GRANDIOS

GRANDIOS

von Andreas Gräfenstein

Es sollte ein Fest sein. Diese Beerdigung. Jedenfalls hatte ich mir das so vorgestellt. Irgendwie ist es jetzt doch nicht so toll geworden. Für mich nicht und für die um mein Grab Versammelten erst recht nicht.
Ein Fest wäre es für die Trauernden da drüben wohl nur, wenn sie wüssten, dass der eben der Erde Überlassene doch noch lebt. Das wäre ein Clou. Dazu müsste ich jetzt aber aus meinem Versteck auftauchen, hinter meinem Baum, mit meinem Fernglas in der Hand. Vor Kälte zitternd. Aber das geht nicht. Jetzt hab ich es doch schon so weit gebracht.
Und außerdem: Würden die sich dann wirklich freuen? Würden sie mich in den Arm nehmen und die bitteren Tränen der Trauer um ihren Sohn, Bruder, Neffen, Freund und Mitschüler einfach mit ihren schwarzen Ärmeln wegwischen, um stattdessen bebende Tränen des Glücks, eines überwältigenden, kaum zu fassenden Glücks zu vergießen? Vermutlich schon. Vielleicht würden sie das ja auch gar nicht lustig finden mit meinem Tod. Vor Wut erschlagen sie mich noch. So im Affekt. Was für eine unfassbar dumme Idee du da wieder hattest, Junge.

Das macht man auch nur einmal. Sich tot stellen. Verschwinden. Das ist nämlich gar nicht so easy. Mach das mal! Also glaubhaft. Vorgeben, dass du tot bist. Und zwar ohne Leiche. Wie lange warten die überhaupt ohne Leiche, bis sie dich unter die Erde bringen? Ich habe immer versucht, mir das mal auszumalen. Allein das hat mir schon einen gewissen Schauer verursacht, im Nacken, meiner empfindlichsten Stelle.
Wann werde ich eigentlich beerdigt, habe ich mich immer gefragt. Wann werden sie das wohl machen? Suchen sie mich? Ja klar, bestimmt. Das machen sie. Allein um des lieben Scheins willen. Müssen sie einfach. Nachbarn, Kollegen, die Freunde, denen muss man die Trauer doch zeigen! Oder? Die Trauer, die dann Arbeit wird. Sagt man doch so, nicht wahr? Trauerarbeit. Habe ich mal irgendwo gelesen. Klingt nicht so witzig. Klingt mühselig. Und sie haben ja nicht so viel Geduld. Jedenfalls mit mir nicht.

Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Scheiße. Da drüben spannt meine kleine tuttelige Oma grad ihren riesigen roten Schirm auf. Den hat sie immer dabei. Er ist viel zu groß für sie. Eigentlich könnte sie die halbe Verwandtschaft mit unter diesen Schirm nehmen. Aber keiner ist sonst noch so klein wie sie. Und ich bin nicht da. Also steht sie da ganz allein und verheult. Ich würde ihr den jetzt gern halten, den Schirm. Mir ist ganz komisch. Ich fühl mich hundeelend.

Wie lange suchen sie mich also? Diese Frage hat mich echt beschäftigt. Vorher schon. Und dann, wenn die Polizei meine Eltern befragt: Was ist er denn für ein Junge? Beschreiben Sie ihn bitte. Aber genau, im Detail. Und zwar als Menschen, nicht nur äußerlich, was er für einen Pullover anhat oder so. Das mit dem Pullover hätten sie ja noch hinbekommen. Schätze ich.

