Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – Die Kurzgeschichte

Kluge Hinweise von Mara Laue

1. Kennzeichen der Kurzgeschichte

„In der Kürze liegt die Würze.“ Dieses alte Sprichwort gilt ganz besonders für die Textgattung der Kurzgeschichte. Sie bedingt deshalb, dass jede Information, jede Handlung, jede Szene, jeder Dialog und alles andere, was nicht in direktem Bezug zu der erzählten Geschichte steht, überflüssig ist und weggelassen werden sollte. Noch mehr als im Roman, in Erzählungen oder Novellen sollte die Handlung verdichtet sein und (von Ausnahmen abgesehen) so stringent wie möglich erzählt werden. Doch gerade dieser Punkt bereitet Neulingen (und nicht nur ihnen) am Anfang ihrer „Kurzgeschichtenschreibkarriere“ die größten Probleme. Hier hilft tatsächlich nur fortwährende Übung und Rückmeldungen aus dem Lektorat.

Ein Kennzeichen guter und vor allem traditionell geschriebener Kurzgeschichten ist, dass viele Dinge nicht direkt angesprochen werden, sondern „zwischen den Zeilen“ zu finden sind. In diesem Zusammenhang prägte Ernest Hemingway den Begriff vom „Eisbergmodell“: „Wenn ein Prosaschriftsteller genug davon versteht, worüber er schreibt, so soll er aussparen, was ihm klar ist. Wenn der Schriftsteller nur aufrichtig genug schreibt, wird der Leser das Ausgelassene genauso stark empfinden, als hätte der Autor es zu Papier gebracht. Ein Eisberg bewegt sich darum so anmutig, da sich nur ein Achtel von ihm über Wasser befindet.“

Diese hohe Kunst beherrschen beileibe nicht alle Schreibenden und wünschen das Subtile manchmal auch ganz bewusst nicht. (Außerdem gibt es Lesende, die sich mit dem Entdecken/Erkennen des Subtilen schwertun. Manche verstehen den Sinn einer Geschichte oder eines Romans nicht einmal dann, wenn wir sie ihnen detailliert offenbaren. Aber die sind die Ausnahmen.) Allerdings kommt es in der modernen Literatur auch darauf an, in welchem Genre und für welche Klientel wir schreiben. Es gibt Genres, denen das Subtile nicht immer bekommt, z. B. Fantasystorys und auch viele Kriminalgeschichten.

Trotzdem gilt für selbst die kürzeste Szene, die kürzeste Geschichte, dass die Lesenden

  1. sich darin „zurechtfinden“, also wissen müssen, wer „da“ ist und/oder wo sie spielt (zumindest angedeutet, falls das wichtig ist).
  2. der Handlung lückenlos folgen können, sodass sie einen Sinn ergibt, ohne dass Fragen offenbleiben. Bewusst offene Enden sind hier natürlich ausgenommen.
  3. Außerdem muss eine Story einen Sinn haben, ein Ziel, einen Kernpunkt als sinngebende Aussage. (Bei Humoresken ist die Pointe bzw. die Erheiterung der Lesenden der Sinn.)

Nicht jeder kurze Text ist jedoch eine Kurzgeschichte. Sachberichte oder Tagebucheintragungen können auch kurz sein, erfüllen aber nicht die Kriterien einer Kurzgeschichte, die von einer HANDLUNG geprägt ist, welche aus der Sicht der Hauptperson (oder einer anderen Person) der Geschichte beschrieben wird. Handlung, besonders (aber nicht nur) bei der Kurzgeschichte, bedeutet, dass jemandem etwas passiert, jemand etwas erlebt: Etwas Positives, Negatives, Lustiges, Bewegendens, Bedrohliches, Veränderndes. Diese Handlung kann durchaus die Reflexion der einzigen vorkommenden Person sein, an deren Ende eine für sie wichtige Entscheidung oder Erkenntnis steht oder die eine andere Konsequenz hat.

