Immer wieder sonntags

von Marcus Soike

Am siebten Tage ruhte der Herr – seine Albträume, Kopfgeburten, Hirngespinste, Katerkopfschmerzen schafften stellvertretend für ihn weiter.

Ich erwache schlagartig am Vormittag, weil das Weckergerassel um halb fünf gefehlt hat. Sonntag. Kann man schlimmer erwachen als ausgeschlafen, kaum noch verkatert vom Schwarzbier, edles Frühstück in Aussicht – und die Sonne scheint auch noch höhnisch? – und die Vögel zwitschern: “Schieß mich vom Baum, der Kater tut es nicht, es ist schließlich Sonntag”?

Ich leide an der Zwangshandlung, mir sonntags ein edles Frühstück zu richten: Lachs, Eier im Glas, irische Butter, frisch gepresster O-Saft. Komme wir schon vor wie so‘n Bürger. Sich diesen Sonntag auch noch verdient haben, pfui!
Der Geruch von Kaffee ist unangenehm behaglich.Hätte ich eine Frau, würde es romantisch werden – pfuuuh!
Schon vermisse ich das unter Stress runtergewürgte, graugrüne Mettbrötchen, vermisse ich das Ambiente von Baustellendreck, Arbeitshosenstallgeruch, Gossenhumor und den Polier, der rumbrüllt, die Pause wäre längst zu Ende.

itschern weiterhin die Vögel, der Kater schafft sie nicht. Weil ich frei habe, kann ich mir keinen Hitzschlag auf dem Baugerüst einfangen. Auch kann ich heute nichts dem Bauarbeitergepöbel beisteuern, der Bauwagen kann keine Hochburg des Sexismus sein, die matschgefüllte Baugrube kann keine Unter-Hölle des Rassismus sein, keine Verletzten wird es an der Kreissäge geben, keine jungen Mädchen sind zu bepfeifen, keine jungen Flüchtlinge anzuscheißen – da kann mich mein eingerissener Fingernagel auch nicht mehr trösten! Obendrein, weil ich heute nichts zu arbeiten habe, komme ich sofort ins Grübeln, zum Beispiel darüber, dass mich so viele Leute widerwärtig finden, weiß auch nicht.

Ich leide an der Zwangshandlung, sonntags trödelig spazieren zu gehen. Draußen wird‘s nicht besser: kein Verkehrsrowdytum, keine überfüllten Busse, keine gehetzten, schlechtgelaunten Menschen. Die vor mir ausrotzen könnten, sind alle noch im Katerschlaf. Die, vor denen ich ausrotzen könnte, sind alle noch in Kirche, Schrebergarten, Häkelkreis. So durchstreife ich die Stadt – stundenlang, so manche Straße rauf und runter, niemals in Parks reinpissend, denn dort spielt sich heute das Leben ab.
Ich stelle mich auf die Mitte der Kreuzung, bin bereit für alles, was kommt, habe abgeschlossen mit allem, was war. Letzter Schmerz pulsiert in meinem Kopf. Ein Kater kommt … keine plattgefahrene Katze, die ich mit Häme links liegenlassen könnte, sondern ein höchst lebendiger schwarzer Kater von rechts, der behäbig, es ist Sonntag, die Straße passiert. Er wirkt auch irgendwie plattgefahren: war wohl eine lange Samstagnacht.
Das Menetekel lächelt höhnisch und verschwindet. Ich lächle höhnisch zurück und bleibe hier. Die Autos aus allen Richtungen, alle Richtungen anvisierend, fahren mitleidig lächelnd an mir vorbei. Ich werfe mich vor eine der Karren, aber sie bremst ab, war so und so nicht sehr schnell gewesen und hat heute keine Tötungsabsicht: getötet wird in der Firma, heute ist Sonntag.

Mittlerweile völlig verzweifelt will ich Frostschutzmittel kaufen, aber die Läden sind zu, die Tankstelle führt diesen Artikel nicht, ich muss mein Brechmittel selbst herstellen: Man nehme meinen Zynismus, meinen Fußgestank, meine schwarzgewordene Galle, das Verwesungstürkis meines Schnodders, den ich vor eine Studentin werfe, einen Schuss lange gereifte Magensäure, die den Schnodder schon wieder desinfiziert… wie am Sonntag ja alles sauber, fein und ordentlich sein muss, bah!
Ich betrete den Bahnhof. Hier ist auch am Sonntag Leben. Der lebendigste Ort dieser Stadt ist der Ort, an dem man aus ihr rauskommt. Ich kaufe am Kiosk eine (teurere! dickere! entspanntere!) Sonntagszeitung. Sudoku, Titten, Jordanien als Urlaubsziel, Rezepte für den Sandwichmaker, Autos, Todesanzeigen, Prominente, die Kakerlaken für ihre Zwecke missbrauchen, was ist In und im Eimer, was Out und aussätzig, alle sind im Bild, welche Zeitung ich meine. Genozide, Amokläufe, Hunger- und Flutkatastrophen sind ein Siebtel von einem Krebsgeschwür, danke dafür. Ein Dreißigstel Aids hätte auch einen schönen Tag gegeben – oder 365 Pickel übers Jahr verteilt …

Ich laufe den Bahnsteig entlang. Lasse die Leute, die Stadt hinter mir … reite in den Sonntagsuntergang … Angst ist etwas Alltägliches, ich bin frei davon … wenn ich jetzt ins Gleisbett stürzen würde, sähen das vierzehn Leute … Ich gehe weiter … jetzt sähen mich sieben Leute … von denen mir, grob überrechnet, einer helfen würde … ich könnte mich zurücklehnen, er würde mich auffangen …

Der Bahnsteig fällt in einer Rampe ab, verliert sich. Ich folge seiner Spur, die sich verliert, während sich auch alles hinter mir verliert, ich selbst mich verliere. Ich will keinen Zug erwischen, vielmehr ist es so, dass mich ein Zug erwischen soll. Auf einen S-Bahn-Schubser zu warten, ist am Sonntag umsonst. Wer von denen Stil hat, ist obendrein in der U-Bahn unterwegs – unter TAGE also, haha.
Die S-Bahn kommt nur alle Stunde – vielleicht auf Gleis 4 setzen, da müsste gleich der ICE kommen.

Ich wünsche mir 365 Menschen an diese Endstation, aus denen eine Elite von 52 hervorgeht, die mich retten, meine Welt retten, mich retten: Montagsmaler, Montagslyriker, Montagsphilosophen, Montagsmontagearbeiter … Kopfgeburtwöchner, Wochenanfangshelden, unausgeschlafene Leute, dahindämmernde Leute … Leute, die das stressige, gallige Frühstück praktizieren, die dem Bus hinterherrennen, der längst abgefahren ist … die sich abrackern und abarbeiten und abkämpfen, um dann am Sonntag noch im Schrebergarten zu schaffen. Lasst mich nicht allein …

Wenn der Zug abgefahren ist, kann ich ihn nicht mehr erreichen, aber er mich, ich warte.

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