Welche Beweise braucht man denn für einen Tod? Beweise, Belege, Zeugen. Meine Eltern hatten eigentlich nie Beweise für ihre krummen Wahrheiten. Ich fand sie jedenfalls selten überzeugend. Sie hatten oft eher so Alibis oder Rechtfertigungen, keine wirklich logischen Begründungen für ihr Tun. Warum sollte ich meine Freunde wegschicken, wenn der Vater nach hause kam? Warum sollte ich am Tisch die Klappe halten? Dabei war es doch so wichtig, dass wir alle beisammen sitzen. Ich bin auch am Wochenende fürs Frühstück immer aus dem Bett geholt worden – obwohl ich hundemüde war. Ich hatte am Tisch zu sitzen. Und zu schweigen. Also habe ich mir Geschichten ausgedacht und meine inneren Selbstgespräche geführt. Da war ich wirklich zuhause. Echt.
Und dann hab ich immer zugesehen, dass ich ganz schnell wegkomme. So schnell wie möglich, bevor die Aufgaben im Haus verteilt wurden. Dann bin ich raus und habe Ameisen getötet. Die kleinen Biester. Tausendfüßige Ameisenstraßen, die quer über den ganzen Hof liefen, habe ich mit einer stinkenden Kleberspur verziert. Und angezündet. Herrlich. Aber ich wurde fast immer erwischt. Ja, was heißt erwischt. Ich glaube, ich wollte wohl, dass sie mich finden. Dann bin ich abgehauen. Zu meinen Freunden. Da war ich immer willkommen.

Meine Eltern dachten jedenfalls, sie bräuchten nie irgendwelche echten Erklärungen mir gegenüber. Alles unlogisch. Und nun war da endlich mal was, was sie wirklich erstmal beweisen mussten: Mein Tod. Am Ende kann den ja doch nur ich selbst beweisen.
Ach was solls, Leute, sucht mich erstmal! Dachte ich mir. Und findet mich. Suchen sie mich wirklich bis in den letzten Winkel dieser Erde? Geben sie sich richtig Mühe? Wo vermuten sie mich zuerst? Wie stellen sie das an? Das wird echt schwierig für meine Eltern. Die kennen mich ja gar nicht. Weil sie sich nie so recht dafür interessieren, wo ich bin, bei wem, wohin ich verschwinde. Die würden wohl nie drauf kommen, wo ich mich verstecke. Allein das schon versetzte mich in ein Hochgefühl. Dass ich ihnen hier voraus war.

Und dann wurde es doch einmal richtig hart. Weil sie so verzweifelt wirkten an diesem einen Abend. Da hab ich sie mit dem Fernglas beobachtet. Hinter den Fenstern. Sie hielten sich fest und weinten. Ganz bitterlich. Und dann sank meine Mutter zu Boden. Wie in Ohnmacht ist sie gefallen. Da ist es ihnen wohl bewusst geworden, was sie verloren haben. Dass ich plötzlich fehlte. Ganz schmerzlich. Schrecklich muss das sein. Wenn man das dann so bemerkt, was man alles auch falsch gemacht hat. All die Fragen, die man sich plötzlich stellt. Und mein Vater zog dann die Vorhänge zu. Oder war das alles nur eine Inszenierung? Ging es dabei vielleicht gar nicht um mich? Ich fühlte mich mit einem Mal nur tot. Und todtraurig.
Ist es das, was sie wollen? Mir beweisen, dass ich tot bin? Nein, so läuft das nicht. Vielleicht habt ihr mich auch schon tausendmal für tot erklärt, wenn ihr mich übersehen habt, mich ignoriert habt, mich nicht zu Wort kommen ließt. Das ist nun eure Strafe. Das müsst Ihr begreifen: Ihr könnt mich erst dann für tot erklären, wenn ICH entscheide, tot zu sein!
Meinen Tod den gibt es nicht einfach so. Da kann man nicht einfach sagen: Ups, nun ist er drei Tage weg oder drei Monate oder Jahre, wir finden ihn nicht. Also melden wir ihn einfach mal als tot. Das entscheiden wir jetzt mal. Nein. Nicht ohne mich. Nein, mein kleines Herz könnt ihr nicht vernichten. Das könnt ihr nicht. Ich überlebe euch alle, obwohl Ihr es jetzt seid, die da an meinem Grabstein stehen. Und jetzt weiß ich es: Mein Tod, das ist der größte Moment in meinem Leben. Grandioser war es nie!

