Grenzerfahrungen

von Mark Alcock

Sie konnte die schwarze Suppe nicht sehen, und auch das dumpfe rhythmische Klatschen ging beinahe im Rattern des Motors unter. Es stank nach Benzin und Ruß. Obwohl ihre Kleidung komplett nass war und schwer an ihr herunter hing, stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Kito zitterte in ihren Armen, auch er war klitschnass. Neben ihr standen dicht gedrängt andere, wie sie frierend, zitternd, weinend und hoffend. Eine Welle schlug ihnen entgegen und ließ einen Sprühregen über sie ergehen, der auf ihrer Haut wie kleine Nadelstiche zu spüren war. Der Boden unter ihren Füßen wankte, und eine große, schwere Gestalt stieß gegen sie, so dass sie fast das Gleichgewicht verlor.

Wie lange sie bereits hier fror, wusste sie nicht. Auch nicht, wie weit sie noch fahren mussten. Sie konnte kaum weiter als eine Armlänge blicken. Die Männer hatten auf eine sternenlose Nacht gewartet, ohne Mondschein, ohne Licht. Der Steuermann konnte unmöglich mehr erkennen als sie. Woher wusste er, wohin er lenken musste? Aber wahrscheinlich hatte er diese Arbeit schon oft gemacht. Etwas anderes wollte sie sich nicht vorstellen.

„Mama?“
Kito drehte sich zu ihr um. Selbst in dieser alles verschluckenden Dunkelheit konnte sie die Angst in seinen Augen erahnen.
„Wo werden wir schlafen, wenn wir da sind?“

Sie wusste es nicht. Wusste nicht, wo sie ankommen würden, was sie erwartete, wie sie ihn versorgen würde. Vor allem wusste sie nicht, ob sie überhaupt jemals ankommen würden. In letzter Zeit war ihr außer Hoffen nicht viel geblieben.

Hoffen, dass das Geld, was sie gespart hatte, reichen würde.
Hoffen, dass die Männer, denen sie alles gegeben hatte, was sie besaß, ihr Wort halten würden.
Hoffen, dass Kito von den Dingen, die diese Männer im Camp mit ihr und den anderen Frauen gemacht hatten, nicht alles gesehen hatte.
Hoffen, dass die wenigen alten Stücke Holz und rostigen Metalls diese Masse von Menschen trugen.
Hoffen, dass sie am nächsten Morgen noch am Leben wären.
Hoffen auf ein besseres Leben.
„Wir werden etwas finden“. Ihre Stimme klang brüchiger, als sie es wollte.

* * *

Sie betrachtete den Zettel in ihrer Hand und bemerkte, dass sie zitterte. Es war kalt hier drin, zu kalt. Neben ihr stand Sophie, die aussah, als hätte sie bis jetzt keine Sekunde geschlafen. Auch sie hielt einen Zettel in der Hand, auf den sie mit tief umrandenden Augen blickte.
Hinter ihnen drängten sich weitere Menschen. Die Schlange, in der sie sich befanden, schien nicht abzureißen. Und das um diese Uhrzeit. Sie blickte hinaus in den tiefschwarzen, sternenlosen Himmel und dachte an zu Hause. Wie es wohl ihrer Familie gerade ging?

Die Schlange rückte langsam ein Stück vorwärts, und sie konnte nun einen Blick auf den Schalter vor ihr werfen. Wie Figuren in einem Puppentheater saßen zwei Männer in Uniform in einem Glaskasten und musterten abwechselnd die Bildschirme vor ihnen und diejenigen, die es bis zum Anfang der Schlange geschafft hatten. Neben dem Glaskasten stand breitbeinig und mit seltsam schräg aufsitzender Mütze ein Soldat. Er hielt ein automatisches Gewehr in seinen Händen und blickte finster drein.

Die Schlange bewegte sich wieder. Sie spürte ein Kribbeln auf ihrer Haut, gleich war es soweit. Ein lautes Piepen aus dieser Richtung ließ sie den Blick zu Sophie wenden.

„Ey voll geil, ich hab hier Wi-Fi.“
Sophie kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy, fischte es mit zwei Fingern heraus und fuhr routiniert in einem Zickzack Muster über das Display.
„Bestimmt will der wissen, ob wir schon gelandet sind.“

„Der Nächste bitte!“, rief eine der Figuren im Glaskasten. Sie griff ihre Reisetasche, ging auf den Uniformierten zu und reichte ihm Ausweis und den Zettel.
„Ihr erstes Mal hier?“ Sie nickte. Er betrachtete sie einen Moment und warf dann einen Blick in ihre Papiere.
„Herzlich willkommen!“
Während er dies sagte, ließ er schwungvoll den Stempel auf eine der noch leeren Seiten ihres Ausweises knallen. Sie warf dem Mann am Schalter ein breites Lächeln zu und griff ihre Tasche.
„Der Nächste bitte!“
Sie schritt durch die Schiebetür.

Das war alles so aufregend.

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