Blick, und ich schließe die beiden Menschen in die Arme, die dafür gesorgt haben, dass ich nicht in meiner Schattenwelt verloren gegangen bin.

„Wie war der Flug?“, frage ich, nehme Irinis überdimensionalen knallpinken Koffer und führe die beiden zum Ausgang.
„Hat alles geklappt, aber dieses Mal war es auch keine griechische Klappermaschine.“
Sie grinst Lilu zu, die immer noch an ihr hängt wie ein Äffchen.
„Und wie geht es dir, Prinzessin?“
Auf dem Weg zum Auto plappert Lilu in einem Regenguss aus Erlebnissen vom Kindergarten und aus Berichten darüber, was sie alles gelernt hat, seit Irini zu ihren Großeltern geflogen ist. Besonders stolz ist sie darauf, dass sie jetzt schon alle Buchstaben schreiben kann. Dabei geht sie noch gar nicht in die Schule.
Irini lächelt in sich hinein, bis ich sie frage, wie es ihren Großeltern geht. Seufzend lässt sie sich auf den Beifahrersitz fallen und berichtet, wie ihre Familie sich nur noch schwer über Wasser halten kann. Wie immer weniger Touristen kommen und nach und nach alles zerfällt.
„Aber ich werde darüber schreiben“, erklärt sie, als wir gerade auf eine Landstraße einbiegen.
„Die Leute darauf aufmerksam machen. Mein Chef hat mir schon das OK gegeben. Wohin fahren wir eigentlich?“, fügt sie hinzu.
„Das ist nicht der Weg nach Hause. Oder seid ihr etwa doch in das kleine Hexenhaus im Wald gezogen? Ich habe immer gedacht, dass es hervorragend zu euch passen würde.“
Über die Schulter zwinkert sie Lilu zu, die sofort loskichert.
„Nein“, prustet sie. „Mama dachte nur, es wäre toll bei dem schönen Wetter ein Picknick zu machen. Das ist nicht so langweilig wie zu Hause.“
„So, so, nicht so langweilig“, murmelt Irini mit einem scharfen Blick auf mich.

Natürlich durchschaut sie mich. Aber ich kenne meine Tochter und weiß, wie gut ihre Ohren sind, wenn sie etwas nicht hören soll. Zu Hause wäre es unmöglich, Irini zu fragen, wie es ihr nach der Trennung geht, ohne dass Lilu alles aufsaugt. Im Wald ist das einfacher. Da vergisst sie beim Spielen alles – sogar interessante Erwachsenengespräche, die sie nichts angehen.
Mit schuldbewusstem Schmunzeln zucke ich die Schultern und lenke den Wagen auf den Waldparkplatz. An diesem Mittwochvormittag warten dort nur zwei andere Autos auf ihre Besitzer. Nachdem es die ganze Nacht geregnet hat, empfängt der Wald uns mit klarer Kühle und den ersten Frühlingsdüften. Und ich stelle genervt fest, dass ich Lilus Gummistiefel vergessen habe.

Während wir uns mit dem Picknickkorb und Decken auf den Weg zu unserem Lieblingsplatz machen, schärfe ich ihr ein, nicht in die Pfützen zu springen. Unser Ziel ist eine Bank am Waldrand, von der aus man einen herrlichen Blick über Felder und Wiesen hat, die heute im Gelb des Löwenzahns erstrahlen. Ganz in der Nähe gibt es einen Waldspielplatz, zu dem ich Lilu als erstes schicke.
„Wir rufen dich dann, wenn das Essen fertig ist“, sage ich noch, doch Lilu ist schon davongesprungen.
Während ich eine Decke auf dem klammen Gras vor der Bank ausbreite und uns beiden Kaffee einschenke, stelle ich Irini nun endlich die Frage, die mich schon die ganze Zeit plagt: Wie sie es verkraftet hat, dass Lars sie praktisch vor die Tür gesetzt hat.
Die Wirkung ist furchteinflößend. Alle Farbe weicht aus Irinis Gesicht und ihre Hände zittern so heftig, dass der Kaffee nach allen Seiten schwappt. Ein verzweifelter Schleier legt sich über ihre Stimme, als sie stockend und ohne mich anzusehen berichtet, wie Lars sie zu Hause erwartet hat: Um ihr sachlich und ohne Umschweife mitzuteilen, dass er seit einigen Monaten eine neue Freundin habe, die in wenigen Wochen bei ihm einziehen würde.
Stumm höre ich zu, hole belegte Brötchen, Cocktailtomaten und Kartoffelsalat aus dem Korb und versuche, die Fassung zu bewahren. Da Irini es keinen Tag länger in der Wohnung aushielt, packte sie ohne zu zögern ihren riesigen Koffer und flog zu ihren Großeltern nach Griechenland. Ich schlucke schwer, als ich mir vorstelle, wie sie versuchte, ihre Gefühle im Griff zu behalten. Aber in dem Elend, das sie dort erwartete, war ihre Welt endgültig zersplittert, und die Scherben hatten sich unbarmherzig in ihre Seele gebohrt.
„Griechenland war immer meine sichere Insel. Dort konnte ich mich vor der Welt schützen“, sagt sie und verteilt Teller auf der Decke. „Aber jetzt habe ich nur noch euch.“
Ihre Stimme ist nur noch ein hohles Krächzen, als sie mich mit aufgerissenen, glasigen Augen ansieht. Ich presse die Lippen zusammen. Ihr Blick ist kaum zu ertragen. Klappernd lasse ich das Besteck fallen und ziehe sie in meine Arme. Ich spüre ihr Schluchzen mehr als dass ich es höre. Ich halte sie so lange, bis das Beben schließlich verebbt.