Lina blickte aus dem Fenster ihres Wintergartens auf den See hinter dem Haus. Die Bäume, deren Blätter noch vor einer Woche in Gelb und Rot geleuchtet hatten, ragten als kahle Gerippe aus dem Morgennebel. Raureif lag auf dem Gras und dem Schilf – rau wie Linas Haut und weißgrau wie ihr Haar. Das hatte sie vorhin im Spiegel wieder deutlich gesehen.
Das machte ihr nichts aus. Sie hatte sich jede Falte im Gesicht redlich verdient, besonders die Lachfalten, und jedes graue Haar ebenfalls. Sie empfand ihr Alter nicht als eine Krankheit oder gar als Schrecken, obwohl alles langsamer vonstatten ging und sie immer häufiger und länger müde war. Dafür hatte sie sich ihre geistige Spannkraft bewahrt und konnte aus einem riesigen Schatz von Erfahrungen schöpfen. Doch diesen Schatz konnte sie mit niemandem teilen.
Wind bewegte das Schilf. Lina hörte das leise Rascheln durch das geschlossene Fenster. Das Geräusch erinnerte sie an flüsternde Stimmen, als sprächen Geister. Das Gedicht vom Knaben im Moor kam ihr in den Sinn, in dem ebenfalls Schilf raschelte, vom Knaben als bedrohlich empfunden.
Der Gedanke an den Jungen aus dem Gedicht ließ sie zu dem Foto auf dem Beistelltisch blicken, das ihren Sohn und seine Frau zeigte. Beide kamen nur selten zu Besuch; sie waren beruflich zu sehr eingespannt. Lina bedauerte, dass nicht nur dieser Umstand verhinderte, ihrem Sohn all ihr Wissen vermitteln zu können, das nicht verloren gehen sollte: all die Weisheit, die sie gewonnen hatte, ebenso wie die kleinen Tricks, sich den Alltag etwas leichter zu machen. Und erst recht das Wissen darüber, wie man mit natürlichen Mitteln Krankheiten heilte: Knoblauch als natürliches Antibiotikum, Zwiebelsirup gegen Husten, Salbeitinktur gegen Halsweh, Arnikatinktur gegen Entzündungen und all die anderen Dinge, die teilweise besser halfen und vor allem schonender wirkten als die modernen Medikamente.
So viel Wissen durfte nicht verloren gehen, nur weil die Familie keine Zeit hatte und, wie Lina sehr wohl wusste, auch kein Interesse an dem „alten Kram“, der ihrer Meinung nach längst überholt war. Das stimmte sie traurig.
Seufzend nahm sie ihr Tagbuch, das immer griffbereit auf dem Tisch lag, um sich die Traurigkeit von der Seele zu schreiben. Schreiben hatte ihr schon immer geholfen, mit selbst den schlimmsten Schicksalsschlägen fertigzuwerden. Schreiben …
Die Antwort auf ihr Problem lag vor ihr auf dem Tisch: schreiben! Sie konnte all ihr Wissen aufschreiben und es ihrer Familie hinterlassen. Vielleicht nicht nur der Familie. Bestimmt gab es viele Menschen, auch junge Menschen, die sich für das Wissen der Alten interessierten. Vielleicht wollte sogar ein Verlag ein solches Werk haben. Lina hatte zwar ihr Leben lang mit der Hand geschrieben, aber sie fühlte sich mit ihren achtundsiebzig Jahren keineswegs zu alt für einen Computerkurs. Das würde eine neue, interessante Herausforderung!
‚Ich werde einen Computerkurs belegen und mein Schatzbuch schreiben’, notierte sie in ihr Tagebuch. Draußen stieß das Sonnenlicht durch den Nebel und lächelte dazu.

Diese Story (3058 Anschläge) zeigt uns, wie eine alte Frau aus der Traurigkeit darüber, dass ihr immenser Wissensschatz vielleicht verloren gehen könnte, eine Lösung findet und (wieder) neugierig und voller Tatendrang und neuer Pläne in die Zukunft blickt. Für sie ein einschneidendes, entscheidendes Erlebnis, das in der Realität wahrscheinlich nur ein paar Minuten gedauert hat, vielleicht eine halbe Stunde, wenn wir die vorangegangene Betrachtung des Sees, die diese Gedanken ausgelöst hat, mitzählen. Aber diese paar Minuten haben intensive und, wenn ihr Plan mit dem Buch funktioniert, weitreichende Folgen für Linas weiteres Leben.
Wenn man die Story noch einmal genau durchliest, stellt man fest, dass die Handlungen stringent aufeinander aufbauen und ein Gedanke aus dem anderen folgt. Kein einziger ist überflüssig.

