Zu Tisch

von Bastian Klee

Es war in etwa genau 15.30 Uhr, als Pernilla ihren Stuhl vorsichtig und möglichst geräuschlos zurückzog, um aufstehen zu können. Sie hatte in den letzten Monaten etwas zugelegt, auch das sollte man ihr nicht unbedingt anmerken. Vieles ging ihr durch den Kopf, wenig von Belang. Am ehesten interessierte sie das, was es zu tun gab, also fand man sie wenige Augenblicke später in der Küche wieder, wo sie die bereits aufgetaute Walnusstorte anschnitt und draußen an den Tisch zu den anderen trug.

Dort saßen sie und klirrten mit ihren Teelöffeln an ihre Kaffeetassen. Womöglich bemühten sie sich, der aufkommenden Stille trotzig entgegenzuwirken. Wahrscheinlicher ist, dass sie beim Umrühren der Kondensmilch im noch heißen Kaffee vertonten, was sie an anderen Stellen schweigen konnten.
„Hast du selbst gebacken?“, fragte Tilda.
„Selbstgekauft“, antwortete Pernilla, „drüben bei Svenssons Bäckerei. Mir fehlt im Moment die Zeit, um ans Backen zu denken. Mir fehlt die Zeit, um an irgendetwas zu denken. Jedes Jahr im Frühling rennen die Leute uns die Türen ein.“
„Wem sagst du das“, antwortete Kjell, der dem einzigen Pärchen des Tages gegenüber saß.
Frieda hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Emil auf dieses stets froh erwartete Ritual mitzuschleppen. Es nahm ihr nichts an der Langenweile, aber sie hielt die Hand eines Menschen, den sie mochte, und das machte doch so einiges wieder gut.
„Wem sagst du das“, gab Kjell also zum Besten, “aber zumindest haben wir es geschafft, uns zu treffen. Tradition siegt. Jeden zweiten Sonntag jedes zweiten Monats. Das lassen wir uns nicht nehmen.“
„Das lassen wir uns nicht nehmen“, stiegen sie alle bis auf Emil ein, der immerhin lächelte.
Alva, die neben Kjell saß, wippte ungeduldig mit den Füßen.
„Können wir anfangen?“
„Alva, Alva, wie wir sie kennen und lieben. Immer einen Zacken ungeduldiger als der Anstand es verlangen würde“, warf Mats nun ein, der die Runde komplettierte.
„Mats, Mats, immer einen Stock mehr im Arsch, als es bequem wäre“, erwiderte Alva.
„Na, wenn der Kuchen von Svenssons ist, brauchen wir ja nicht so zu tun, als würde er schmecken“, schmatzte Kjell.
„Was soll denn das wieder heißen?“, wollte Pernilla wissen, die schon wieder am losgehen war, um neuen Kaffee aufzusetzen. Sie bekam keine Antwort, und man konnte davon ausgehen, dass sie das eingeplant hatte.
Frieda streichelte Emil derweil den Oberschenkel, bis sie plötzlich seinen Penis durch die äußerst dünne Sommerhose streifte und dieser das mit einer sofortigen Erektion quittierte. Er sah Frieda hilfesuchend an.
Mach nichts, was mir noch peinlicher wäre, schien er sie anzuflehen. Anschließend starrte er in den Himmel und versuchte sich vorzustellen, wie seine Mutter starb oder der Krieg ausbrechen würde.
Es half nichts, seine Erektion blieb, wo sie war.
„Du hast wohl einen kleinen Ständer“, flüsterte sie Emil so zu, dass jeder am Tisch es hören konnte. Bis auf Pernilla, die noch mit dem Kaffee zu Gange war.

„Kjell?“, fragte Tilda. „Kjell? Kannst du mir noch ein Stück Torte reichen?“
Tilda standen die Schweißperlen beinahe schon auf der Stirn.
Kjell, der nicht wusste, ob er Frieda und Emil beobachten oder mit seinem Blick das Weite suchen sollte, beobachtete Frieda und Emil und reichte Tilda ein Stück Torte. Die sah die Kurzweiligkeit ihres Erfolges auf der Stelle ein.
Währenddessen: „Hey, Emil, lass mich ihn rausholen, er hat doch Lust auf mich, hmm?“
Emil erwiderte nichts.
Kjell senkte den Kopf ein wenig, in der albernen Hoffnung, sein Gaffen etwas unauffälliger zu gestalten. Pernilla stand in der Küche und war mit dem Kaffee fertig.
Mats’ Gesichtszüge entglitten nur halbherzig und aus diesem Grund versuchte er die Maiglöckchen in Pernillas Garten zu zählen. Alva aß. Tilda wiederum war die einzige am Tisch, in der es hektisch arbeitete.
Was mache ich jetzt? Wen frage ich was? Noch ein Stück Kuchen? Das lenkt nicht ab und satt bin ich obendrein. Kjell nach der Arbeit fragen? Mats um einen Spaziergang bitten? Wie kann Alva nur so unbesorgt essen? Ha! Jetzt hat sie doch hingesehen! Ich will sterben. Ich will auf der Wiese liegen und Sommerlieder hören und ein kaltes Wasser trinken.

