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Fahrradfahrtgedanken

Kurzgeschichte von Anna-Lena Eißler

Sie musste sich beeilen, die Nacht würde bald hereinbrechen. Und dann würde es dunkel sein. Sie trat in die Pedale, ihre Waden brannten. Zumindest in diesem Teil Stuttgarts, in dem die Solarlampen immer noch nicht installiert worden waren.
„Wir warten schon viel zu lange“, sagten ihre Eltern.
Sie hingegen war es gewohnt.
Ihr Großvater beschwerte sich am meisten. Er kam auch aus der Zeit des Lichtes. Aus dem Erdölzeitalter. Ein Zeitalter, das wie die Steinzeit und die Bronzezeit jetzt vorüber war. Aber nicht nur das Licht vermisste er. Vor allem die Freiheit, wie er es formulierte.

Aber mit dem Ende des Erdöls war die Freiheit nicht ganz verloren, fand sie. Sie konnte immer noch überall hin, zum Schlossplatz, zur Wilhelma. Nur teilte sie sich den rissigen Asphalt mit Radfahrern, Fußgängern und hin und wieder tatsächlich auch mit Pferdekutschen. Über die gab es immer wieder heiße Debatten.
Im Bundestag führten die Grünen an, die Pferdekutschen sollten verboten werden, da sie die Straßen verschmutzten. Die CDU hatte sich dazu bereiterklärt, die Anzahl der erlaubten Registrierungen zu senken, zumindest in der Innenstadt. Wie sinnvoll das war, war eine andere Frage.
Wer härtere Maßnahmen forderte, versammelte sich samstags auf dem Marktplatz, um Plakate hochzuhalten und Parolen zu brüllen. „Saturdays for Stuttgart!“ Auf manchen Plakaten stand statt „Saturdays“ auch „SaturNdays“ geschrieben, nur noch an wenigen Schulen wurde Englisch als Hauptfach unterrichtet. Es wurde nicht mehr gebraucht. Arabisch war viel wichtiger, alle neuen Inhalte des Internets waren arabisch.

Früher, hatte ihr Großvater erzählt, war Englisch das, was Arabisch heute war. Früher war das Internet auch hier in Europa immer von der englischen Sprache dominiert worden. Aber seit dem großen Ölkrieg vor 50 Jahren war das anders. Ein so unnötiger Krieg, wiederholte ihr Großvater bei jedem Abendessen.
Schon vor dem großen Krieg hatte der schwarze Glibber viel zu viele Leben gekostet, durch die Zerstörung der Ölfelder von Prudhoe-Bay und danach als Rache Tabuks, war die Zahl ins Unermessliche gestiegen.

Sie seufzte. Die kühle Abendluft strich ihr übers Gesicht, sie atmete tief ein.
Ihre Eltern kamen noch aus der Zeit, in der man versucht hatte, einen Ersatz für das schwarze Gold zu finden. Mit Algen hatte man es versucht. Und versuchte es bis heute noch. Man munkelte, im fernen China gäbe es erste Erfolge, die sich auch in der Massenproduktion umsetzen ließen, aber das waren nur Gerüchte.
Mit Wasserstoff hatte man es auch probiert, aber das war teuer und die Autos waren viel zu oft bei Unfällen in die Luft geflogen. Manches kann man nicht ersetzen, pflegte ihr Großvater zu sagen. Dabei sah er in den Himmel.
Als er etwa in ihrem Alter war, war er drei Mal mit einem Flugzeug geflogen. An jeden Flug erinnerte er sich ganz genau. Er war vom Boden abgehoben, war über den Wolken gewesen. Über den Wolken!

Sie hatte schon Bilder gesehen, die aus Flugzeugen aufgenommen wurden. Im Internet. Ihre Schule hatte einen Internetanschluss und sogar einige funktionierende PCs.
Je weiter das Ölzeitalter voranschritt, desto kürzer wurde die Lebensspanne der Elektrogeräte, hatte sie in einem Schulbuch gelesen. Die Hersteller wollten damit bezwecken, dass schnell neue Geräte gebraucht wurden. Was Millionen Tonnen giftigen Elektroschrott auf Müllkippen in Afrika verursachte.
Heutzutage brachen viele Leute zu einer Reise auf, hofften, auf den Müllkippen ihr großes Glück zu finden. Einige von ihnen fanden tatsächlich noch ausgemusterte Geräte, fast neu, noch funktionsfähig. Sie kehrten als reiche Leute zurück. Viele anderen starben durch die Giftstoffe, die sie über die Haut und die Atemwege aufgenommen hatten. Andere kamen auch bei der Reise um.
Man musste fest entschlossen sein, an diesen Ort zu wollen. Reisen erfüllten immer einen Zweck, sie konnte sich kaum vorstellen, dass Reisen früher nur der Erholung und Abwechslung galten.