  1. Der Blick auf die Winterlandschaft vor dem Fenster macht Lina ihr Alter bewusst. Ohne diesen Anblick hätte sie in diesem Moment sicherlich nicht daran gedacht. Deshalb ist für die Story wichtig zu erwähnen, dass sie die Landschaft betrachtet (und anzudeuten, wie sie aussieht, besonders dass Winter ist), sonst wirkt der Gedanke an ihr Alter „aus dem Hut gezaubert“ ohne konkreten Anlass und Zusammenhang.
  2. Durch die Betrachtung der Landschaft fällt ihr das Schilfrascheln auf, welches sie an das Gedicht vom Knaben im Moor erinnert („Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff).
  3. Der Gedanke an den Knaben aus dem Gedicht lenkt ihre Gedanken zu ihrem eigenen Sohn, weshalb sie auf das Foto von ihm und seiner Frau blickt. Ohne die Erinnerung an das Gedicht, wäre ihr der Sohn wahrscheinlich jetzt nicht in den Sinn gekommen. Alle folgenden Gedanken ebenfalls nicht.
  4. Das dadurch ausgelöste Bewusstsein, dass er unter anderem wegen der großen Entfernung zwischen ihnen nicht ihren Wissensschatz „heben“ kann, macht ihr bewusst, wie viel Wissen sie tatsächlich besitzt und dass es mit ihrem nicht mehr allzu fernen Tod in vielleicht zehn Jahren, vielleicht weniger, verloren gehen wird. Das verursacht ihr eine gewisse Angst; ihr „passiert“/widerfährt eine Angsterfahrung.
  5. Diese veranlasst sie, nach einer Lösung zu suchen, um das drohende „Unheil“ – Verlust des Wissens – abzuwenden. Das Bewusstwerden der Verlustgefahr generiert den Wunsch, das Wissen unbedingt zu erhalten.
  6. Das wiederum macht ihr das Desinteresse des Sohnes daran nachdrücklich bewusst.
  7. Sein Desinteresse stimmt sie traurig.
  8. Um sich die Traurigkeit von der Seele zu schreiben, die ohne die Gedanken an den Sohn nicht aufgekommen wäre, greift sie zum Tagebuch.
  9. Das Tagebuch, das sie ohne die vorherige Assoziationskette zu diesem Zeitpunkt nicht in die Hand genommen hätte, weil sie keinen Grund zur Traurigkeit gehabt hätte, führt zu der Idee, ihr Wissen aufzuschreiben.
  10. Daraus folgt, dass sie, wenn sie das nicht nur für sich selbst tun, sondern vielen Menschen zugänglich machen will, weil ihr Sohn grundsätzlich kein oder nur wenig Interesse an dem Wissen seiner Mutter hat, einen Computerkurs belegen muss, um das Wissen aufzuschreiben und später drucken (lassen) zu können.
  11. Dieser Entschluss wiederum erweckt in ihr Vorfreude auf die neue Herausforderung. Sie freut sich, eine Lösung für ihr Problem gefunden zu haben.
  12. Die nicht mehr in der Geschichte ausdrücklich genannte Folge des Ganzen: Lina hat ein neues Lebensziel gefunden, einen Traum zum Verwirklichen.

Der Auslöser des Entschlusses, den Computerkurs zu besuchen und ihr Wissen in einem Buch festzuhalten, wäre Lina nicht gekommen, wenn sie nicht die Winterlandschaft betrachtet hätte. Aber ohne die Beschreibung der Zusammenhänge und der Assoziationskette ergäbe die Geschichte keinen Sinn, sondern wäre nur eine Aufzählung von Dingen:

Lina blickte aus dem Fenster ihres Wintergartens auf den See hinter dem Haus. Nach einer Weile schaute sie auf das Foto ihres Sohnes und seiner Frau auf dem Beistelltisch. Sie wurde traurig. Seufzend nahm sie ihr Tagebuch. Schreiben hatte ihr schon immer geholfen, mit selbst den schlimmsten Schicksalsschlägen fertigzuwerden. Bevor sie eine Eintragung machte, beschloss sie, einen Computerkurs zu besuchen, um ihr gesammeltes Lebenswissen aufschreiben und anderen Menschen zugänglich zu machen.

Ist das eine Geschichte? Nein, weil die Lesenden ihr nicht „folgen“ können, und Lina nichts „passiert“. Sie spürt nicht die Last des Alters, bekommt keine Angst vor dem bevorstehenden Tod usw. Alle wichtigen Handlungen der ursprünglichen Geschichte sind zwar enthalten, aber sie sind lediglich aneinander gereiht und aufgezählt. Ihnen fehlt der Zusammenhang, die Erklärung für die einzelnen Handlungen, die der Story überhaupt erst einen Sinn gibt.

Was eine Kurzgeschichte ausmacht, sind die folgenden Dinge:

