Nur eine Frage

von Shannon Prehl

Sie saß am Fenster und beobachtete die Straße, wie so oft, wenn er kam. Zählte die Autos, die in endlosen geordneten Bahnen vorüberfuhren. Er hatte nicht erwartet, sie woanders zu treffen. Es war alles noch zu frisch.
„Wollen wir einen Ausflug machen?“
Sie schüttelte den Kopf, doch er hatte es nicht anders erwartet. Nicht einen einzigen Sonntag, an dem er sie besucht hatte, war sie auf seinen Vorschlag eingegangen.

Nach dem, was geschehen war, hatte sie sich abgekapselt. Niemand kam an sie heran. Ihre Eltern lebten zu weit entfernt. Natürlich waren sie danach gekommen, doch sie hatten nicht so lange bleiben können, wie es nötig gewesen wäre. Die meisten ihrer Freunde hatten es bereits aufgegeben und lebten ihr Leben weiter, während ihres still stand. Manchmal klingelte das Telefon, ein Brief oder eine E-Mail kam, doch sie antwortete nicht. Aber er konnte nicht einfach gehen. Er wollte nicht.
„Wollen wir einen Ausflug machen?“

Er hatte sich schneller erholt als sie. Sie konnte und wollte sich noch nicht der Welt stellen. Sie konnte die Blicke nicht ertragen. Noch nicht. Der Arzt hatte geraten, ihr die Zeit zu lassen, die sie brauchte. Es sei ganz normal, dass man in so einer Situation länger bräuchte, um sein Leben neu zu sortieren.
Also saß sie nur am Fenster und sah zu. Die Autos fuhren in perfekten Bahnen in ihre Bestimmungsrichtung. Keines scherte aus. Zwei Bahnen nach rechts, eine nach links. Rot. Stopp. Grün. Immer weiter in den Bahnen.

„Wollen wir einen Ausflug machen?“
Er setzte sich einfach neben sie und beobachtete. Ein Specht schlug an der alten Eiche. Er war sehr viel kleiner, als man von den Bildern her erwartete. Eifrig huschte er den Baum hinauf und wieder herunter. Eine Meise setzte sich aufs Fensterbrett und pickte an den Krumen des alten Schwarzbrotes im Vogelhäuschen herum.

„Wollen wir einen Ausflug machen?“
Er versuchte es jeden Sonntag wieder, auch wenn sie jedes Mal ablehnte.
„Wie wäre es mit einem Spaziergang im Park? Willst du nicht auf das Konzert deiner Lieblingsband gehen, die heute in der Stadt spielt? Wollen wir uns im Planetarium die Sternbilder anschauen? Im Kino läuft der Film, auf den wir uns schon so lange freuen. Lass uns mal wieder essen gehen, gleich hier beim Griechen um die Ecke.“

Auch wenn sie ablehnte, irgendwann würde sie ja sagen. Als er sie kennen lernte, hatte das schließlich auch funktioniert.

„Wollen wir einen Ausflug machen?“
„Ich habe Kopfschmerzen.“
„Wollen wir einen Ausflug machen?“
„Mein Rücken tut weh.“
„Wollen wir einen Ausflug machen?“
„Ich hab noch zu tun.“
„Wollen wir einen Ausflug machen?“
„Ich hab keine Lust. Vielleicht nächste Woche.“
„Wollen wir einen Ausflug machen?“

Dass sie Angst hatte, gab sie nie zu, obwohl er wusste, dass es eigentlich nur darum ging. Irgendwann hatte sie gar nicht mehr geantwortet, die Ausreden wiederholten sich eh. Sie hatte einfach nur stumm aus dem Fenster gesehen und er hatte daneben gesessen. Sie hatten schon lange nicht mehr richtig miteinander geredet.
Trotzdem versuchte er es jeden Sonntag von Neuem.

„Wollen wir einen Ausflug machen?“
Das erste Mal seit langem reagierte sie wieder. Auf seine Frage hin drehte sie sich zu ihm um und lächelte gequält.

„Also schön. Aber such einen Weg aus, auf dem ich auch mit dem Rollstuhl keine Probleme habe.“

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