Nun, dachte sie, es gab doch sehr wenige Menschen, für die Reisen Entspannung waren. Die wenigen verbliebenen Milliardäre in den USA, die so viel Geld hatten wie andere Staaten erwirtschafteten, deren Großväter Ölvorräte angelegt hatten. Und natürlich die Scheiche aus den vereinigten Emiraten, die mit ihren Privatjets den letzten verbliebenen Rest in die Luft pusteten.
Sie konnten jeden Ort der Welt innerhalb von 48 Stunden erreichen, wirklich JEDEN Ort der Welt. Früher hatten viel mehr Menschen diese Möglichkeit, berichtete ihr Großvater. Es war nicht so unglaublich teuer gewesen.

Es hatte Flughäfen gegeben, jeden Tag waren auf der ganzen Welt Millionen Flugzeuge gestartet und gelandet. Jetzt standen sie alle irgendwo auf diesen Rollfeldern, dienten Obdachlosen als Unterschlupf. Mit jedem Sturm wurden sie klappriger.
Die Flughäfen wurden teilweise umgebaut und als Wohnhäuser benutzt, aber der Stadt Stuttgart war das zu teuer. Das Gebäude ragte grau und heruntergekommen zwischen den Hochhäusern auf. Wie ein Mahnmal vergangener Zeit. Einer besseren Zeit? Sie war einmal dort gewesen, mit ihrem Vater. Keine einzige Scheibe war heil.

Früher hatte man von diesem Flughafen aus so viele Orte erreichen können. Las Vegas, eine Stadt in der Wüste. Tokio, New York, London. Es gab Smartphones, mit denen man über die ganze Erdkugel kommunizieren konnte, Grenzen waren keine Grenzen mehr. Der große Ölkrieg hatte dieses gefährlich komplexe Datenkonstrukt zusammenbrechen lassen.
Briefe waren moderner als je zuvor. Denn sie kamen an. Ungeöffnet, ohne dass jemand den Inhalt überprüfte. Sie hatte sogar eine Brieffreundin aus Amerika, früher waren ihre beiden Schulen Partnerschulen gewesen. Meist war der Brief drei Wochen bis einen Monat unterwegs, ihre Freundin schrieb auf den Antwortbrief immer das Datum, an dem der letzte Brief angekommen war.

Ob sie sich einmal sehen würden? Sie glaubte es nicht. Erst wenn ein Ersatz für das Erdöl gefunden werden würde, vielleicht dann.
Sie bog in eine Seitenstraße ein, bremste. Die Häuser warfen lange Schatten, sie musste aufpassen, dass sie nicht gegen einen Pfosten der alten Laternen fuhr. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie abzubauen, die Stadt hegte Hoffnung, bald alle Lampen wieder mit dem Strom der vier Elemente zu betreiben.
Sie schwang sich vom Sattel und kramte in ihrer Jackentasche nach dem Kellerschlüssel. Eine kleine, graue Tür neben dem Haus, ganz unscheinbar. Sie parkte das Fahrrad, hängte den Helm an den Lenker und schloss die Türe hinter sich ab. Für die Haustür brauchte sie den zweiten Schlüssel, er war größer als der andere. Ihr schlug der Geruch von gegartem Gemüse und die aufgebrachte Stimme ihres Großvaters entgegen.
„Als hätten sie es nicht kommen sehen! Als hätten sie nicht gewusst, dass die Reserven zur Neige gehen!“
Niemand widersprach ihm.
Sie schlüpfte aus ihren Schuhen, reihte sie ordentlich neben die anderen und fädelte ihren Mantel auf einen Kleiderbügel.
„Du bist spät dran“, bemerkte ihre Mutter, als sie sich an den einzigen freien Stuhl am Esstisch setzte. Sie zog den Topf zu sich heran.
„Ich bin langsam gefahren“.
„Früher hatte man dafür bessere Ausreden“, murmelte ihr Großvater, etwas Suppe lief ihm aus dem Mund und wurde von seinem Bart aufgefangen. „Da hat man es immer auf die öffentlichen Verkehrsmittel schieben können. So einfach war das!“
Ihr Vater seufzte und trank einen Schluck Wasser. „Bald wird es wieder so sein. Es wird einen nächsten Rohstoff geben. Vielleicht wird es besser werden“.
Er sah seine Tochter an.
„Ja“, sagte sie. ohne von ihrem Teller aufzublicken, „Die große Freiheit wird für alle Leute gleich zurückkehren. Irgendwann“.
„Pah!“, machte ihr Großvater, „Die ist mit dem Öl versickert“.

3 thoughts on “Fahrradfahrtgedanken

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