  1. In jeder Geschichte passiert (mit) jemandem etwas, sei es, dass eine Person selbst etwas tut oder etwas erlebt/erleidet.
  2. Jede gute Story enthält eine Botschaft, aus der die Lesenden etwas lernen können, nach der Absicht der/des Schreibenden vielleicht auch sollen bzw. die zum Nachdenken anregt. (In der Lina-Geschichte ist das der Hinweis, dass man nie zu alt ist für neue Herausforderungen und dass es für (fast) alle Probleme eine Lösung gibt.)
  3. Jede Geschichte hat einen Sinn, einen wichtigen Kernpunkt und eine Entwicklung der Hauptfigur, die ihrem Leben und/oder ihrer Einstellung eine neue, mehr oder weniger folgenschwere Richtung gibt, auch wenn die sich nur auf die Bewältigung der aktuellen Situation bezieht.
  4. Jede Geschichte hat einen Anfang, einen Mittelteil einen Höhepunkt und einen Schluss. Auch ein offenes Ende ist ein Schluss. Auch eine actionreiche Handlung am Beginn einer Story ist ein Anfang, weil die Lesenden sich die nicht thematisierte Vorgeschichte (den eigentlichen Ausgangspunkt der Geschichte und Ursprung der Handlung) denken können oder diese später als Rückblende nachgereicht wird.
  5. Sie beinhaltet immer einen Konflikt bzw. eine Aufgabe, die die Hauptfigur lösen/bewältigen muss (auch wenn sie am Ende damit scheitert oder der Konflikt nur „zwischen den Zeilen“ steht).
  6. Jede Geschichte lebt von HANDLUNG = jemand tut etwas und sei es „nur“ in Form eines gesprochenen Dialogs oder dass er/sie etwas fühlt, was für den Verlauf der Geschichte WICHTIG ist. Alle Handlungen sollten grundsätzlich für die Geschichte oder die Charakterisierung einer Figur wichtig sein, sie entwickeln und voranbringen, sonst sind sie überflüssig. Eine Aufzählung von Tätigkeiten („Er wusch das Geschirr, trocknete es ab und stellte es in den Schrank. Danach setzte er sich ins Wohnzimmer, las Zeitung und sah anschließend fern. Um Mitternacht ging er ins Bett.“) ist keine Handlung, weil ihr der Bezug zur Geschichte und der Sinn fehlt.
  7. Jede Handlung wird durch die „Augen“ = aus der Perspektive einer Person oder verschiedener (wechselnder) Personen erzählt. Allerdings kann eine Kurzgeschichte durchaus auch auktorial erzählt werden, ohne dass ihre Qualität darunter leidet. Im Gegenteil kann diese Perspektive für manche Storys die perfekte Wahl sein.

 

Inhaltliche Kennzeichen

  • Die Kurzgeschichte konzentriert sich normalerweise auf ein einschneidendes Erlebnis einer einzigen Hauptperson, wirft ein „Schlaglicht“ darauf und auf die unmittelbaren Folgen. Diese müssen nicht ausdrücklich genannt werden; es genügt, wenn sie den Lesenden klar sind.
  • Sie kann (nicht muss) durchaus mehr als nur eine bis zwei Personen als Figuren beinhalten. Jedoch sollte eine Kurzgeschichte immer nur so viele Personen haben, wie für die Handlung ERFORDERLICH sind.
  • Sie umfasst meistens (aber nicht zwangsläufig) einen kurzen Zeitraum von wenigen Minuten oder Stunden.
  • Sie kann bei längerem Umfang mehr als eine Handlungsebene haben.
  • Die Perspektive kann dementsprechend wechseln (muss aber nicht).
  • Eine gute Kurzgeschichte hat, sofern es sich nicht um eine rein humoristische Story handelt, deren einziger Zweck ist, dass die Lesenden am Ende lachen, einen Sinn, d. h. eine Kernaussage jenseits ihres reinen Unterhaltungswertes.
  • Kurzgeschichten sind oft gesellschafts- oder sozialkritisch, auch wenn der Konflikt zwischen Alien-Völkern auf anderen Planeten ausgetragen wird.
  • Eine Kurzgeschichte kann zu jedem beliebigen Genre gehören.

Formale Kennzeichen

  • Eine Kurzgeschichte hat, von Ausnahmen abgesehen, nur zwischen 2.000 und 30.000 Anschläge (ca. 1,5 – 20 Normseiten).
  • Die Einleitung ist kurz oder fällt ganz weg (auch hier gibt es Ausnahmen) und die Handlung kann mit dem/einem Höhepunkt der Geschichte beginnen.
  • Die Handlungsorte sind begrenzt (meistens nur einer, höchstens zwei).
  • Auf die Beschreibungen von Orten und Personen wird verzichtet, soweit sie nicht für die Handlung relevant sind.
  • Das gilt auch für die Charakterisierung von Personen. Wo sie im Roman unerlässlich ist, damit die Lesenden sich zumindest von den Hauptpersonen (positiver und negativer) sowie von den wichtigsten Nebenfiguren ein Bild ihres Charakters, ihres Wesens, machen können, wird sie in der Kurzgeschichte weggelassen. Ausnahmen gibt es nur, wenn ein (!) Charakteristikum eine wichtige Rolle für die Handlung spielt.

 

2. Aufbau einer Story

Beim Roman haben wir die Möglichkeit, dessen Geschehen langsam zu entwickeln. Beim „Schlaglicht“ der Kurzgeschichte haben wir die nicht. Bei einer Kurzgeschichte hängt viel, um nicht zu sagen fast alles davon ab, dass sich die Lesenden zur jeder Zeit und von Anfang an in dem Geschehen orientieren können. Sie müssen wissen, sofern das eine Rolle spielt und/oder man sich das nicht denken kann, WO die Geschichte stattfindet, WER anwesend ist, WORUM es geht und, zumindest angedeutet, wie die UMGEBUNG aussieht (falls für die Handlung relevant). Deshalb sollten wir jede unserer Geschichten entsprechend aufbauen und einleiten.

