Das Ende der Schachnovelle

Der Schachspieler aus dem Café Odeon

Kurzgeschichte von Alexander Günsberg

Er war schon ein eigenartiger Kauz, dieser in sich gekehrte, hagere kleine Mann mit der hohen Stirn, der direkt anschließenden Halbglatze, die von dünnem, rötlich schimmernden Haar umrahmt war, dem schmalen, fast weißen Gesicht und den ungepflegten Bärten über der Oberlippe und am Kinn, der zwischen 1916 und 1917 oft im Grand Café Odeon in Zürich anzutreffen war. Nur seine Augen konnten einem Angst machen, wenn er, was aber zum Glück nur selten vorkam, von seiner Zeitung oder seinen Schriften aufsah. Wie zwei dunkle Kristalle leuchteten sie durchs Lokal. Dem Aussehen nach konnte man ihn für einen Spanier halten, doch wenn seine Freunde an den Tisch kamen und er mit ihnen hinter vorgehaltener Hand im Flüsterton Russisch sprach, wurde seine wahre Herkunft klar.

Das Odeon war ein Café am Sonnenquai, dem heutigen Limmatquai, Ecke Bellevueplatz. Zusätzlich zum weitläufigen Gästesaal auf Straßenebene gab es im Untergeschoß eine Konditorei und im Obergeschoß einen Raum mit Billardtischen. Zeitungen aus aller Welt, Lexika und Schachspiele lagen zur freien Bedienung auf, Champagner wurde erstmals im Offenausschank serviert und eine Sperrstunde gab es nicht. So war es nicht verwunderlich, dass es seit seiner Eröffnung 1911 das breite Publikum anzog, aber auch zahllose Bohemiens, Literaten, Maler, und Musiker aus dem In- und Ausland, sogar Wissenschaftler von der nicht allzu weit entfernten Universität. Albert Einstein, Stefan Zweig, Else Lasker Schüler, Franz Werfel, Somerset Maugham, Franz Lehar, Arturo Toscanini, Wilhelm Furtwängler, James Joyce und sogar ein gewisser Benito Mussolini waren unter ihnen. Im Odeon wetteiferte Zürich mit Wien, Paris und Berlin um die kulturelle Vormachtstellung.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, durch eine Mauer gegen Überschwemmungen gesichert, entflossen die Wasser der Limmat dem See, der nach der Stadt benannt ist. Hier begann der Sonnenquai. Er bildete das untere Ende des Oberdorfs, des Zürcher Künstlerviertels, etwas weiter Richtung Hauptbahnhof aber auch des Niederdorfs, in dem es nicht um Kunst, sondern um andere Dinge ging, vor allem um die käufliche Illusion der Liebe. Die Grenze zwischen beiden Quartieren bildete die zum Hirschengraben hinaufführende Mühlegasse, die Verlängerung der Uraniabrücke. Diese ersetzte seit 1912 den alten Oberen Mühlesteg und war eine der Verbindungen der beiden Teile der Altstadt zwischen der Bahnhofbrücke im Norden und der Quaibrücke im Süden. Bis 1893, als Zürich zum ersten Mal erweitert wurde, lag links der Limmat die Kleine oder Mindere Stadt, in der sich die 1865 eröffnete Bahnhofstrasse und die alte Fraumünsterkirche mit dem einen, spitz zulaufenden Glockenturm befand, und rechts die Große oder Mehrere Stadt, dessen Wahrzeichen die zwei schmalen, kuppelartig endenden Türme der vom Reformator Ulrich Zwingli her bekannten Großmünsterkirche sind. Auf den Betrachter wirken sie wie hohe, aufgesetzte Kappen.

Jetzt, Anfang 1917, wo sich die Länder an den Schweizer Grenzen im Weltenringen befanden und der Hunger in weiten Teilen des Kontinents Einzug gehalten hatte, war das Odeon viel weniger gut besucht als früher. Aber nicht nur das Odeon stand unter den Wolken, die den Himmel über Europa verdunkelten. Das ganze Leben in Zürich war bescheidener und stiller geworden. Die Geschäfte am Sonnenquai waren oft stundenlang verwaist und man sah  nur noch wenig Menschen die Limmat entlangflanieren. Nur auf dem Bellevue, dem großen Platz, an den das Odeon grenzte, herrschte wegen der Tramhaltestellen immer noch viel Betrieb. Hier trafen sich die Linien, die von Norden her über die steil hinunterführende Rämistraße, von Süden her über die Quaibrücke und von Westen her von der Bellerivestraße kamen.

