Welt am Rand

von Nikola Henze

Womöglich hatte er mich tagelang in der Gartenkolonie am Nordostbahnhof beobachtet, wo ich mit dem Gemüse der früheren Laubenpieper beschäftigt war, üblicherweise kam ich zu Fuß. Irgendwann fiel mir das schwarze Hollandrad am Eingang auf, und ich beschloss, mir das Fortbewegungsmittel anzueignen. Als ich zum Seitenschneider griff, den ich seit dem Tod meines Mannes immer bei mir trage, will er mich zum ersten Mal überhaupt gesehen haben und schlug blitzschnell zu. Das ist die Version, auf die Breff  besteht.  Ich finde genauso wahrscheinlich, dass er sein Fahrrad als Köder benutzt hat.
Zu Recht lässt sich einwenden, dass diese Haarspalterei überflüssig ist. Schließlich sind alle Menschen tot, bis auf uns zwei. Und das Fahrrad haben wir nun beide in Gebrauch. Aber wehe, ich will damit losfahren, um Klamotten zu besorgen. Breff hat panische Angst, dass ich ihn verlasse, etwa weil mir beim Einschlagen eines Schaufensters ein Riesensplitter in den Kopf dringt oder weil ich im Supermarkt einen Kameraden aus der Grundschule treffe, den ich schon immer süß fand und der noch besser aussieht als Breff.

Wir hausen in der südlichen Laubenkolonie am Fluss und bereiten uns auf den ersten Winter ohne Mitmenschen vor. Tagsüber lässt mich Breff meistens allein. Geht auf die Jagd oder fällt Holz mit  „geliehenem“ Werkzeug aus dem Baumarkt. In der Zwischenzeit habe ich ein bisschen Unkraut gejätet, den Zucchini gut zugeredet, Aprikosen gepflückt und eingemacht. Ich koche mit Töpfen auf einem Kamin, den ein ehemaliger Pächter mit einer Herdplatte ausstatten ließ.
Wenn ich so den ganzen Tag allein bin, denke ich viel meinen Mann. Andi war viel älter als Breff, mit schlaffem Bauch, schütter werdendem Haar, kraftlosen Armen und Beinen. Vom Wesen her war er fest in der alten Welt verwurzelt, ein Energiefachmann, praktisch veranlagt und sprühend vor Optimismus. Er war es, der alle Bewohner im Haus mit Kaminen versorgte, deren Abluft zusätzlich zur Wärmegewinnung genutzt werden konnte.

Andi wurde, wie die meisten anderen, vom Krebs dahingerafft. Eine glückliche Minderheit starb an Infektionen, das ging schneller. Vor der dritten Chemo wurde Andi bewusst, dass die Schlacht geschlagen war. Er sagte die Behandlung in der Klinik ab, aber ich bin nicht sicher, ob er noch jemanden von Relevanz erreichte, denn das Personal war ja genauso krank wie die Patienten. Die möglichen Ursache für einen alle Menschen erfassenden Krebs wurden bis zuletzt diskutiert: WLAN, genmanipuliertes Essen, exzessive Landwirtschaft, verseuchtes Gemüse, tote Bienen, zu viel und zu wenig Fleisch.