Der erste Satz

Prämisse: Er sollte den Lesenden die Hauptperson zumindest namentlich vorstellen. (Eventuell auch der zweite oder dritte Satz, wenn unsere Story damit beginnt, dass jemand anderes die Hauptperson direkt anredet, ohne den Namen zu nennen oder die Hauptperson selbst etwas sagt.)
Der erste Satz ist für eine Kurzgeschichte noch wichtiger als bei einem Roman. Beim Roman gehen die Lesenden davon aus, dass sich die Geschichte mehr oder weniger langsam entwickelt, weil die Handlung per se vielschichtig und komplexer als bei einer Story ist. Deshalb kann im Roman (auch abhängig vom Genre) der erste Satz wie auch das gesamte erste Kapitel (oder der Prolog) „ruhig“ beginnen, obwohl der Anfang immer appetitanregend sein sollte.
Bei der Kurzgeschichte haben wir diese Option nicht. Hier MUSS der erste Satz die Lesenden in die Story ziehen. Auch wenn er auf den ersten Blick banal erscheint: „Lina blickte aus dem Fenster ihres Wintergartens auf den See hinter dem Haus.“ Nahezu alle Lesenden wollen wissen, was sie dort sieht und werden weiterlesen. Bei Storys, die zur Spannungsliteratur gehören, sollte der erste Satz eine gewisse Dramatik enthalten. Das kann auch durch wörtliche Rede geschehen:

„Gib Alarm, sie kommen!“, wies Ritter Robert seinen Knappen an und legte einen Pfeil auf die Bogensehne.

Und schon befinden sich die Lesenden mitten in einem dramatischen Geschehen.

Die namentliche Vorstellung der Hauptperson ist aus zwei Gründen wichtig. Wenn wir, um dadurch etwas Geheimnisvolles auszudrücken, nur „er/sie/der Mann/die Frau“ oder eine Entsprechung (der Soldat, die Hexe etc.) schreiben und das auch in der gesamten Story durchhalten, können sich die Lesenden nicht mit ihr identifizieren (Ausnahme: die Ich-Perspektive) und sie haben das Gefühl, die Geschichte nicht durch die Augen der Hauptfigur zu betrachten, sondern „von außen“ als unbeteiligte Zuschauende. Die Figur bleibt für ihr Empfinden ein blasses „Phantom“. Auch Meuchelmörder, die auf ihr Opfer lauern, haben einen Namen. Und ihre (geplante) Tat wirkt auf die Lesenden umso erschreckender, wenn sie es durch die Namensnennung mit einem Menschen aus Fleisch und Blut zu tun haben statt nur mit einem namenlosen „der Killer“ konfrontiert werden. Bei einem Roman, besonders wenn er mit einem Prolog beginnt, kann durchaus der gesamte Prolog oder die erste Szene mit einem namenlosen „Er/Sie“ aufwarten, weil der/die Namenlose meistens nicht die Hauptfigur ist. Diese wird nach dem Prolog/der ersten Szene eingeführt. Bei einer Story ist die Namenlosigkeit unvorteilhaft, wenn auch prinzipiell möglich.
Der zweite Grund ist: Bleiben wir unpersönlich, gleitet die Story allzu leicht ins Auktoriale ab, was oft zulasten der Spannung geht. Einzige Ausnahme: Wenn wir die Ich-Perspektive verwenden, braucht die Ich-Figur sich nicht namentlich vorzustellen. Das kann, falls erforderlich, im Rahmen eines Dialoges zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

 

3. Der erste Absatz

Im ersten Absatz sollte bereits – abgesehen vom Titel – eindeutig das Genre erkennbar sein, zu der die Story gehört. Zwar stehen Kurzgeschichten selten allein, sondern sind fast immer Teil einer Anthologie, die schon am Titel und/oder Klappentext und/oder Titelbild erkennbar zu einem bestimmten Genre gehört. Aber es gibt auch Anthologien von einzelnen Autorinnen/Autoren, die in mehreren Genres schreiben und Storys verschiedener Sparten in einer Anthologie veröffentlichen. Oder in einer Sammlung von Weihnachtsgeschichten verschiedener Autorinnen und Autoren können sich alle möglichen Genres tummeln: von der Liebesgeschichte über einen Weihnachtskrimi, eine humorvolle Tiergeschichte, Weihnachten im wilden Westen oder bei Missionaren in Afrika, und selbst in einer Science-Fiction-Story kann die Besatzung einer Raumstation Weihnachten feiern. Für solche Fälle ist es erforderlich, dass die Lesenden das Genre der Geschichte schon im ersten Absatz erkennen können.
Ebenfalls im ersten Absatz sollte, falls das für die Handlung wichtig ist, gezeigt werden, in welcher Umgebung die Geschichte spielt (in einem Zimmer, im Freien, im Auto usw.) bzw. der Ort(steil) oder die Stadt, in dem sie angesiedelt ist, sofern diese Kenntnis wichtig ist. Ist sie das nicht, kann die Stadt auch ungenannt bleiben, brauchen die Räumlichkeit nicht erwähnt zu werden. Ferner ist wichtig, falls es sich nicht um eine reine Fantasygeschichte handelt, den Lesenden zu vermitteln, in welcher Zeit sie spielt, ob Gegenwart oder, wie beim Beispiel mit Ritter Robert, im Mittelalter/der frühen Neuzeit. Falls das konkrete Datum wichtig ist, können wir auch das im ersten Absatz thematisieren, indem wir es entweder der Story voranstellen oder jemanden das Datum in wörtlicher Rede nennen lassen bzw. indem wir einen Zeitungsausschnitt, einen Tagebucheintrag oder eine Chronik zitieren.
Zudem sollten die Lesenden schon im ersten Absatz alle für das Verständnis der Handlung wichtigen Informationen bekommen:

