Jeder Schlag ein Lacher

Jeder Schlag ein Lacher

von Carolin Kaiser

Die Ohren noch taub, die Augen blind vom gleißenden Licht des Sieges, legt sich die Dunkelheit über die Menschen und mit ihr die Stille. Ein Massengrab, kein Laut zu hören. Alle Pupillen starren im Gleichschritt, niemand rührt sich, hinter ihr ein schüchternes Hüsteln. Weiß auf Schwarz, der Ohrwurm für den nächsten Tag im Hintergrund. Sie sinkt tiefer in das Polster, die Augen geschlossen, die Hände verschränkt über dem Bauch, während die Namen über die Leinwand marschieren. Die Magie der letzten Szene dauert nur wenige Sekunden.
Die Bahn fährt in fünf Minuten!, Scheiß Mathehausaufgaben…, Und für den Mist hab‘ ich 15 Euro ausgegeben?!, Boah, hab‘ ich Hunger., Ich sollte meine Mutter anrufen …
Die Gedanken schwirren wie ihre Besitzer, raus in die Wirklichkeit, doch das Mädchen mit dem mausgrauen Haar rührt sich nicht. Sie sitzt still, lässt die Nachwehen durch ihren Kopf fegen. Der Held lächelt ihr noch zu, für sie lebt der Bösewicht weiter. Egal, wie oft sie hier ist, egal, wie oft sie die Geschichte lebt.
Die Menschen steigen über ihre Beine, nur die wahren Liebhaber bleiben mit ihr zurück. So war es immer gewesen. Gemeinsam allein in der Finsternis, jeder in seinem Universum, fein säuberlich getrennt durch Lehne und Becherhalter. Das musikalische B-Team läuft auf, Danksagungen an mehr Leute, als das Mädchen je kennengelernt hat.
Die Bilder blitzen vor dem Schwarz ihrer geschlossenen Augen. Ihr Herz grummelt, ihr Bauch schlägt. Sie presst die Lider fest aufeinander, während die Welt außerhalb des Saals durch die geöffneten Türen drängt, das Popcorn vom Boden aufwirbelt, die Leute nach draußen zieht, ein teuflischer Verführer. Das Mädchen will in der warmen Dunkelheit bleiben, doch sie darf nicht auffallen. Sie hat nicht viel Geld, und das Kino wird nicht billiger. Aber sie nimmt niemanden dem Platz weg, darauf achtet sie.
Falle ja niemanden zur Last, hast du gehört?, hat ihre Mama immer gesagt, und das Mädchen will auch niemanden Schwierigkeiten machen, allerdings ist die Welt kompliziert und sie noch jung. So war es passiert, jetzt sitzt Mama weinend auf dem Sofa, lachsfarbener Lidschatten krümelig in den Falten, und Papa schreit nur RAUS, Bier schwappt wie in Zeitlupe über den Rand.

Die Leinwand ist schwarz, und der letzte Trupp Konsumenten rückt aus. Das Mädchen schließt sich ihnen an, den Kopf gesenkt, mit eiligen Schritten Richtung Toilette, die Fachsimpeleien der Filmlaien im Rücken. Sie lehnt sich gegen die Tür, verschanzt sich im Klosett ganz hinten. Sie braucht keine Uhr, um die Zeit zu kennen. Der nächste Film fängt in 15 Minuten an, ein Psychothriller, der Kindergärtner war der Mörder, doch der Richter verurteilte immer den falschen Kerl. Er würde es wohl nie wissen, aber er konnte ja nichts dafür. Die Frau mit den gelben Schuhen bestach den Hauptzeugen.
Das Mädchen sitzt auf dem Klodeckel, die Füße gegen die Eiswerbung an der Tür abgesetzt. Sie hat Hunger, und irgendwie nervt sie alles. Im Kino kann sie kein Essen kaufen. Zu auffällig. Zu teuer. Ein Seufzer, ein Versuch die Realität aus ihrem Kopf zu stoßen. Sie hat den Film zu oft gesehen. Sein nebeliger Schleier begleitet sie nicht mehr mit aus dem Saal, er bleibt da und wartet auf ihre Rückkehr, wissend, dass sie ihn braucht.
In dieser Toilette bricht die Welt auf sie hinab, mit all ihren Farben, Gerüchen, ihrem Lärm, ihrem Schmutz, all die Menschen, die sie hassen. Das Mädchen umfasst ihre Arme, krallt sich mit abgewetzten rosa Nägeln ins Fleisch, und Tropfen fallen auf ihren 10-Euro-Pulli. Es fließt, und sie schämt sich nicht, sie ist arm dran.
Ihr Freund ist nirgends zu sehen, und jeder neue Film ist schon zehnmal gedreht worden. Sie wechseln nur die Schauspieler aus – wenn überhaupt. Jeder Schauspieler hat die gleichen Zähne, strahlend weiß, gerade und gleichmäßig, aber im Film geht nie einer zum Zahnarzt. Reiche, schöne Leute heiraten nur reiche, schöne Leute. So empirisch bewiesen wie Newtons Gravitationsgesetz.
Das Mädchen hat fisseliges Haar, ihre Zähne sind gelb wie Herbstlaub, ihre Brust wölbt sich erst jetzt unter ihrem Pulli. Ihr ist übel. Ihre Nase läuft. Ihr Kopf schmerzt, sie will nicht an die Welt außerhalb des Kinos denken. Doch jemand schlägt ihr die Gedanken mit einem Meißel durch die Schläfen. Der spitze Mund ihrer Mutter, ihre trockenen Haare, der Vorwurf in ihrer Haltung und der Vater blauer als das Meer an der Karibik. Sie geben nicht auf sie Acht und beschweren sich, wenn sie eine Dummheit begeht.
Das Mädchen ist allein, noch. Nur im Dunkel des Saals lebt sie, finster und warm wie im Bauch ihrer Mutter. Sie wünscht, sie würde auf der Leinwand wohnen. Dann hätte sie blitzende Zähne und ein ebenmäßiges Gesicht. Sie wäre schön, und wenn sie nicht schön wäre, würde man sie schön schminken. Rote Lippen und dunkle Augen ohne einen Schatten. Aber sie ist nur Zuschauer, sie kann anderen Menschen keine Freude bereiten. Deswegen ist sie allein zurückgeblieben.