Der Krieg in Europa hatte sich zu einem Weltenringen entwickelt. Es war der schrecklichste, den es je gegeben hatte. Neu entwickelte Waffen, Panzer, Giftgas und Dynamit brachten Millionen den sinnlosen Tod. Die Mittelmächte, bestehend aus Deutschland, dem technologisch führenden Staat, und seinen Bündnispartnern Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und Bulgarien, standen eine Vielzahl von Gegnern gegenüber. Sie hatten sich in der Entente Cordiale zusammengeschlossen, was die wenigsten in Zürich korrekt aussprechen konnten. Man  nannte sie die Ent-Ente. An ihrer Spitze standen Frankreich, Grossbritannien, Russland, und Italien, das schon im ersten Kriegsjahr die Seiten gewechselt hatte, um seine Gebietsansprüche in Südtirol, Venetien und Triest gegen das ursprünglich verbündet gewesene Österreich durchzusetzen. Die USA hatten die Neutralität erklärt.

Die Menschen in der Schweiz, die ebenfalls neutral war, seit ihr die Großmächte 1815 am Wiener Kongress die immerwährende Neutralität auferlegt hatten, hatten zu Beginn des Krieges an einen raschen Sieg Deutschlands geglaubt, insbesondere nachdem die Deutschen schon in den ersten Kriegstagen die in Ostpreußen eingedrungenen Russen bei Tannenberg und danach bei den Masurischen Seen vernichtend geschlagen hatten. Doch dann konnten die Russen die Front stabilisieren und im Süden sogar Siege gegen Österreich-Ungarn erringen. Im Westen entwickelte sich ein Abnützungskrieg zwischen Deutschland und Frankreich. Für wenige Meter Geländegewinn, der gleich wieder verloren ging, starben die Soldaten auf beiden Seiten zu Hunderttausenden. Damit war der Ausgang des Krieges völlig ungewiss geworden.

Wenn der seltsame Russe im Café Odeon allein am Tisch saß, trank er einen Kaffee nach dem anderen, denn Alkohol  und Zigaretten verschmähte er, und wartete. Dabei machte er ständig irgendwelche Notizen in Hefte, die er mit sich trug. Die Leute, auf die er wartete, waren seine russischen Freunde oder auch ein Schachpartner, von dem ihm die Nationalität egal war. Er musste nur Schach spielen können und nicht viel reden. Lange Gespräche beim Schachspiel waren ihm zuwider. Was die Hefte betraf, so wachte er beinahe pedantisch darüber, dass niemand im Lokal auch nur den kleinsten Blick hineinwarf. Hatte er den Verdacht, jemand könnte ihm über Schulter schauen oder sich sonst für sein Geschriebenes interessieren, so klappte er sie sofort zu und verstaute sie in einer abgewetzten schwarzen Ledertasche, die er zwischen den Beinen unter dem Tisch einklemmte, als gelte es, einen versteckten Schatz zu behüten. Bevor er es jedoch tat, verschloss er die Tasche mit einem Schlüssel, der mit einer langen Kette an seinem Hosenbund befestigt war. Niemand konnte sich erklären, was er so Wichtiges in die Hefte schrieb.

Sobald aber ein Schachspieler das Café betrat, war es um seine Schreibwut geschehen. Dann verschwanden die Hefte wie von selbst in der Tasche, er klappte die hölzerne Schachschatulle auf, die er schon beim Eintreten ins Lokal aus dem Regal geholt und gut sichtbar auf seinem Tisch aufgebaut hatte, damit jeder Anhänger Caissas sie sehen konnte, und begann mit dem Aufstellen der Figuren, ohne viel Worte an den Ankömmling zu verlieren. Dieser setzte sich sogleich zu ihm. Dazu bedurfte es keiner Aufforderung oder Einladung. Die Schachspieler wussten, dass der Russe so versessen auf das Spiel war, dass er sogar seine russischen Freunde dafür warten ließ. Es hieß auch, er sei verheiratet. Seine Frau aber wer mehr in der Zentralbibliothek als im Odeon zu Hause.

Die Schachspieler, es waren nicht viele, höchstens fünf oder sechs, kannten einander und kamen, sooft es ihnen die Zeit erlaubte, meistens nachmittags, manchmal aber auch schon am Vormittag.

Der Russe war ein geübter und talentierter Spieler. Selten verlor er eine Partie. Er war kein Berufsspieler, aber ein respektabler Amateur. Mit den Großmeistern Aljechin, Rubinstein, Tarrasch, Nimzowitsch, Bogoljubow, Vidmar, Janowski, Maroczy, Marshall, Schlechter, Duras, Tartakower, Teichmann, Reti, Grünfeld, dem Weltmeister Lasker oder dem Wunderkind Capablanca hätte er es nicht aufnehmen können, doch reichte seine Spielstärke allemal aus, um als bester Schachspieler des Odeons zu gelten.