„Gib Alarm, sie kommen!“, wies Ritter Robert seinen Knappen an und legte einen Pfeil auf die Bogensehne. Während Tom zum Wehrturm rannte, um die Alarmglocke zu läuten, hielt Robert den Brandpfeil in die Feuerschale neben sich. Kaum hatte der ölgetränkte Lappen an der Pfeilspitze Feuer gefangen, legte Robert zwischen den Zinnen der Burgwehr an und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Augenblicke später flammte das mit Öl übergossene Stroh vor der Burg auf. Rasend schnell breiteten sich die Flammen über den restlichen Strohring aus und erhellten die Nacht um die gesamte Burg. Doch nicht nur die. Das Feuer beleuchtete auch die anrückenden Truppen von König Mark. Robert stockte für einen Moment der Atem, denn sie waren erheblich zahlreicher, als er oder Fürst Colwin in ihren schlimmsten Alpträumen erwartet hatten; zu zahlreich, um sie zu besiegen.

In diesem Absatz werden alle Dinge genannt, die die Lesenden brauchen, um sich ein erstes Bild von der Geschichte, dem Helden und dem Setting zu machen. Ritter Robert – die Hauptperson – steht auf dem Wehrgang der Burg seines Fürsten und entdeckt herannahende Feinde. Er hat einen Knappen bei sich. Es ist Nacht. Robert gleicht die nachteiligen Sichtverhältnisse aus, indem er mit einem Feuerpfeil einen Strohring rund um die Burg entfacht. Doch der scheinbare Vorteil der besseren Sicht wird zunichte gemacht, als er sieht, wie zahlreich die feindlichen Truppen anrücken.
Hier erfahren die Lesenden außerdem, wer der Antagonist ist: König Mark, der die Burg offensichtlich erobern will. Ein Kampf steht bevor, den die Burgbesatzung nicht gewinnen kann. Der Konflikt zeichnet sich ab: Roberts Dienstherr Fürst Colwin muss entweder einen sinnlosen Kampf bis zum letzten Mann ausfechten oder sich der Übermacht ergeben. Auch Roberts Konflikt wird angedeutet: Er hat einen Knappen, für dessen Leben er verantwortlich ist, und er hat natürlich, wie jeder Ritter, seinem Fürsten Treue geschworen. Das heißt, er darf nicht einfach fliehen, selbst wenn er das könnte. Aber kann er den Schwur halten, falls der Fürst sich entscheiden sollte, alle seine Kämpfer sinnlos zu opfern? So oder so steht Robert garantiert im Verlauf der Geschichte vor dem Problem, einen Ausweg finden zu müssen, vielleicht sogar eine List auszuhecken, um seinen Fürsten, seinen Knappen, seine Kameraden und idealerweise auch sich selbst zu retten.
Auch wenn nicht alle diese Dinge ausdrücklich im ersten Absatz genannt werden, können die Lesenden sie sich größtenteils denken oder zumindest ahnen.

 

4. Der zweite Absatz

Im zweiten Absatz sollte, sofern es ihn gibt und das nicht schon im ersten Absatz geschehen ist, der Gegenpart genannt werden, die Antagonistin/der Antagonist. Ebenso kann der zweite Absatz den noch nicht ausgebrochnen, sich aber abzeichnenden Konflikt im „Eisberg“ der Geschichte andeuten.
Falls der Gegenpart eine Person ist, muss sie nicht selbst auftauchen, aber die Lesenden sollten möglichst schnell erfahren, wer sie ist und warum sie der Gegenpart der Hauptfigur ist. Umso schneller kann die Story ihrem Höhepunkt entgegen eilen. Allerdings kann man die Antagonistinnen/Antagonisten auch, zugunsten erhöhter Spannung, nur andeuten, ohne konkret zu werden. Das hängt vom Inhalt der Story ab. Der zweite Absatz dient ebenfalls dazu, den Konflikt zu thematisieren und/oder die Handlung aus dem ersten Absatz fortzusetzen.

