Der Fürst der Elsachstadt

von Julian Binder

Der Anblick, der sich Tertius bot, ließ sein Herz höher schlagen, und die Schmerzen, die ihm die klaffende Wunde auf seiner Stirn bereitete, waren für einen Augenblick vergessen. Mühsam richtete er sich im Sattel auf, um einen besseren Blick auf die gewaltigen Pfostenschlitzmauern zu erhaschen. Endlich war das lang ersehnte Ziel seiner beschwerlichen Reise in Sichtweite. Der Tross näherte sich dem Zangentor auf der Westseite des imposanten Oppidums, zu dem die Elsachstadt, eine Siedlung keltischer Tiguriner auf der vorderen Alb, gehörte.
Vor einer gefühlten Ewigkeit war Tertius, ein römischer Kaufmann, mit seinem Tross von Massilia aufgebrochen, um jenes Versprechen zu erfüllen, welches ihm sein mittlerweile verschiedener Vater auf dessen Totenbett abgerungen hatte: Er sollte in jene Siedlung reisen und den mit den lokalen Fürsten bestehenden Handelsvertrag erfüllen. Es war üblich gewesen, dass die Kelten selbst für die Verschiffung und den Verkauf ihrer Waren sorgten, jedoch war sein Vater, von einigen Landsleuten spöttisch „Barbarenfreund“ genannt, ein neugieriger Abenteurer gewesen, der keltische Siedlungen rechts des Rhenus besucht und beliefert hatte.
Tertius hingegen, den Vorurteilen und Schauergeschichten seiner Landsleute folgend, stand den Kelten eher misstrauisch gegenüber, und es reizte ihn nicht, den Barbaren auf freier Wildbahn zu begegnen. Bis jetzt hatte sich seine Skepsis als berechtigt erwiesen. Nach einer langen Seereise auf der Rhone, dem Rhenus und dem unteren Nicer waren sie endlich im Tal westlich der Elsachstadt an Land gegangen, und waren bald darauf von keltischen Kriegern attackiert und in Eisenketten gelegt worden.
Tertius und seine Männer hatten nicht mit einem Angriff gerechnet, da die Fürsten der Elsachstadt den Fernhandel in dieser Region kontrollierten. Sie verfügten über das Wegerecht, verlangten Wegzoll und boten üblicherweise Geleitschutz und Unterkunft gegen eine Gebühr an. Jene Krieger hatten aber anderes im Sinn gehabt. Als er sich in der Gewalt dieser großen, weißhäutigen und blonden Krieger mit ihren rasierten Wangen und ihren Schnauzbärten wiederfand, fragte er sich lediglich, ob er erschlagen, den Göttern geopfert oder als Sklave gehalten und verkauft werden würde. Ihre bunten Gewänder und ihre wertvollen Schmuckstücke konnten ihn nicht täuschen – sie waren wilde Barbaren. Wie sonst sollte man ein Volk nennen, das die Köpfe besiegter Gegner als Trophäen verwendete und sich das Haar mit Kalk wusch um im Krieg noch furchterregender auszusehen? Eines musste er ihnen aber zugestehen: Sie waren beherzte Krieger und nicht umsonst im ganzen Mittelmeerraum begehrte Söldner.
Tertius wandte seinen Kopf nach links und musterte den Mann, der ihn und seine Männer vor dem Tode bewahrt hatte: Dioderix, einer der Fürsten der Elsachstadt, schien in Gedanken vertieft zu sein.

