Berichte von der Insel – 7. Um den Leuchtturm herum

Eine Prosaminiatur von Walther

Wenn man aus dem Haupthaus der Fachklinik Borkum sich zweimal nach rechts wendet, sieht man den sog. „Neuen Leuchtturm“ bereits in aller Schönheit vor sich. Es bedarf ca. dreier Minuten flotten Gehens, und man steht vor dem Turm, der mit roten Klinkern versehen ist. Eigentlich ist genau da der zentrale Platz in Borkum-Stadt. Auch wenn das natürlich nicht ganz stimmt, aber dort steht die markanteste Landmarke, die einen bei seinen Erkundungen des Westteils der Insel immer begleitet.
Es gäbe noch den Inselbahnbahnhofsplatz und den Ministadtpark. Das wäre es aber auch schon fast.
Den Leuchtturm kann man übrigens komplett umlaufen. Gerne auch mehrfach. Obgleich einmal für den Anfang reicht. So toll ist der Platz nun auch wieder nicht, wenn man ihn sich kurz ohne Leuchtturm vorstellt.
Er, der Turm, steht auf einer etwas erhobenen Grünfläche, die von einer immergrünen Hecke umsäumt ist. Die Grasfläche ist ebenfalls mit zahllosen Löchern von Karnickelbauten übersät, die sicherlich jede Grünfläche der Insel in eine Art „Rübenacker“ verwandeln. Man könnte meinen, es gibt mehr von diesen Löchern als Löwenzahn per Quadratmeter. Die Borkumer finden das weniger lustig, haben sich aber damit abgefunden, dass gegen den Fortpflanzungsdrang und die Gewitztheit der hoppelnden Nager kein Kraut gewachsen ist, dass sie nicht einfach genüsslich wegfuttern, um danach eine Runde rammeln zu gehen.
Zur Karnickeldichte hatten wir bereits ein paar Gedanken verschwendet.
Von beiden zwei Seiten kann man zum Turm hinaufgehen. Die Tür ist der Meeresseite zugewandt. Schwindelfreie und Mutige mit guten Kniegelenken und langem Atem können ihn zu bestimmten Zeiten auch besteigen. Die Aussicht soll atemberaubend sein. Der Autor gehört nicht zur beschriebenen Ausführung des homo sapiens sapiens – er hat lieber festen Boden unter den Füßen, was daran liegen mag, dass er schon genug Abenteuer und Hochrisiko in seinem ganz normalen Alltag und daher diesen Adrenalinkick nicht auch noch nötig hat – sagt er sich, um von seiner Höhenangst abzulenken.
Im Übrigen muss man heute schließlich einen auf moralischer und besser machen als andere. Das braucht der Mensch einfach. Sonst fühlt er sich nicht wohl und hätte nichts zum Ausstellen auf Instagram und Facebook.
Bräuchte er eigentlich nicht. Social Media sind nicht system- sondern allenfalls ego- und selbstbeweihräucherungsrelevant. Aber einerlei.
Die Kniegelenke und die Beinmuskulatur des Autors sind in diesem Fall also in der Tat nicht der Hinderungsgrund. Hat er andernorts getestet. Genug des Selbstlobs.

Bei jedem Spaziergang während der dreiwöchigen Rehamaßnahme, früher nannte man das schnöde und kürzer „Kur“, diente dieser Turm, dem sich inselseitig weitere zugesellen, insgesamt sind es deren mindestens zehn – neben den hinzuzurechnenden Funkmasten –, als Land- und Wegmarke. Ich habe ihn als Running Gag in alle WhatsApp-Berichte an die daheimgebliebene Dame des Herzens eingebaut und ihn so in unzähligen Perspektiven fotografisch festgehalten. Bemerkenswert ist – neben den drei Kirchtürmen – zusätzlich der alte Leuchtturm, in dessen Fuß ein Teil des Dorfmuseums befindet. Er gründet auf dem ersten Kirchplatz der Insel und dokumentiert deren erste nachgewiesene Besiedlung im frühen Mittelalter (ca. 13. Jahrhundert). Nun gut, der Wasserturm ist ebenfalls imposant. Dazu mehr weiter unten.
Das eigentliche Dorfmuseums ist in einer Kapitänskate untergebracht und sehenswert. Eine Kapitänskate ist ein durchaus eindrucksvolles Haus, Walfangkapitäne waren in der Regel keine wirklich armen Leute. Im Museum gibt es ganze Familienstammbäume von Walfängern und Kapitänen zu betrachten. Die Borkumer waren früher tatsächlich meistens Fischer, Walfänger und gelegentlich auch Seeräuber gewesen. Heute wird das Geld im Wesentlichen mit Rehabilitation und Tourismus verdient. Fast die alle Straßenblocks zur Nordsee hin sind und machen in Borkum-Stadt nichts anderes als Reha, meist für Lungenpatienten oder für Allergiker, und eben Mutter-Kind-Kuren.
Erwähnenswert ist ebenfalls der prominente Wasserturm, der den erforderlichen Wasserdruck bereitstellt. Das Wasser auf der Insel stammt wegen der Touristenmassen im Sommer nicht komplett von der Insel selbst und schmeckt wegen seiner Bestandteile an echtem Inselwasser leicht moorig. Es hat deshalb sogar eine leicht bräunliche Färbung, was nicht an den Leitungen, sondern am Bestandteil an Inselquellwasser liegt, das in moorigen Gegenden gesammelt wird.
Daneben gibt es besagte drei Kirchen mit den obligaten Kirchtürmen, von denen man den einen oder anderen ebenfalls besteigen kann. Doch damit nicht alles: Es gibt auch eine Menge an Funkmasten, teilweise mit Radar, teilweise ohne. Und natürlich die obligaten Wetterstationen. Und die braucht man auch.
Der eine oder andere kleinere Wintersturm während der Kur hat mir einem einen Eindruck davon gegeben, wie es aussehen kann, wenn mal richtig etwas geboten ist. Diejenigen Rehapatienten, die die Woche früher gekommen sind, mussten einen Tag an der Küste übernachten, weil die Fähre den kleinen Borkumer Hafen nicht anfahren konnte.
Der Winddruck auf Gebäude und Fenster ist wirklich gigantisch. Die Scheiben beben regelrecht in den Fassungen. Winddichtigkeit ist in solchen Fällen ein schöner Traum. Der Regenschirm wird bei einem solchen Wetter zu einem ziemlichen sinnfreien Utensil. Beim Laufen am Strand hat man das Gefühl, man kann nicht in Windrichtung umfallen. Krass das, ehrlich gesagt. Das muss man ausprobiert haben.