Andi wollte seine letzten Tage im geliebten Fahrradkeller verbringen. Vorher besorgte er nicht nur für sich, sondern für alle im Haus Leichensäcke und schärfte mir ein, dass ich sie später jedem einzelnen aushändigen solle. Der noch lebende Partner oder Verwandte wüsste, was damit zu tun sei. Selbstverständlich würde ich Andi nachfolgen, in absehbarer Zeit, davon gingen wir aus. Kaltblütig bettete sich Andi auf eine Matratze, die wir mit zwei Isomatten gegen den kalten Kellerboden abgedichtet hatten.
„Lena, ist schon okay“, sagte er zu mir, als ich ihm Suppe brachte und heißen Tee und bei ihm sitzen blieb bis zuletzt, ich hatte mir extra den leichten, weißen Elefantenhocker, den wir von seinem Bruder geerbt hatten, mit hinunter genommen und las ihm aus einem Buch vor, das Interviews mit berühmten Menschen der Gegenwart enthielt, darunter mein Lieblingskolumnist Axel H.. Andi kroch aus eigener Kraft in das baumwollene Innenleben des Sacks und legte sich so, dass ich am Ende, eine Stunde nach seinem letzten Atemzug (so hatten wir es verabredet) nur noch den Reißverschluss zuziehen musste.
Bis dahin verging fast ein ganzer Tag, an dem er  bewusstlos war, seine Nieren versagten. Infolgedessen schwoll Andis Körper an, was ihm ein jüngeres Aussehen verlieh, wenn man es wohlmeinend betrachtete. Danach legte ich den anderen Bewohnern ihre Säcke vor die Tür und verließ das Haus. Ich brachte es nicht mehr über mich, ein Fahrrad aus dem Keller zu holen, und so zog ich zunächst zu Fuß los, ausgerüstet mit einer kleinen Tasche mit Anziehsachen, dem Seitenschneider, einer Brechstange und einer Fuchsschwanzsäge. Ich lebte von Dosenravioli, zog von Wohnung zu Wohnung, als alle anderen auch tot waren, bis ich die Spülungen in sämtlichen Stockwerken gedrückt und alle Wasserreste in den Leitungen hinunter gespült hatte. So hielt ich es Monate, bis ich Breff traf. Viel mehr, bis er mich traf und mitnahm

Breff erzählte nichts über sich. Er bestätigte nur, dass er jünger sei als ich, und behauptete, dass sein bescheuerter Name ein ernst zu nehmender amerikanischer Männername sei. Ansonsten antwortete er einsilbig, wenn ich ihn fragte, wo er herkam, was er früher gemacht hatte, was mit seiner Familie war.
Wenn ich von Andi erzähle, was eher versehentlich passiert, etwa weil ich einfließen lasse, wie Andi mit dem Kamin umgegangen wäre, wird Breff richtig ungemütlich. Er brüllt dann „Das interessiert jetzt nicht!“ und rauscht ab, nicht ohne vorher zu befehlen: „Jelena, du bleibst hier!“
Wenn ich richtig genervt bin, zische ich, „und wenn nicht?“ Er tut dann so, als hätte er mich nicht mehr gehört.

In meinem früheren Leben betreute ich Jugendliche, die Schwierigkeiten in der Schule hatten. Wir bastelten hauptsächlich und es gelang mir dabei, den Kids wichtige Sachen beizubringen, sich selber zu mögen und sich etwas zuzutrauen, egal, ob sie dafür Bestätigung bekamen. Zur Anwendung kam das Erlernte wohl nicht mehr. Außer bei mir, ich hielt an der Kunst fest: Ich stellte eine echt schöne Porträtbüste von Breff her. Ich verwendete selbst härtende Modelliermasse, die ich in einem der ausgestorbenen Mehrfamilienhäuser gefunden hatte, setzte sie auf einen Pappmarchékörper auf und bildete sein Gesicht mit Hilfe von Fotos nach.
Breff überließ mir einen Unterwäschekatalog, in dem er abgebildet ist. Als ich nachfragte, gab er zähneknirschend zu, dass er eine Zeit lang, aber nur nebenher, als Model gearbeitet hätte. „Das hat keine Bedeutung!“, zischte er und verbot mir, weiter davon zu sprechen. Wovon er dagegen oft spricht: dass wir bestimmt noch Überlebende treffen werden, und wenn sie Kinder haben oder ersichtlich ist, dass sie welche bekommen können, würden wir auch sofort damit anfangen. Bis dahin gibt es praktisch keinen Sex.