Dioderix versuchte die jüngsten Ereignisse zu verarbeiten. In den Morgenstunden hatte eine der Patrouillen, die für die Überwachung der Handelswege zuständig waren, ein etwa drei Dutzend Kopf starkes Heer etwa den dritten Teil eines Tagesmarsches nordwestlich des äußeren Befestigungsrings entdeckt, und Alarm geschlagen. In der Tat hatten sie mit dem Eindringen eines fremden Heeres in ihr Hoheitsgebiet nicht gerechnet gehabt.
Durch ihre taktisch hervorragende Position auf einem erhöhten Plateau der Albhochfläche zwischen den beiden angrenzenden Tälern beherrschten die Fürsten der Elsachstadt die wichtigsten Transportwege der Region. Ihre Nachbarn, die Bewohner einer keltischen Siedlung auf dem nördlich gelegenen Berg Tec und einer Siedlung im Osten unweit des angrenzenden Tals, verfügten weder über die Mittel ein solches Heer aufzustellen, noch hätten sie es gewagt, das Wegerecht der Elsachstadt in Frage zu stellen.
Wer also waren diese Krieger? Woher waren sie gekommen, und was hatten sie im Sinn? Viel wichtiger war allerdings die Frage, wo die Männer seines Vetters gewesen waren, die für die Bewachung dieses Abschnitts zuständig waren. Schnellstmöglich hatten die Fürsten ihr Gefolge zusammengetrommelt und ein wehrfähiges Heer aufgestellt. In weißer Voraussicht hatte Dioderix Cernunniacus, den ältesten und erfahrensten Druiden der Siedlung, gebeten, sich dem Heer anzuschließen.
Die keltischen Druiden verfügten nicht nur über außergewöhnliche astronomische und medizinische Kenntnisse und waren Mittler zwischen den Menschen und den Göttern, sondern traten auch als Schlichter zwischenmenschlicher Dispute auf.
Als sich der Heereszug unter dem Dröhnen der Kriegstrompeten den Fremden näherte, meldete ein Späher, dass die Feinde einen römischen Handelstross auf der Straße überfallen hatten. Dann war alles schnell gegangen. Aus beiden Heeren hatten sich die einflussreichsten Krieger gelöst und unter Vermittlung des Druiden Cernunniacus über das Schicksal der römischen Händler und deren Waren verhandelt. Die Fremden sprachen dieselbe Sprache wie die Tiguriner und waren ihnen auch in Erscheinung und Bewaffnung sehr ähnlich. Sie gaben an, aus einem Landstrich einige Tagesmärsche westlich zu stammen, und behaupteten, als Söldner durch die Lande zu ziehen.
Sie waren nicht dazu bereit, ihre reiche Beute abzutreten und verteidigten die Verletzung des Wegerechts mit der Begründung, dass, wer nicht im Stande sei, sein Land zu schützen, auch nicht Herr darüber sei. Schließlich akzeptierten beide Seiten den Vorschlag des Druiden: Die Götter selbst sollten in einem Zweikampf der beiden stärksten Krieger ein Urteil fällen. So würde ein großes Blutvergießen verhindert und eine Entscheidung herbeigeführt werden.

Was darauf folgte war der härteste Kampf, den Dioderix bisher hatte ausfechten müssen. Mutig forderte er den Anführer des feindlichen Heeres, ebenfalls ein Fürst, zum Zweikampf heraus. Obwohl er ein herausragender Krieger war und gewohnt, sich im Kampfe zu behaupten, schienen die Chancen doch eher gegen ihn zu stehen. Sein Gegner war der beeindruckendste Krieger, den er bis dato erblickt hatte. Er überragte den groß gewachsenen Dioderix um mehr als eine Hauptlänge und seine Oberarme waren so kräftig, dass ein Krieger aus seinem Gefolge prahlte, sein Fürst habe einst einen wilden Eber mit bloßen Händen erlegt.
Seine Schwerthiebe waren so gewaltig, dass Dioderix seine ganze Wendigkeit und Agilität aufbringen musste, um schließlich als Sieger aus dem Todeskampf hervorzugehen. Im entscheidenden Moment war er einem Angriff seines Widersachers geschickt ausgewichen und hatte mit einer blitzschnellen Konterattacke sein Schwert in den ungeschützten Rücken des Angreifers gebohrt. Bevor Dioderix ihm den Gnadenstoß verpasst hatte, war es ihm gelungen, seinem Gegner den Grund für dessen Aufenthalt im  fremden Machtgebiet zu entlocken.
Mit letzter Kraft hatte der dahinscheidende Krieger leise und mit zitternder Stimme folgende Worte in Dioderix’ Ohr  geflüstert: „Mallorix, mein Herr. Er bezahlte uns für diesen Überfall.“

