Eine Null unter vielen

von Miklos Muhi

Schon wieder lag Müll im Lichthof. Jakob Schmid knurrte etwas über die heutige Jugend und die alten Zeiten, als so etwas noch unvorstellbar gewesen wäre, und ging zur Kammer, um den Besen zu holen. Als er zurückkam, hatten sich die Papierbögen sich noch mehr ausgebreitet, wie die Blätter einer weißen Seerose.
»Was für unerzogene Bengel!«, knurrte Jakob und betrat den Lichthof.

Da fing es an, Papiere zu regnen. Das Meiste schien aus der gegenüberliegenden Ecke zu kommen. Die Bögen rieselten vom Geländer der Galerie. Der schwache, aber ständige Luftzug erfasste einige. Er hob den Besen, als ein Blatt direkt vor seinen Füßen landete. Es war kein leeres Blatt, sondern voll mit schwacher, aber lesbarer Maschinenschrift. Jakob bückte sich langsam, hob es auf und las.
Es war ein Flugblatt. Das Verteilen von Flugblättern auf dem Gelände der Universität war aber verboten. Jakob dachte an die viele, mit Absicht übersehene Flugblätter, in denen es um Veranstaltungen, Wohnungssuche oder Ähnliches ging.
Als er schwerfällig weiterlas, beschlich ihn das Gefühl, dass der Text nichts Neues oder gar Falsches sagte. Dieses Gefühl wurde aber schnell zerschmettert, wie von einem Güterzug erfasst. Die Wörter, die er zu lesen bekam, beschleunigten den Güterzug in seinem Kopf bis zur anerzogenen Raserei.

… Stalingrad … sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt … Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen … verabscheuungswürdigsten Tyrannis … freien Meinungsäußerung … Erkämpfung unserer freien Selbstbestimmung … echte Geistesfreiheit …

Mehr konnte und wollte er nicht lesen. »Elende Verräter!«, ratterte der Güterzug und überfuhr die letzte Barriere seines Mitgefühls.

Er hörte Schritte von der Treppe zu seinem linken. Da gerade Vorlesungen liefen, dürfte nur er im Gebäude herumlaufen. So waren die, die jetzt herunterkamen die Täter.
»Halt, stehen bleiben!«, schrie er und trat vor das Mädel und den Jungen, die zum Ausgang eilten. Er machte sich keine Gedanken darüber, was er tun würde, wenn der Junge, größer und besser gebaut als er selbst, sich zur Wehr gesetzt hätte.
Die Studenten blieben erschrocken stehen. Er fasste sie am Oberarm und hielt sie fest.
»Und jetzt rauf zur Kanzlei mit euch! Ihr werdet schon sehen, was solchen Subjekten wie euch blüht!«
Sie ließen sich widerstandslos nach oben führen. Nach kurzer Erläuterung vom Jakob nahm sie der Kanzleisekretär in Gewahrsam und führte sie zum Syndikus. Dieser griff sofort zum Telefon und alarmierte die Gestapo.

*

Jakob war mächtig stolz. Während des nur für ihn ausgerichteten Dankesfeier wurde er befördert. Das bedeutete wesentlich mehr Lohn, doch dabei blieb es nicht. Man übergab ihm einen Umschlag mit seiner Belohnung. Die 3000 Reichsmark waren steuerfrei. So viel Geld hatte Jakob noch nie an einem Haufen gesehen.
Der Güterzug in seinem Kopf fuhr mit voller Geschwindigkeit, als die hohen Herren die großen Reden schwangen. Er war ein Held, er hatte seinem Vaterland einen großen Dienst erwiesen und würde dafür belohnt. Mehr als jede materielle Belohnung oder Beförderung zählte der Jubel der Studenten, deren, die ihn für gewöhnlich kaum bemerkten, während er seiner Arbeit nachging. Das waren die Studenten, die sich oft über ihn lustig machten, die manchmal hochnäsige Schnösel, die sich für etwas Besseres hielten.
Alle jubelten ihm, dem Pedellen, stehend und mit ausgestrecktem rechtem Arm zu. Etwas Schweres lag ihm im Magen, dass für seinen feierlichen Moment viele Menschen sterben und leiden müssten, aber den Güterzug konnte das nicht aufhalten.

*

Jakob wurde mit der Zeit immer besser im Verdrängen. Das war auch nötig, denn das Leiden, das seine große Stunde ermöglicht hatte, hatte auch andere Namen, die der Güterzug zu übertönen versuchte: Volksgericht, Aufhängen, Tod, Erschießen, Rassenverfolgung, Lager, Auschwitz, Neuengamme, Dachau. Diese widerhallten in seinem Kopf, als die Fliegerbomben um den Schutzbunker detonierten.
Der Güterzug stotterte während der Angriffe immer öfter. Als der Rundfunk kundgab, dass der Führer tot sei, blieb er endgültig stehen. Nur Hunger, Zerstörung und Angst blieben, zusammen mit einem feigen Selbstmord, der tausend-, wenn nicht millionenfach kopiert und damit zum heroischen Akt stilisiert wurde.

*

Die fremden Soldaten brachten noch mehr Angst. Sie wussten viel und erfuhren noch mehr. Sie waren ruhelos in ihrer Suche nach Fakten.
Verstecken wollte Jakob sich nicht. Er war sicher, dass er nicht zu befürchten hätte. Er war doch ein Niemand, eine Null, wie viele andere auch. Keiner war wichtig. Das ganze Land wurde zu machtlosen Nullen, die aus der Million übrig blieben, nachdem die Eins am Anfang, selbst kaum mehr als eine Null, sich feige ausradiert hatte.
Jakob wurde verhaftet und vor Gericht gestellt. Er beteuerte stets, nur seine Pflicht getan zu haben. Er hätte die Studenten nur festgesetzt, weil das Verteilen der Flugblätter in der Universität verboten gewesen war. Für den Inhalt hätte er sich gar nicht interessiert.
Trotz all den wurde er als Hauptbelasteter eingestuft. Richter Mayer brummte ihm noch im gleichen Atemzug fünf Jahre Arbeitslager auf. Als Jakob dachte, dass er fertig wäre, wurden ihm sämtlichen öffentlichen Bezüge und das Recht, ein öffentliches Amt auszuüben, aberkannt.
Als er wieder klar denken konnte, freute er sich sogar auf das Arbeitslager. Da bekam man zumindest etwas zum Essen und ein Dach über den Kopf. Sein Geld auf der Bank, zusammengespart von seinem erhöhten Gehalt und der Belohnung, war nichts mehr wert. Er fürchtete die Entlassung, die in seinen Augen Armut und Obdachlosigkeit bedeutete.

*

Nach den fünf Jahren bekam er, zusammen mit seiner Freiheit, auch seine Rente zurück. Überhaupt ging man das Ganze etwas lockerer an. Viele Nullen kamen letztendlich ungeschoren davon. Angesichts des Wirtschaftswunders, interessierte sich niemand mehr für die Nullen, die damals hinter Hitler standen.
Nur die Nullen am Ende der Zahlen auf der Gehaltsabrechnung waren wichtig.

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