Auch wenn es langsam kalt wird, hier hinter der Mauer. Ich hätte mir auch einen anderen Zeitpunkt für meine Beerdigung aussuchen können. Nicht gerade Februar. Aber die frieren ja auch da drüben. Es ist furchtbar.
Natalie!! Da ist ja Natalie! was macht die denn da? Das kann sie doch nicht ernst meinen. Die glaubt doch nicht, dass ich ernsthaft verschwinde oder mich umbringe! Das gibt’s doch gar nicht. Sie weiß doch, dass ich total verknallt bin in sie. Ja, na ja, vielleicht hat sie das auch nicht so richtig gemerkt. Und jetzt? Die hat vielleicht Nerven. Vor der ganzen Klasse hat sie mich bloß gestellt, nachdem ich ihr geschrieben habe. So was wie: Wenn du auch willst, dann bin ich dein, ganz und gar nur ich allein! So oder so ähnlich. Das war jedenfalls total mies von ihr. Ich hab es ja auch nicht so ernst gemeint, wie es vielleicht klang. Es klang ein bisschen tragisch. Es war halt so aus dem Moment, so voll im Moment. Also warum steht sie dann jetzt auf meiner Beerdigung rum?
Weint sie etwa? Ja tatsächlich, sie weint! Sie weint! Oh Gott, nein, das glaub ich nicht. Natalie. Du bist so süß. Du weinst. Aber wieso am Arm von meinem Vater? Ist sie etwa zu meinen Eltern und hat ihre Liebe gestanden oder was? Hat sie sich das erst nach meinem Tod getraut?

Plötzlich sehe ich all diese Leute an meinem Grab viel genauer, wie scharf gestellt. Wie sie da verheult herumstehen. Wie sie jetzt wieder reden, da die ganze Trauerfeierei am kalten Stein vorbei ist. Aber ich kann sie nicht verstehen. Ich sehe nur ihre Mienen, Hände, die sich halten, Tränen, die verdrückt werden hinter dunklen Brillen. Und ich bin wahnsinnig einsam. Es war eine lange Zeit. So tot zu sein.
Neulich hatte ich auch noch diesen seltsamen Traum: Da träumte ich von einem Sarg, der auf einer grünen Wiese steht. Ich habe Angst, dass meine Mutter darin liegt. Ich öffne den Sarg und bin erleichtert. Es ist nicht meine Mutter, ich liege in der Kiste.

Plötzlich schreie ich so laut, dass sich wohl sämtliche Leichen im Grab umdrehen. Ich habe zwar nie kapiert, wie das gemeint ist. Und ich schreie trotzdem, so schrill, dass die Pappeln über den Grabsteinen erzittern. Und ich laufe, ich renne, ich stürze vorwärts. Extrem lebendig. Zwischen Grabsteinen, auf weißen Kieswegen, über ulkige Strohblumengestecke. Auf einmal kann ich das Entsetzen sehen, in den Gesichtern, die sich mir zuwenden. Wie in Zeitlupe. Vielleicht hab ich wieder diese hektischen roten Flecken, wie immer wenn ich peinlich berührt bin. Alle schauen auf mich. Ist mir egal, denke ich jetzt. Die Wiedergeburt ist ein kräftiger Schrei. Es durchzuckt mich ganz heftig.
Ich öffne die Augen und blinzle in die Sonne, die hinter wild über den Himmel jagenden Aprilwolken hervorlugt. Ich schüttle mich. Und ich denke, es ist herrlich, so auf der Wiese zu liegen und in den Tag zu träumen. Mein Körper fühlt sich ganz schwer an. Und warm. Ich kann gar nicht sagen, ob ich die Erde wärme oder die Erde mich. Egal. Ob ich das noch mache mit dem Abhauen? Mal sehen. Es ist ja schon grandios, sich das nur vorzustellen.

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