Mittlerweile hatten sie einige der Felder im Inneren des Oppidums passiert und näherten sich dem Tor zur Elsachstadt. Dioderix konnte es nicht glauben: Sein Vetter hatte ihn verraten. Auf solch eine feige und hinterlistige Herausforderung konnte es nur eine Antwort geben: Vergeltung. Jedoch würde er damit bis zum Ende des Aufenthalts des römischen Händlers warten müssen.
In der Zwischenzeit empfahl es sich, sich Mallorix gegenüber nichts anmerken zu lassen.

Einige Tage später sah sich Tertius schweren Herzens dazu gezwungen, die Elsachstadt zu verlassen und sich auf die Rückreise zu machen. Die letzten Tage hatten seine Einstellung den Tigurinern gegenüber von Grund auf verändert. Als Sohn des geschätzten Titus Sergius Tullius war  er mit allen Ehren von den Aristokraten der Siedlung empfangen worden. Noch immer überwältigt von den zahlreichen Eindrücken der letzten Tage, zog er folgendes Fazit: Diese Männer waren keine armen, ungelernten Bauern oder ungebildete Wilde.
Die Gelehrten der Tiguriner, die sie Druiden nannten, konnten nicht nur heilende Salben aus Kräutern herstellen und Vergiftungen behandeln, sie standen auch den römischen Philosophen und Astronomen in nichts nach. Die Schmiede der Siedlung waren Meister ihres Handwerks. Noch nie zuvor hatte er solch prachtvollen Schmuck, solch wunderschöne Fibeln, aber auch solch tödliche Klingen erblickt. Das war jedoch nicht alles, auch die herrlich bunten Ringperlen aus Rohglas, der bemerkenswert hohe Ertrag an Feldfrüchten und Getreide, die Herstellung eigener Münzen und selbst die gewaltigen Wehrmauern, die intelligent an die natürliche Umgebung des Oppidums angepasst waren, beeindruckten ihn schwer. Nun begriff er, was seinen Vater so an diesem Volk fasziniert hatte.
Die mitgebrachten Weinamphoren hatten im Tausch gegen Felle, Textilien, Schmuck, Wolle, Harz, Honig, Flachs, Käse, Pökelfleisch und vieles mehr den Besitzer gewechselt. Nach dem gegenseitigen Austausch von Geschenken und Höflichkeiten hatte er mit dem Fürsten Dioderix einen neuen Handelsvertrag abgeschlossen, und dieser hatte ihnen Geleitschutz bis zum Verladungspunkt am Fluss Nicer versprochen.

Mit leisen aber bestimmten Schritten näherten sie sich langsam der tief im dunklen Wald liegenden Hütte. Der wolkenbehangene Nachthimmel und die dicht bewachsenen Baumkronen schützten sie vor dem verräterischen Mondlicht und deckten ihren Vorstoß. Nachdem die beiden Wachen ausgeschaltet waren, hatten Dioderix und seine Männer leichtes Spiel. Sie umrundeten die Jagdhütte und entzündeten das Reetdach mit den mitgebrachten Fackeln. Für die verzweifelt schreienden Insassen gab es kein Entkommen – die Eingangstür war zuvor verbarrikadiert worden.
Zufrieden betrachtete Dioderix sein Werk. Dies würde allen Verrätern eine Lehre sein. Nicht nur hatte ihm sein Vetter hinterlistig nach dem Leben getrachtet und ihn herausgefordert, nein, vielmehr noch hatte er die Handelsbeziehungen des ganzen Clans gefährdet und seine eigenen Ambitionen über das Wohl der Sippe gestellt. Mallorix hatte ihm keine Wahl gelassen.

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