 

5. Der Konflikt

Für eine Kurzgeschichte, die naturgemäß ein Schlaglicht auf nur ein einzelnes einschneidendes Ereignis im Leben der Hauptfigur wirft, genügt ein einziger Konflikt. Zusätzliche Nebenkonflikte würden, von Ausnahmen abgesehen, den Rahmen einer Story sprengen. Der Konflikt, um den es geht (oder die Aufgabe, die es zu lösen gilt), sollte im zweiten Absatz thematisiert werden, spätestens im dritten, wenn die ersten beiden Absätze andere wichtige Informationen transportieren (müssen), ohne die die Lesenden dem Geschehen nicht folgen können. Er kann auch schon im ersten stehen; das hängt vom Inhalt und geplanten Aufbau der Story ab.

Bei Kurzgeschichten sollte der Konflikt/die Aufgabe nicht zu komplex sein, denn er/sie muss auf wenigen Seiten zu lösen sein. Nehmen wir eine Fantasygeschichte als Beispiel. Wenn die Hauptfigur die Aufgabe hat, einen heiligen Dolch zurückzuholen, der gestohlen wurde, sie aber erst einmal herausfinden muss, wer ihn gestohlen hat und zu dem Zweck ein Orakel befragen muss, das sie über einen gefährlichen und beschwerlichen Weg auf einem eisigen Berg finden muss, dann, um den Dieb besiegen zu können, erst ein magisches Amulett kaufen muss, das sie nur mit Drachenschuppen bezahlen kann, die sie erst besorgen und dazu den Drachen töten muss, bevor sie damit den Amulettverkäufer bezahlen kann und sich erst danach auf den Weg zu ihrer eigentlichen Aufgabe machen kann, so ist das ein wunderbarer Stoff für einen Roman, vielleicht sogar einen Mehrteiler, aber für eine Story entschieden zu viel.
Die könnte damit beginnen, dass die Hauptperson den Dieb gefunden hat oder ihm bereits gegenübersteht und nun eine Lösung finden muss oder die, die sie sich schon überlegt hatte, ausführen muss. Ideal wäre bei diesem Beispiel, wenn die Hauptfigur feststellt, dass die geplante Lösung nicht funktioniert und sie sich ganz schnell etwas anderes einfallen lassen muss, andernfalls der Dieb sie innerhalb der nächsten Minute(n) töten wird.
Gerade auch bei einer Kurzgeschichte ist wichtig, dass der Konflikt als solcher ebenso wie die Lösung in sich schlüssig sind. NICHTS darf an den Haaren herbeigezogen „aus heiterem Himmel“ passieren, denn in einer Story fällt das wegen ihrer Kürze erheblich schneller und intensiver auf als bei einem Roman.

 

6. Stringenz

Die gesamte Handlung wird schnörkellos und so stringent wie möglich erzählt und, wenn es sich um eine längere Story handelt, unter Verwendung von passenden spannungserzeugenden/spannungssteigernden Mitteln begleitet. ALLES, was nicht unmittelbar zur Geschichte und ihrer Entwicklung gehört, sollte gestrichen werden. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch, abhängig von der Story und ihrem Genre, Landschaften beschreiben kann oder sogar muss, z. B. bei Fantasy oder Science Fiction. Aber Dinge, die nichts mit der Handlung zu tun haben, haben in einer Story nichts zu suchen.
Beispiel: Der junge Held genießt einen Museumsbesuch und bewundert die dort ausgestellten Handschriften aus dem Mittelalter (und kann im Verlauf der Handlung einen Diebstahl oder eine Beschädigung der Schriften verhindern). Völlig irrelevant wären Überlegungen, dass seine Klassenkameradinnen/-kameraden nicht das geringste Verständnis für seine Leidenschaft für alte Handschriften haben und sogar die Lehrkräfte diese belächeln. Das hat mit der Handlung und der gesamten Geschichte nichts zu tun. Das könnte allenfalls am Ende – Stichwort „Eisbergmodell“ – subtil angedeutet werden, z. B. indem jemand (neidisch) anmerkt: „Ich hätte nie gedacht, dass deine sinnlose Beschäftigung mit alten Schriften mal zu was nütze ist.“ Dieser eine Satz sagt alles darüber aus, wie dieses Hobby von anderen Leuten gewertet wird/wurde. Und beinhaltet – ebenfalls „unter der Oberfläche“ – eine Lehre, die zumindest diese eine Person aus dieser Erkenntnis gezogen hat: Auch wenn man selbst die Leidenschaft eines anderen Menschen nicht nachvollziehen kann, könnte sie trotzdem nützlich sein, weshalb sie zu verachten oder darüber zu lästern unangebracht ist.
Auch Rückblenden sollten nach Möglichkeit vermieden oder in einem einzigen Satz, maximal zwei Sätzen abgehandelt werden, WENN sie für die Handlung wichtig sind! Wenn der Held dabei ist, hastig seinen Koffer für eine Flucht zu packen, ist eine Rückblende, die erzählt, dass er sich als Jugendlicher in einem Zeltlager vor zig Jahren mal klammheimlich davongeschlichen hat, weil er gemobbt wurde, und sich bei seiner Flucht das Bein gebrochen hatte, fehl am Platz. Das hat nichts mit der Storyhandlung zu tun und keine Relevanz dazu. (Ausnahme: Die Erinnerung an die frühere Situation gäbe ihm einen wichtigen Tipp für seine jetzige Situation, mit dem er sich einen entscheidenden Vorteil verschaffen kann.)
Dasselbe gilt für Zukunftsgedanken. Hier gibt es aber die Ausnahme, dass Zukunftspläne oder Vorfreude ruhig intensiv geschildert werden können und evt. auch sollten, wenn das Ende der Story diese Pläne, die Vorfreude zunichte macht. Ist das nicht der Fall und die Hauptfigur freut sich einfach nur auf die Tasse Kaffee, die sie nach seiner Heimkehr genießen wird, ist eine Schilderung oder auch nur Erwähnung dessen irrelevant und hielte die Handlung auf. Allerdings kann das als Schlusssatz die Story beenden: „Er hatte überlebt und freute sich unbändig auf die Tasse Kaffee, die er mit Lisa trinken würde, sobald er wieder zu Hause war.“ Ende. Aber innerhalb der Story hielte eine solche Überlegung die Handlung auf.