Frieda rieb an Emil herum, der ein etwas angestrengtes Gesicht aus der erhabenen Kiste überforderter Gesichtsausdrücke zog. Es wird ihm wohl nicht ganz angenehm gewesen sein, und gleichzeitig konnte man auch seine Erregung nicht völlig unter den Tisch kehren.
„Ich hol ihn jetzt raus, Emil“, hauchte Frieda, und dann etwas lauter: „Wir haben schon lange nicht mehr gefickt. Heute Abend hast du etwas wieder gutzumachen.“
„FRIEDA“, versuchte es Mats. „SPINNST DU?“
Pernilla stapfte mit dem Kaffee durch den Garten, und, als sie sah, was am Tisch so vor sich ging, drehte sie sofort wieder um. Kaffee … kalt … ich geh nochmal aufwärmen … könnte sie vor sich hin gemurmelt haben. Man verstand keines ihrer Worte exakt.

„Ok, es ist, wie es ist, wollen wir einen Spaziergang machen?“, nahm Tilda all ihren Mut zusammen und präsentierte ihren provisorischen Vorschlag.
Kjell senkte seinen Kopf noch etwas weiter, trank hin und wieder einen Tropfen Kaffee, schien sich wahnsinnig für seinen leergeputzten Teller zu begeistern, und es wäre jedem ein leichtes gewesen, ihn dabei zu ertappen, wie er Frieda und Emil zusah, wenn sie nicht selbst alle mit sich und diesem vom Himmel gefallenen Skandal zu kämpfen gehabt hätten.
Alva aß nicht mehr, sie war fertig damit, spielte an ihrem Stuhl, beobachtete Frieda, beobachtete Emil, sah ihm auf den Penis, schmunzelte und machte sich wieder an ihrem Stuhl zu schaffen. Wenn sie sich ihrer Rolle auch mit Herzblut hingab, so kam sie nicht darüber hinaus, die Unbeeindruckte nur vorzugaukeln.

„Kjell, Mats, Alva, lasst uns spazieren gehen“, probierte Tilda es noch einmal.
Und es gelang ihr, die Aufmerksamkeit einen winzigen Moment auf sich zu ziehen. Während dieses Augenblicks, den sie zu Tilda und wieder weg von ihr blickten, wurde ihnen das Geschehen in all seiner Natürlichkeit bewusst. Was auch immer sie davon hielten, da war es nun mal.
Mats fing sich als erster wieder.
„Ich kann nicht glauben, was ich hier sehe. Frieda, du bist eine widerliche Frau. Wie du Emil bloßstellst und seinen Schwanz hier durch die Gegend fliegen lässt.“
Emil blickte noch immer etwas angestrengt um sich.
Pernilla mauerte sich in ihrer Küche ein. Sie war fassungslos. Sie wäre zu Staub zerfallen, hätte sie der Situation eines unglücklicheren Timings wegen doch beiwohnen müssen.
An normalen Tagen wäre Emil schon längst gekommen. Die Umstände lenkten ihn nun etwas ab, daher zog es sich hin.
Frieda rieb seinen Penis unbeeindruckt weiter. Sie schaute Emil ins Gesicht und dann wieder, was sie etwas weiter unten so vor sich hin praktizierte.
Mats hatte also Zeit, noch einen zweiten Versuch zu unternehmen.
„Ich finde das abartig“, tönte er.
„Der Erfinder des Anstandes nimmt sich die Maßlosigkeit einer Weltmeinung heraus“, warf ihm Alva entgegen.
Es klang ein wenig einstudiert, aber vielleicht war sie so spontan.
„Du bist nicht objektiv”, entgegnete sie ihm noch dazu.
Mats ignorierte Tildas flehenden Blick und schaute quer zu Alva.
„Das kann ich gerne sein für dich“, antwortete er ihr.
„Rein objektiv ist das eklig.“
Alva lächelte ihn siegessicher an. Frieda holte zum Endspurt aus. Emil blinzelte dankbar unter den Tisch.
„Rein objektiv findet es statt“, entgegnete Alva Mats.

„HERRGOTTNOCHMAL“, schrie Tilda, aber sie hatte keine Idee. Ihr Notfallplan entglitt.
Niemand beobachtete Kjell, der sich kaum noch bemühte, verstört zu sein. Er gaffte einfach.
Frieda rieb wie eine Bekloppte, und Emil kam nicht umhin, zu stöhnen. Er glotzte das Gras unter dem Tisch an und kam. Auf seinen Oberschenkel, in Friedas Hände, bis hin zu seinem Bauchnabel. Auch sein Sweatshirt bekam etwas ab.
Kjell war der erste, der begriff. Er trank aus seiner leeren Kaffeetasse.

„Ich gehe mir die Hände waschen“, sagte Frieda, küsste Emil auf die Stirn und spazierte Richtung Haus.
Alva fühlte sich gut, war aber nicht sicher genug, um in die Runde zu blicken. Sie visierte eine der Schäfchenwolken an.
Mats überlegte einen Moment, Emil eine vorwurfsvolle Miene anzubieten, und entschied sich dagegen. Er würde Frieda eine Brandrede halten. Eine ellenlange Brandrede, die davon leben würde, ellenlang zu sein.
Tildas Schweißperlen hatten es in Scharen bis auf ihre Stirn geschafft.
Von allen unbeobachtet war Pernilla k.o. gegangen. Ohnmächtig stand sie in der Küche.
Emil dagegen hatte es leicht. Seine Hose hing irgendwo an den Knien, also zog er sie hoch.

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