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Das sind nicht meine Schuhe

Geschichte von Julia Ariane

Das sind nicht meine Schuhe, N., sagte O.. Das ist auch nicht mein Mantel, das weißt du schon, oder?
N. seufzt. Natürlich sind das nicht seine Schuhe. Das sind Damenschuhe in Größe 39, eigentlich haben sie ihrer Mutter gehört, aber nachdem O. die Zehen im Lager abgefroren sind (besser gesagt, er sie sich mit einer Axt abgehackt hatte, nachdem sie blau geworden waren und er Angst vor einer Infektion hatte), passten sie ihm besser als seine eigenen. Das war auch nicht sein Mantel, das stimmte auch. Aber seinen eigenen Mantel, aus gelbem Leder, hatte sie auf dem Markt für Brot und Zucker eingetauscht (der ihr sofort geklaut worden war, aber was will man machen).
Der Mantel aus roter Wolle hatte auch ihrer Mutter gehört (Gott hab sie selig), und saß sicher nicht perfekt, aber besser als nichts. Wie lange müssen wir noch hierbleiben?, fragte O. weiter. Ich weiß es nicht, sagte N., und diesmal sagte sie die Wahrheit. O. war einmal ein großer Dichter gewesen, ganze Bände füllten seine Verse, aber er hatte die falschen Zeilen gegen die falschen Leute geschrieben und war in Ungnade verfallen. In Ungnade verfallen hieß in diesem Land Arbeitslager. Wenn man Glück hatte. Und nicht gleich vor Ort erschossen wurde.
N., seine Frau, hätte nie gedacht, dass er das durchgestanden hätte, so dünn und zerbrechlich, wie er von Natur aus war. Aber er hatte es, und zu ihrer aller Verwunderung kam er nach fünf Jahren durch die Tür spaziert, blass, bis auf die Knochen abgemagert und nur noch mit Lumpen bekleidet, setzte sich an den Tisch und fragte, was es zum Essen geben würde. Sie waren alle sprachlos vor Freude gewesen. Ihn wiederzusehen, lebend! Solche Wunder geschehen nur selten.

Erst nach und nach hatte N. gemerkt, dass ihr Mann nicht nur Haare und Kleider im Lager gelassen hatte. Es war, als hätte er sich in seine eigene Welt zurückgezogen. Er sprach wenig, und schien sich an nichts zu erinnern. Manche Sachen erklärte sie ihm jeden Tag aufs Neue, und doch schien er sie nicht wahrhaben zu wollen.
Wo sind wir? In der Steppe, weißt du, wir können nicht mehr zurück in die große Stadt. Warum sind wir hier? Weil sie dich immer noch bestrafen wollen, O.. Wo ist deine Mutter, die doch sonst bei uns gewohnt hat? Sie ist gestorben, mein Lieber, es war ihr Herz, haben sie mir gesagt. Wieso singst du nicht mehr, N.? Weil ich müde bin und das Leben hier draußen hart ist und wir nichts zu essen haben. Jeden Tag dieselben Fragen. Jeden Tag dieselben Antworten.
N. ließ ihren Mann, der ihr nun manchmal wie ein Kleinkind vorkam, in der Hütte sitzen und trat vor die Tür. Die Sonne ging gerade blutrot hinter den Hügeln unter und tauchte alles in ein rosenfarbenes Licht. Weiter unten stieg Rauch aus den Schornsteinen des Dorfes auf. Die Schafe blökten. Das niedrige Gras war schon feucht. Sie schlang die Arme um ihren Körper und dachte an etwas, das sie vor vielen Jahren einmal gelesen hatte, in einem anderen Leben, in der großen Stadt, als ihre einzigen Sorgen die falschen oder richtigen Kleider, Bücher und Wochenendausflüge waren: Solange es Venedig gibt, gibt es Schönheit in der Welt und solange gibt es Hoffnung.

Sie fragte sich, ob Venedig noch da war, oder ob es schon untergegangen war. Dann trat sie zurück ins Haus, Holz nachlegen und nach dem Feuer sehen.

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