Zoe

Zoe

von Toni Corlo

Blick
nach oben
Wind kommt auf
Ich stehe am Abgrund
Jetzt!

Zoe zieht immer alles durch, was sie sich vorgenommen hat.

Fast alles!

Vor zwei Jahren lernte ich sie kennen. Ich studierte Lehramt im fünften Semester, und Zoe arbeitete im Sankt Ottilienstift als Altenpflegerin. Ich, der stämmige Dunkelhaarige, und Zoe, die zarte Blonde! Wir waren glücklich verliebt, und die Alten und ich waren ihrem Charme verfallen. Doch irgendwann fing es an, anfangs noch ganz harmlos.

 

„Ab heute esse ich keine Tomaten mehr!“, sagte Zoe.

Ich fragte nicht weiter nach, da ich dachte, sie habe vielleicht eine Allergie entwickelt. So was kann ja mal vorkommen.

Im Restaurant stocherte Zoe nun regelmäßig im Essen herum, und in der Kantine des Seniorenwohnheims wurde sie belächelt, da am Rand ihres Tellers immer rote Fetzen lagen. Zoe machte das nichts aus, im Gegenteil.

 

Wenige Wochen später hatte sie eine neue fixe Idee: Sie beschloss, sich künftig mit glatzköpfigen Männern nur noch auf Französisch zu unterhalten.

„Non, je ne suis pas française, je viens de Rosenheim.“, erklärte sie, wenn sie dann gefragt wurde, ob sie denn Französin sei.

Zum Glück kreuzten nicht allzu viele Männer mit Glatzen ihren Weg, und ich hoffte für sie, dass wenigstens einige Kriegsveteranen im Seniorenwohnheim ein paar Brocken Französisch sprachen.

Zoe war zwar etwas verrückt, aber konsequent in ihrem Handeln.

Dafür bewunderte ich sie sehr. Ich selbst war eher der unentschlossene Typ, der sich zwar viel vornahm, aber wenig auf die Reihe brachte.

 

Als Zoe dann aber vor jeder Mahlzeit aufstand und schrie: „Essen ist nur ein kleiner Bestandteil eures verpissten Lebens!“, wurde nicht nur meine Geduld, sondern auch die unserer Mitmenschen auf die Probe gestellt.

Manchmal aßen wir zusammen in der Mensa. Dort war Zoe mittlerweile unter dem Namen „Die Psychofrau“ bekannt. Ich zog es nun also vor, gemeinsame Mahlzeiten mit ihr eher zuhause einzunehmen.

 

Immer mal wieder wurde mir die Frage gestellt, wie ich es aushielt, mit solch einer Frau zusammen zu sein. Ich verteidigte sie.

Ich kenne viele Leute, die einen Spleen haben: Mein Freund Ben kann nur tanken, wenn auf der Säule mit der Preisanzeige eine gerade Zahl am Ende steht. Ist dies nicht der Fall, fährt er wieder nach Hause, auch auf die Gefahr hin, dass ihm das Auto stehen bleibt.

Harry versucht zwanghaft, beim Laufen auf Pflastersteinen nicht auf die Ränder zu treten. Tanja steht jeden Morgen mit dem rechten Fuß auf, egal, auf welcher Seite sie gerade liegt oder wo sie zuvor geschlafen hat.

Ich muss allerdings zugeben, dass keine dieser Personen in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit erregt als Zoe.

 

Vor ein paar Wochen sind wir zusammen gezogen, in den vierten Stock einer kleinen Zweizimmerwohnung am Stadtrand.

Während des Frühstücks an einem Sonntag, ich wollte mir gerade Butter auf die Brezel streichen, eröffnete mir Zoe: „Ab heute werde ich nicht mehr gehen, sondern hüpfen.“

Ich ließ das Messer sinken und starrte sie ungläubig an. „Tu das nicht. Bitte!“

Zoe lächelte mich an. „Warum denn nicht?“, fragte sie und stützte den rechten Ellenbogen auf den Tisch.

„Sie werden dich entlassen“, sagte ich leise und sah sie eindringlich an, „wir werden uns die Wohnung nicht mehr leisten können.“

„Wir werden eine Lösung finden.“, entgegnete Zoe fröhlich und hüpfte in die Küche, um die Spülmaschine einzuräumen.

 

„Zoe ist völlig durchgeknallt“, sagten Tanja und Ben, „sie braucht einen Arzt!“ Sie waren die einzigen, die noch mit mir sprachen.

Unsere anderen Bekannten blickten nun alle zu Boden, wenn wir ihnen zufällig auf der Straße begegneten.