Seinen Nachnamen kannte außer seinen russischen Freunden niemand. Man sprach ihn im Odeon nur mit seinem Vornamen Wladimir an. Es ging das Gerücht, er sei ein adeliger Kriegsflüchtling mit abstrusen Ideen, doch Genaues wusste man nicht, nur dass er in der Nähe zur Untermiete wohnte, in der Spiegelgasse. Und er war nicht der Mann, der etwas von sich erzählte, schon gar nicht über seine Heimat. Auch aus den politischen Streitgesprächen und Diskussionen über die Kriegssituation im Odeon hielt er sich heraus.

Legendär wurde seine Schachpartie gegen den Kinderarzt Josef Trachsler, als er in verloren scheinender Stellung beiden Türme opferte und gewann. Das sprach sich herum, sodass extra der Schweizer Schachmeister Moritz Henneberger aus Basel angereist kam, um sich mit dem unbekannten Russen im Odeon zu messen. Er brachte ihm mehrere Niederlagen bei und remisierte nur eine Partie, woraufhin er überall herumerzählte, der Russe im Odeon sei in Wirklichkeit ein sehr mittelmäßiger Spieler. Da er nur wenige Worte mit ihm wechselte, war er zudem davon überzeugt, er wäre ein Dummkopf.

Da, im April 1917, als die USA auf Seiten der Entente cordiale in den Krieg eingetreten waren, war der Russe plötzlich verschwunden. Er kam von einem Tag auf den anderen nicht mehr. Niemand wusste, was mit geschehen war und warum er nicht mehr kam. Die Amateur-Schachspieler, bei denen er immer noch als der Stärkste galt, warteten vergeblich auf ihn. Auch seine russischen Freunde waren weg. Es hieß, dass im Februar der Zar gestürzt und durch eine bürgerliche Regierung ersetzt worden wäre. Mit dem Russen aus dem Odeon schien das aber nichts zu tun zu haben. Er war ja schließlich zu dieser Zeit in der Schweiz gewesen und hatte sich nie für Politik oder den Krieg interessiert.

Vier Monate später, im Oktober, erschien dann jedoch auf der Titelseite der Neuen Zürcher Zeitung das Foto eines gewissen Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte. Es war zu sehen, wie er vor einer großen Fahne – im Text stand, sie wäre rot – eine flammende Rede vor einer unüberschaubaren Menschenmenge hielt, die sich vor dem Kremlpalast in Moskau versammelt hatte, wo die neue russische Regierung tagte. Der Zar war gestürzt worden, worauf die russischen Truppen die Waffen niedergelegt und den Deutschen enorme Geländegewinne ermöglicht hatten. Deswegen war die Regierung von St. Petersburg nach Moskau gezogen. Die Menschen in der Schweiz, auch im Café Odeon, konnten es kaum glauben. Was sie aber noch weniger glauben konnten, war die Identität des Mannes auf dem Foto. «Das ist doch unser Wladimir», meinte einer derer, die ständig politisierten.

Die Nachricht machte die Runde in der Stadt. Der Schachspieler aus dem Odeon hatte die Revolution in Russland ausgelöst! Die Menschen strömten in Massen ins Odeon, das Konterfei des russischen Schachspielers wurde an die Wand geklebt, gemeinsam mit einem angeblich von ihm beschriebenen Zettel. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, wurde ausgestellt und mit dem Schild versehen: ‘Hier saß Lenin’.

Der schrullige Schachspieler aus dem Odeon, den zuvor kaum jemand beachtet hatte, war zu einer Ikone Zürichs geworden. Was daraus werden sollte, konnte niemand wissen, schon gar nicht im Café Odeon.

Dieser Beitrag wurde uns vom Autor dankenswerter kostenlos zur Verfügung gestellt. Er ist dem Band „Das Ende der Schach-Novelle“ entnommen, den man beim Verlag und in der Buchhandlung seines Vertrauens erwerben kann.
Er wird im Rahmen unserer „Fremde Federn“ Initiative vorgestellt, zu der wir Verlage und und Autor*innen herzlich einladen.

Netfinder:

Dieser Beitrag wurde uns vom Autor dankenswerter kostenlos zur Verfügung gestellt. Er ist dem Band „Das Ende der Schach-Novelle“ entnommen, den man erwerben kann. 

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https://www.aber-verlag.com/
Alexander Günsberg, Das Ende der Schachnovelle, Aber Verlag, September 2020, 1. Auflage, Paperback, ca. 200 Seiten,  19,90 Euro/CHF, ISBN 078-3-907299-05-0
Bestellungen: info@aber-verlag.com / Tel.: 0041 79 353 09 00

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