Der Geist von Europa

von Andrea Brenner

Gelangweilt saß Matilda in der Schule. Auf dem Kugelschreiber herumkauend blickte sie nachdenklich aus dem Fenster. Trübes, regnerisches Herbstwetter versetzte sie in eine Art Starre, in der es unmöglich war, sich nur in irgendeiner Art und Weise auf den Unterricht zu konzentrieren. Die Glocke riss sie aus ihren Gedanken.
„Für die Hausübung haben Sie Zeit bis Montag“, merkte die Lehrerin an.

Hausaufgabe? Oh je! An der Tafel stand geschrieben: Schreiben Sie einen Text über den „Geist von Europa“. Die Lehrerin hatte sicherlich genauere Details dazu erläutert, doch Matilda hatte die ganze Stunde in Gedanken verschlafen.
‚Egal!’, dachte sie und beschloss, am Wochenende einen ihrer Mitschüler zu fragen.
Das Herbstwetter setzte ihr ordentlich zu. Sie fror ständig, es wurde viel zu früh dunkel, und sie vermisste den Sommer. Sie dachte daran zurück, als sie unter Palmen Eis gegessen hatte. Als sie ihre Zehen in den Sand gesteckt und ein Buch nach dem anderen verschlungen hatte. Und als sie im salzigen Wasser geplantscht und nach Muscheln getaucht hatte. Sie hatte sich gefühlt wie eine Meerjungfrau. War das ein Leben! Dieses Leben musste sie nun eintauschen gegen dicke Socken, heißen Tee, eine warme Wolldecke und eine Wärmeflasche. Eingewickelt lag sie vor dem Fernseher, erschöpft von der anstrengenden Woche. Langsam merkte sie, wie ihre Augen immer schwerer wurden. Plötzlich wurde sie von einem lauten, polternden Geräusch geweckt.
Matilda sprang erschrocken aus dem Bett.
„Aua!“, rief eine piepsige Frauenstimme. „Schon wieder eine Bruchlandung.“
Die Frau war klein und zierlich und hatte lange, blonde, lockige Haare. Sie trug ein goldenes Kleid mit zarten Tüllspitzen, und in der Hand hielt sie einen Stab mit einem gelben leuchtenden Stern darauf. Sie sah aus wie eine Fee aus einem Märchenbuch.
Matilda fühlte sich wie in einem Traum.
„Was willst du hier?“, fragte sie skeptisch.
„Ich wurde hergeschickt, weil du ein Problem bei deinen Hausaufgaben hast. Ich soll dir helfen, den Geist von Europa zu finden.“
Matilda traute ihren Ohren nicht. Und ihren Augen schon gar nicht. Die Fee streckte ihr die Hand entgegen, und Matilda griff danach, ohne groß nachzudenken. Von einer Sekunde auf die andere standen die beiden inmitten einer Menschenmenge. Hastig gingen die Leute an ihnen vorbei, ohne auch nur Notiz von der in Gold gekleideten Fee und dem Mädchen im Schlafanzug zu nehmen. In ihren Händen hielten sie große Tüten, alles war winterlich dekoriert, und „Jingle Bells“ tönte aus den Lautsprechern. Sie waren also in einem Einkaufszentrum gelandet, und das kurz vor Weinachten. Ein in weiß gekleidetes Christkind und ein silber-glitzernder Engel mit einem Heiligenschein über dem Kopf verteilten Gutscheine.
„Amateure!“, rief die gute Fee empört, schnaufte verächtlich und verdrehte die Augen.
Matilda musste lachen. „Was wollen wir hier?“
„Das musst du herausfinden“, antwortete die Fee.
„Also den Geist von Europa kann ich hier nirgendwo entdecken“, stellte Matilda fest. „Höchstens den Geist des Konsums. Lass uns hier verschwinden!“
„Dein Wunsch ist mir Befehl“, scherzte die Fee.