 

Zoe! Im Moment wird unsere Liebe auf eine harte Probe gestellt.

Inzwischen boxt sie morgens nach dem Aufwachen neunundvierzig Mal in ihr Kopfkissen, um in Form zu kommen. Danach sagt sie: „Bonjour, chéri. Tu veux un café?“ und gibt mir ein Küsschen auf die Wange.

Es ist es nämlich leider so, dass ich immer mehr meinem Vater ähnle, der auch schon mit Ende zwanzig mehr Gesicht als Haare hatte.

Nach dem Aufstehen schließe ich schnell das Fenster unserer Mansarde, damit die Nachbarn durch das laute Geschrei nicht geweckt werden. Nachdem Zoe „Essen ist nur ein kleiner Bestandteil eures verpissten Lebens“ geschrien hat, hüpft sie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Für den Kaffee bin ich inzwischen alleine verantwortlich, da Zoe sich das letzte Mal beim Tisch Decken schrecklich verbrüht hat: Hüpfen ist eben manchmal gefährlich.

Bevor sie die Wohnung verlässt, verabschiedet sie sich persönlich von jedem einzelnen Gegenstand aus Holz.

 

Danach hüpft sie zur Arbeitsagentur – letzte Woche wurde ihr wie befürchtet gekündigt: Sie stelle eine Gefahr für die alten Leute dar, argumentierte die Leiterin des Wohnheims und ließ mir einen Zettel mit der Telefonnummer eines Psychotherapeuten zukommen.

„Das ist ein guter Freund von mir“, sagte sie, „er kann Zoe bestimmt helfen.“

Die Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt meinte, Zoe unterläge gewissen Zwängen und solle Krankengeld beantragen. Das Amt fühle sich in diesem Fall nicht zuständig für die finanzielle Unterstützung.

 

Abends versuchen wir dann, so gut es geht, nach Zoes Geschmack zu kochen. Seit ein paar Wochen isst sie nämlich überhaupt keine Nahrungsmittel mehr, die mit „T“ anfangen. Es ist also verdammt schwer, noch etwas zuzubereiten, das für Zoe akzeptabel ist. Es gibt keine Teigwaren mehr, auch wenn ich Zoe geschworen habe, dass Teigwaren nur ein Synonym für Nudeln oder Pasta ist. Sie trinkt nur noch Kaffee, keinen Tee mehr. Früher liebte sie Tiramisu. Heute hasst sie es. Und T-Bone Steaks sind ihr selbstverständlich ein Gräuel!

Ich sitze gerade am Fenster und denke an den Zettel mit der Nummer des Therapeuten in meiner Hosentasche. Und an unsere gemeinsame Zukunft. Haben wir überhaupt noch eine?

Da betritt Zoe das Zimmer. Hüpfend, versteht sich! Ihr blonder Pferdeschwanz wippt bei jeder Bewegung mit, und sie atmet schwer, da sie seit zwei Tagen einen Schnupfen hat. Hüpfen ist eben auf Dauer anstrengend.

Sie setzt sich neben mich und streicht mir über den Kopf. Ich schaue sie an. Eigentlich ist sie ja immer noch dieselbe, mit den Sommersprossen auf der blassen Haut und dem Grübchen rechts neben dem Mundwinkel. Wie konnte ich nur ins Zweifeln geraten! Bestimmt wird alles wieder gut! Ich atme tief durch und will sie gerade in den Arm nehmen, da sagt Zoe: „Demain, je vais voler. Comme un oiseau. M’envoler dans le ciel.“

 

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen. Der Satz klingt in meinem Kopf nach: Voler, voler comme un oiseau … .

Da zieht sich mir der Magen zusammen, als ob mir das Essen ohne „T“ nicht bekommen wäre. Müde lehne ich mich nach vorne und streiche mir mit beiden Händen über die Augen. Sehe sie an.

Fliegen, fliegen wie ein Vogel … .

Wie im Traum nehme ich das Hupen der Autos und das Geräusch der anfahrenden Straßenbahn wahr. Ich stehe auf und blicke aus dem Fenster. Die Sonne geht gerade unter und taucht die Häuser in ein seltsames Licht. Ein leichter Wind streicht mir durch die Haare und bringt einen intensiven Benzingeruch mit sich. Ich blicke nach oben und sehe eine Schar Krähen, die am Himmel ihre Kreise zieht. Dann schaue ich nach unten. Die Straße erscheint mir plötzlich wie der Ausschnitt einer Modelllandschaft.

Ich halte noch einen Moment inne, dann gebe ich mir einen Ruck, schließe das Fenster und gehe langsam zum Telefon.

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