Die Opfer eines Helden

Geschichte von Sophie Liebhardt

Das Gewicht der mit Rubinen besetzten Krone lastete schwer auf dem Kopf des bösen Königs, grausamer Herrscher über die Finsternis, während er auf seinem Thron die Ankunft der Helden erwartete. Seine Hände ruhten auf dem Griff seines mächtigen Langschwerts, welches aufrecht auf der Spitze balancierte. Mit geschlossenen Augen lauschte er in die Stille des leeren Thronsaals. Bald schon würde sie von dem Lärm eines Kampfes zerrissen werden.
Noch war es allerdings noch nicht so weit, und so dachte er zurück an jeden der Schritte seines ausgeklügelten Plans, dessen Umsetzung bereits viele Jahre in Anspruch genommen hatte und beinahe vollendet war.

Begonnen hatte alles in seiner fern zurück liegenden Jugend, als er in die Armee eines großen, einflussreichen Königreichs eingetreten war. Mit List und Tücke war er in den Rängen aufgestiegen, bis er zu den engsten Vertrauten des gutmütigen, alten Königs gehört hatte. Nachdem er die ersten Gefolgsleute gefunden hatte, war alles für sein Komplott vorbereitet gewesen. Sobald der alte König gestorben war, hatte er das gesamte Königreich an sich gerissen. Doch das war erst der Anfang gewesen.
Danach hatte er Grauen und Furcht verbreitet. Er hatte hart an seinem Ruf als grausamer Herrscher gearbeitet, bis alle seine Untertanen bereits beim Klang seines Namens erschauderten.Und dann war es an der Zeit gewesen, die Reise der Helden zu beobachten und ihre Schritte im Verborgenen zu lenken. Schon ihren Anfang hatte er selbst herbeigeführt. Nicht einer einzigen Menschenseele hatte er offenbart, dass er einfache Dörfer zu einem einzigen Zweck hatte niederbrennen lassen: Damit sich ein Held erheben würde und auszog, um den bösen König zu bezwingen.
Ein einfacher Bursche aus einer einfachen Bauernfamilie hatte alles verloren und einen Schwur geleistet, andere vor einem solch schrecklichen Schicksal zu bewahren.

Zu Beginn war der junge Held unerfahren und ziellos gewesen. Doch der böse König selbst hatte dafür gesorgt, dass es nirgendwo an helfenden Händen gefehlt hatte. Jedes Mal, wenn der Held in letzter Sekunde vor dunklen Rittern gerettet wurde oder nur knapp fliehen konnte, war geplant gewesen. Hunderte Schnüre hatte der böse König mühselig aufgespannt, um sie im richtigen Moment ziehen zu können.
Der Held hatte sich schweren Prüfungen unterzogen und sein Lohn waren die Rüstung des Lichts und das Schwert der Hoffnung gewesen. Gefährten hatten sich ihm angeschlossen: Ein einfacher Dieb, dem wie durch einen glücklichen Zufall die Flucht aus dem Verlies gelungen war, und eine mächtige Magierin, der wie durch ein Wunder das Leben gerettet wurde. Gemeinsam hatten sie den Menschen geholfen und waren den Schergen des bösen Königs entgegengetreten. Mit Aufopferung und Mut hatten sie nur Gutes getan.
Ein Verdienst, den sie sich selbst erkämpft hatten und der zur gleichen Zeit nur durch den bösen König möglich gewesen war. Er hatte dafür gesorgt, dass sie auf ihrer Reise behütet waren und die Schwierigkeit der Herausforderungen nur langsam anstieg, sodass sie zu keinem Zeitpunkt überfordert waren und wachsen konnten.
Ein weiteres Jahrzehnt hatte diese Reise in Anspruch genommen. Und jetzt näherte sie sich ihrem Ende. Nur noch Eines war geblieben: Bald würden sie ihm gegenübertreten. Im bevorstehenden, glorreichen Kampf würde er alles geben. Sie würden seine gesamte Macht zu spüren bekommen. Und dann würden sie ihn bezwingen.

Seitdem er seinen Plan in seiner Jugend ausgearbeitet hatte, wusste er, dass dies der Moment seines Todes sein würde. Manchmal hatte seine Entschlossenheit gewankt, entweder aus Mitgefühl oder aus Furcht. Doch hatte er sich wieder und wieder von Neuem für diesen Weg entschieden. Er hatte seinen Tod voll und ganz akzeptiert. Er war bereit. Denn es würde nicht bedeutungslos sein.
Alle seine bösen Taten, all die Schuld, die er auf sich geladen hatte, dienten nur einem Zweck: Er musste die Helden auf ein noch viel größeres Übel vorbereiten. Niemand im gesamten Königreich hätte genug Stärke besessen, um sich dem uralten Ungeheuer stellen zu können, das tief auf dem Grund des Drachensees versiegelt worden war. Bald würde es zurückkehren, und der gesamte Kontinent wäre verloren gewesen. Doch jetzt waren die Helden vorbereitet. Der König würde das Schicksal der Welt in ihre Hände legen.
Nur eine Sache war wahrhaft tragisch: Niemand würde jemals von seinem Opfer erfahren. Denn es war von äußerster Wichtigkeit, dass alle Welt ihn für abgrundtief böse hielt. Selbst die Helden mussten glauben, dass er nicht zu retten und sein Tod somit unvermeidbar war. Doch selbst wenn es schmerzte, es war schon in Ordnung so.

Die Türen des Thronsaals schwangen knarrend auf. Der böse König erhob sich. Es war Zeit.