Einmal mit dem Zauberstab gewedelt und schon war es brütend heiß. Auch nun fanden sie sich in einer Menschenmenge wieder, doch diesmal waren sie auf einer Einkaufsstraße. Es war eine tropisch-heiße Nacht, die Menschen waren sommerlich gekleidet. Wieder schleppten sie Tüten, karrten vollbeladene Kinderwägen durch die Gegend oder schlürften Cocktails in einer Bar, aus der laute Musik dröhnte. Ein wenig erinnerte es Matilda an ihren eigenen Sommerurlaub. Aber der Geist von Europa? Wieder nur der Geist des Konsums!
„Lass uns an den Strand gehen“, schlug die Fee vor.
Plötzlich war es hell. Das Tageslicht blendete Matildas Augen. Noch nie zuvor hatte sie so einen Strand gesehen. Nirgendwo lagen sonnenbadende Urlauber. Keine Sonnenschirme, kein Kinderlachen, keine Eisverkäufer. Nur abgemagerte Menschen in Schwimmwesten. Immer wieder ertönten Schreie. Auf dem Meer trieb ein leeres Schlauchboot. Es sah viel zu klein aus für die vielen Menschen, die sich am Strand befanden. Manche weinten, andere saßen im Sand und starrten teilnahmslos zu Boden. Eine Frau hielt ein lebloses Baby auf dem Arm. Sie streichelte es und sang ihm etwas vor, doch sein Kopf und seine Glieder hingen nur schlaff hinunter.
Matilda hatte Tränen in den Augen.
„So großes Elend! Wie kann ich helfen?“
„Du kannst diesen Menschen nicht helfen, wir sind hier nur Beobachter.“
Matilda rief verzweifelt: „Warum bringst du mich hier her? Warum quälst du mich so? An jedem anderen Ort würden wir den Geist von Europa eher finden. Es sei denn, er ist durch und durch böse.“
„Warte noch“, bat die Fee um etwas Geduld.
Da vernahm Matilda ein Hupen. Ein weißer Kleinbus fuhr in Richtung Strand. Er war viel zu schnell unterwegs und bremste sich mit quietschenden Reifen ein. Hastig sprangen drei Menschen aus dem Wagen. Ein Mann holte eine Kiste mit Wasserflaschen aus dem Kofferraum, und eine Frau schleppte einen Karton mit Lebensmitteln. Der dritte hielt einen schwarzen Koffer in seiner Hand und hatte ein Stethoskop um den Hals gewickelt. Liebevoll kümmerten sie sich um die Gestrandeten, gaben ihnen Nahrung und versorgten ihre Wunden. Sie streichelten ihnen über die Schulter, spendeten ihnen tröstende Worte und erklärten ihnen, wie es nun weitergehen würde.
Ein Einheimischer stand neben Matilda und beobachtete das Treiben ebenfalls.
„Die machen das jeden Tag. Sie bekommen kein Geld dafür. In ihrer freien Zeit durchstreifen sie die Insel und sammeln Spenden. Ich könnte das nicht.“
Matilda blieb wie angewurzelt stehen. Die Menschen wurden mit Bussen abgeholt, und es wurden allmählich immer weniger, bis nur noch Matilda und die Fee übrig waren. Matilda starrte aufs Meer, die Wellen und den Horizont. Die Sonne ging langsam unter, und der Strand wurde von einem roten, warmen Licht durchflutet. Nichts außer eine vergessene Schwimmweste erinnerte daran, was sich hier Stunden zuvor abgespielt hatte.
„Ich glaube, wir sind am Ende unserer Reise angekommen“, sagte die Fee.
Matilda nickte.

Hier hatten sie also den Geist von Europa gefunden. Auf einer griechischen Insel. Inmitten von Tavernen, Ouzo, Gyros und Tsatsiki. Wo sich sonst erholungshungrige Urlauber getummelt und um Sonnenschirme gestritten hatten, strandeten nun Geflüchtete. Doch wer half ihnen? Die Urlauber blieben fern, so etwas passte wohl nicht zum Postkartenfeeling. Die drei Helfer waren die einzigen weit und breit, die sich um die verlorenen Neuankömmlinge kümmerten. Sie waren die wahren Engel. Ohne Heiligenschein, Glitzer und Tüll. Und sie lebten tagtäglich den Geist von Europa.

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