An einem Abend bin ich den langen Weg über den Strand zurückgelaufen. In der Dämmerung konnte man den Lichtstrahl des Leuchtturms über den Himmel tasten sehen – das war natürlich eine Einbildung, aber es kam einem schon so vor. In Wirklichkeit ist der Lichtstrahl auf der Erde wegen der Krümmung unseres Planeten bereits nach ca. 30 km nicht mehr zu sehen – und wegen der Lichtschwäche wohl auch nicht aus dem All erkennbar. Vielleicht sollte man diese Frage an Astro-Alex stellen; er ist nur gerade nicht auf der ISS und wird daher von dort aus beim Überflug kaum nachprüfen können, ob oder ob nicht.
Als ich draußen im zunehmenden Dunkel am Strand der Brandung entlang marschierte, machte ich mir dennoch Gedanken, wie es denn wäre, wenn Außerirdische vom Strahl des Leuchtturms aufgeweckt würden. Ich stellte mir vor, sie würden in einem Traumschiff durch das All schippern und uns träumen – bis der Lichtstrahl sie an der Nase oder an den Augenlidern kitzelte. Ob das Raumschiff wackelte, wenn der oder die Außerirdische kräftig nieste und die Erde gleich mit?
Der Lichtstrahl leckte die tiefstehende Wolkenunterseite und wühlte sich erfolgreich durch Hochnebelschwaden hindurch. Dabei schien es um den Strahl herum ein wenig zu glitzern. Der Zeitraum Ende Januar ließ es nicht verwunderlich erscheinen, dass einige müde Schneeflocken herumtaumelten, wenn der auflandige Wind gerade einmal beschloss, Pause zu machen. Dass tat er in dem Moment freundlicherweise, als ich das Smartphone aus dem extra für diese Inselaufenthalt erworbenen winter- und windtauglichen Anorak herausfummelte. Dieser war wirklich winddicht, wog aber dafür einige Kilos und konnte beinahe ganz allein stehen wegen der Steifigkeit, die ihm die eingearbeiteten Polster zur Abweisung von Wind und Wetter gaben.
Als ich die Kamera aktiviert hatte, war der Lichtstrahl gerade über den Himmel gehuscht. Das Foto vom Gesamtpanorama der Strandpromenade und der sich dahinter erhebenden Häuserfronten mit ihren beleuchteten Eingangsportalen und den teilweise erhellten Fensterhöhlen ergab auch so ein beeindruckendes Ergebnis. Jedenfalls verpasste ich beim Abspeichern den Lichtstrahl erneut, konnte aber letztlich doch endlich die Videofunktion mit den von der Kälte klammen Fingern aktivieren. Der Wind war wieder aufgekommen, und es zog gewaltig. Sogar die recht engen Jeanshosen flatterten um die Beine.
Ich habe schließlich zwei oder drei Zyklen aufgenommen, in der der Lichtstrahl des Leuchtturms gemächlich über den Himmel tastete und den Schiffen in der Dunkelheit ein Signal gab. Das Smartphone verschwand wieder in der Windjackentasche. Die Handschuhe wurden herausgefischt und übergestreift. Anschließend ging ich entschlossen und zufrieden in Richtung Fachklinik, weiterhin die asthmatischen Bronchien mit den Aerosolen vom Meer flutend und dennoch immer wieder vor mich hin hustend. Krank ist man eben schneller als gesund, aber wenigstens habe ich eine WhatsApp-Story für meine Liebste zu Hause, um über den Umweg, sie aufzuheitern, auch mir eine etwas bessere Grundstimmung verpassen zu können, waren meine Gedanken
Es ist eben alles zu etwas gut, weiß der Schwabe, nur dass der kein Hochdeutsch für diesen weisen Spruch verwendet. Sondern schwäbisch, selbst an der Waterkant.

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