„Lass uns Lilu holen“, schlage ich vor, als ihr Atem endlich wieder ruhiger geht.
Irini reibt sich die Augen und nickt.
„Lilu“, rufe ich in den Wald hinein.
Keine Antwort.
Ich rufe noch einmal.
Wieder nichts.
Nur die Bäume flüstern leise.
Mit plötzlicher Panik marschiere ich los, Irini dicht auf meinen Fersen. Von Weitem kann ich bereits den Waldspielplatz erkennen, doch von Lilu sehe ich keine Spur.
Meine Schritte beschleunigen sich mit meinem Herzschlag.
„Lilu!“, schreie ich erneut, während die Angst mir die Kehle zuschnürt.
Da entdecke ich plötzlich eine kleine Gestalt, die im Schatten des Klettergerüsts bis zu den Knöcheln in einer riesigen Pfütze kauert.
Eine Woge der Wut durchflutet mich wie eine Sturmwelle, und ich kreische los.
Warum sie im Wasser steht, obwohl ich es ihr doch ausdrücklich verboten habe, warum sie nicht antwortet, wenn ich sie rufe und überhaupt.
Irinis Hand auf meinem Arm spüre ich kaum und höre erst auf zu schreien, als sie ruhig sagt: „Jetzt lass es sie doch erst einmal erklären.“
Vor lauter Schreck hat Lilu den Stein fallen lassen, den sie gerade in der Hand gehalten hat, so dass schmutzige Wasserflecken bis hoch auf ihr T-Shirt gespritzt sind.

„Ich wollte nur der Schnecke helfen“, schluchzt Lilu los.
Irini hockt sich neben sie und legt ihr einen Arm um die Schultern.
„Welcher Schnecke denn?“, fragt sie leise.
Lilu deutet auf einen Stein inmitten der Pfütze, auf dem eine Weinbergschnecke zaghaft ihre Fühler aus dem Häusschen streckt. Lilu hat aus größeren Steinen einen Pfad bis zum rettenden Ufer gebaut – jedenfalls fast, denn den letzten Stein hat sie ja gerade fallen lassen.
„Warum hast du sie nicht einfach genommen und weggetragen?“, frage ich noch ein bisschen benommen.
„Sie hat Angst vor mir“, antwortet Lilu leise. „Als ich sie anfassen wollte, hat sie sich in ihrem Haus versteckt.“
„Also hast du ihr einen Fluchtweg gebaut“, sagt Irini bewundernd.
Lilu nickt, die Augen auf ihre nassen Schuhe gesenkt. Irini und ich tauschen einen langen Blick. Schließlich beuge ich mich vor, hole den letzten Stein aus der Pfütze und halte ihn Lilu hin. Sie nimmt ihn dankbar und springt eifrig los. Sorgfältig platziert sie ihn am Ende ihrer Steinkette.
Für einige Augenblicke regt sich nichts. Dann, ganz, ganz langsam setzt sich die Schnecke in Bewegung. Irini geht zu Lilu und legt ihr die Hände auf die Schultern.
„Jetzt hast du die Welt dieser kleinen Schnecke gerettet“, flüstert sie stolz.

 Und nicht nur die der Schnecke, denke ich mit Blick auf das gelöste Lächeln auf Irinis Gesicht. Feine Sonnenstrahlen blitzen durch das Blätterdach. Sie vertreiben die Schatten unter Irinis Augen und feiern über den Waldboden tanzend die Rettung in Zeitlupe.

 

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