Sie wischt sich über das Gesicht, steht auf, glättet die Falten aus ihrer Jeans und geht in Richtung des mordenden Kindergärtners, des irrgeführten Gesetzesmannes und der Frau mit den gelben Schuhen, diese Schlampe. Sie mag den Film nicht sonderlich, wahrscheinlich wird sie nach einer dreiviertel Stunde auf leisen Sohlen sich aus dem Saal schleichen und ins Kino Acht gehen. Der Film dort ist nicht viel besser, überhaupt nicht ihr Genre, aber er ist lustig, aus irgendeinem Grund prügeln sich am Ende alle auf einer Hochzeit, sie trampeln wie Höhlenmenschen, aber jeder Schlag ins Gesicht wird mit einem Lacher aus der Dunkelheit belohnt.
Sie fühlt sich deprimiert genug, das Leben hat ihr ohne Warnung, ohne Vorbehalte, einen in die Magengegend gegeben. So stark, dass sie morgens kotzend aufwacht. Schnell geht sie durch das Gebäude, schaut keinem ins Gesicht.

„Hey, du warst doch eben schon hier!“
Man packt sie grob am Arm.
„Hast du kein Zuhause, Mädchen? Verschwinde!“
Wieder davon gejagt, nun steht sie zwischen den eilenden Menschen wie eine Schildkröte in einem Rudel Wölfe. Sie schließt sich dem Strom ohne Ziel an, einen Fuß vor den anderen, denn so hat sie es gelernt. So viele Menschen, Dünne mit dicken Backen, Große mit kleinen Fingern, Nichtsagende Gesichter in schriller Kleidung, alle wollen individuell sein, doch sie tragen dasselbe, essen dasselbe, sehen dasselbe in ihr.
Sie wird angestarrt, wie auf einem Laufsteg, und sie halten Karten hoch mit Punktzahlen.
2, 1, 3, 0, sorry, du hast es nicht drauf, Baby.
Sie weicht allen Blicken aus, geht ganz am Rand und fragt sich, ob es nicht doch Leben außerhalb dieser Welt gibt. Leben auf dem Mars ohne Vorurteile, der rote Sand wirbelt und schmirgelt die Verachtung aus den Gesichtern. In einer Welt, in der keine dreckigen Persönchen am Straßenrand hocken, Pappbecher umklammert, drei Schichten Kleidung, Loch an Loch und die Plastiktüte unterm Hintern.
Das Mädchen spiegelt sich in ihren Augen, und die Zukunft erscheint ihr wie eine leere Bierflasche –  es gibt Pfand, aber wirklich lohnen tut es sich nicht. Dann sieht sie ihn plötzlich in einem Eiscafé sitzen, lachend und strahlend, völlig immun gegen alle Schlechtigkeit. Die Augen so glänzend, dass man den Glauben ans Böse verliert, und das Mädchen bleibt vor dem Café stehen, unfähig den Blick abzuwenden. Tränen steigen hoch, es brennt, bitter. Er fährt sich durch das Haar, zwinkernd, den Mund weit geöffnet, warmes Lachen, sorglos, sich keiner Verantwortung bewusst, oder bereit, sich bewusst zu sein.
Sie ballt die Fäuste, am liebsten würde sie in das Café stürzen, sich ebenfalls einen langen, kalten Milchshake bestellen, die Obdachlosen obdachlos sein, die Welt weiter in den Abgrund treiben lassen, ohne sich darum zu scheren. In diesem Eiscafé waren Probleme Schwachsinn wie die Schwerkraft im All. Sie könnte reingehen und ihn zur Verantwortung ziehen, aber er würde ihr nur einen Strick aus ihren Worten drehen, sie zum Objekt der Lächerlichkeit machen, ein Paradeexemplar der asozialen Jugend.
Also dreht das Mädchen den Kopf weg, es hat ja keinen Sinn. Das Leben ist zu kompliziert, sie sehnt sich nach den weißen Zähnen auf der Leinwand. Es ist nur real, was man als real betrachtet, und deswegen wird das Mädchen morgen wieder in den weichen Stühlen des Kinos versinken. Wieder und wieder, tage-, wochen-, monatelang, bis sie nicht mehr kann. Bis ihre Probleme aus ihr herausbrechen, wie ein gebrochener Staudamm.

Aber bis dahin hat sie noch Zeit, Zeit sich ihrer Realität hinzugeben.

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