Heute ist so ein Tag, an dem ich mit dem falschen Fuß aufgestanden bin. Dass ich überhaupt aufgestanden bin, ist wahrscheinlich der Fehler. Vor mir liegt unsere benutzte Bettwäsche, die ich stundenlang in Wasser, das ich in riesigen Bottichen auf dem Kamin heiß bekommen muss, einweichen und genauso viele Stunden im Fluss auswaschen darf. Das Schlimmste für mich war schon immer, meine Hände in kaltes Wasser zu tauchen. Breffs einziger Kommentar heute Morgen: „Du bleibst zuhause, du weißt ja, was du zu tun hast!“
„Du kannst mich mal!“, schrie ich ihm hinterher. Und fuhr umgehend mit dem schwarzen Hollandrad Richtung Innenstadt.

Das schwedische Modehaus ist meine erste Anlaufstelle. Überall gibt es Spiegel, die einen von vorne, von der Seite und von hinten zeigen. Meine Locken sind seit dem letzten Besuch eine ganzes Stück länger geworden, stelle ich fest. Obwohl ich mich sicherlich weniger pflege, sehe ich besser aus als früher. Meine scharfe Stirnfalte zwischen den buschiger werdenden Augenbrauen passt zur Situation, meine melancholisch wirkenden Augen haben eine funkelnde Schärfe gewonnen. Dass meine dünnen Arme sichtbare Muskeln entwickelt haben, ist auch ein Fortschritt, auch wenn mir da gerade keiner zustimmen kann. Mein Hintern war schon immer klein und fest, aber er könnte kräftiger geworden sein. Ich probiere ein weißes Rüschenkleid, das in einem reizvollen Kontrast zu meiner gebräunten Haut und der einsatzbereiten Ausstrahlung steht, und versuche mir vorzustellen, wie Breff darauf reagieren wird. „Das hast du geklaut!“ oder „Lächerlich, zieh dir was zum Arbeiten an!“ vielleicht? Oder wird er den Widerspruch zwischen meiner sportlichen Erscheinung und dem mädchenhaften Kleid unbewusst wahrnehmen, sogar sexy finden?
Gerade streife ich meine Lockenpracht nach hinten und rolle sie zu einem oberflächlichen Knoten, der sich bei den nächsten Bewegungen wieder lösen wird, da höre ich etwas, das keineswegs wie eine menschliche Stimme klingt, eher wie eine Maschine, und trotzdem hat das ungewohnte Geräusch so unfassbar viel mit Menschsein zu tun, dass es mir vor banger Hoffnung beinahe das Herz zerreißt.
Ich traue mich kaum, sie als Worte zu erkennen. Denke, sie müssen vom Band kommen, werden von einem Gerät abgespielt. Womöglich haben ein paar Menschen vor ihrem jämmerlichen Tod in einer Radiostation einen Hilferuf auf diese Stunde programmiert, der nun sinnlos durch die leeren Gassen schallt? Ja, es hört sich nach Rufen an, und es kommt näher, das schlussfolgere ich wegen des lauter werdenden Geräusches. Da löse ich mich aus meiner Erstarrung und renne die tote Rolltreppe nach unten, beziehe Posten hinter einem Kleiderständer im Eingang, wo ich Sicht auf die schmale Gasse habe, die früher die Fußgängerzone war. Nun sehe ich tatsächlich einen Schatten näherkommen, ungefähr den Umriss eines Menschen, und endlich verstehe ich auch, was dieser jemand durch einen Trichter ruft, unablässig und knisternd: „Isch do wer? Isch do wer?“

Ein alter, zierlicher Mann hängt an dem Megaphon, als gebe es ihm Halt, er trägt einen hässlichen Vollbart, karierte Shorts und ein coelinblaues Polohemd, das unangemessen sportlich wirkt. Dass der Mann mit dem schwer verständlichen Dialekt aus dem tiefsten Schwabenland kommt, locker 200 Kilometer von hier entfernt, überzeugt mich davon, dass er real ist. Alles andere wäre unerträglich, grausame Ironie, die anzuwenden an der einzigen Überlebenden der Menschheit sinnlos verschwendet wäre.
Ich verabschiede mich gedanklich von dem schönen, wortkargen und unbeweglichen Antlitz Breffs und komme auf zitternden Beinen aus meinem Versteck hervor.

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