 

7. Kernpunkt

Der Kernpunkt der Story, ihr Sinn, die „Moral von der Geschicht’“ (wie Wilhelm Busch es in seinen Gedichten ausdrückte) sollte spätestens am Ende erkennbar sein, falls wir die Story nicht nach dem „Eisbergmodell“ schreiben und den Sinn zwischen den Zeilen „verstecken“. Er kann aber auch schon in den ersten Sätzen oder Absätzen thematisiert werden. Doch jede Geschichte sollte einen Sinn haben, auch wenn der unter der Oberfläche verborgen ist.
Das kann eine wichtige Erkenntnis für die Hauptfigur sein, das Erreichen eines Ziels, eine zu lösende Aufgabe, an der sie wächst oder scheitert, das Finden der großen Liebe (oder die Andeutung, dass sie sich durch eine Begegnung oder sonstiges Ereignis anbahnt), der Tod der Hauptperson oder ein Verlust, den sie zu verkraften hat … Wir haben viele Möglichkeiten. Doch eine Story ohne Kernpunkt macht keinen Sinn und lässt die Lesenden, die immer einen solchen erwarten, ratlos zurück,

 

8. Das Ende

Wie beim Roman muss auch bei der Kurzgeschichte das Ende alle Fragen beantworten. (Ausnahmen: Fortsetzungsgeschichten und bewusst offene Enden; hierbei sollten die Lesenden sich aber einen möglichen Ausgang denken können, auch wenn sie dabei die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten haben.) Im Gegensatz zum Roman enden viele Kurzgeschichten mit dem Ende der Szene, der Handlung, um die es im Inhalt geht. Der Grund liegt darin, dass, wie oben bereits erwähnt, eine Storyhandlung oft nur eine kurze Zeit dauert. Entsprechend sind die Handlungen angelegt, sodass ein prägnantes Ende meistens das einzig passende ist.
Wo im Roman die Möglichkeit besteht, in einem Schlusskapitel oder einem Epilog alles detailliert aufzudröseln und zu erklären, haben wir diese Möglichkeit bei einer Story nicht. Allzu ausschweifende Abschlüsse halten auch hier die Handlung auf, weil mit dem Schluss der eigentlichen Handlung alles für die Lesenden gefühlt „vorbei“ ist. Sollte es noch etwas zu erklären geben oder erklärt werden müssen, das nicht durch das „natürliche“ Ende der Story abgedeckt ist, sollte das idealerweise „zwischen die Zeilen“ gepackt werden bzw. das Ende so geschrieben sein, dass die Lesenden sich die Auflösung denken können.
Beispiel: Geht in einem Krimi der Plan des Schurken schief und die Story endet damit, dass ihm das bewusst wird, so müssen nicht noch die Konsequenzen erwähnt werden:

„Am nächsten Tag, als Bolle die letzten Sachen für seine Flucht packte, kam die Polizei und verhaftete ihn. Offenbar war Eckberg wieder zu Bewusstsein gekommen und hatte ihnen erzählt, dass Bolle ihn zum Steinbruch bestellt hatte, aber nicht aufgetaucht war. Somit war klar, dass nur er ihm diese Falle gestellt haben konnte.“

So ein Abschluss ist überflüssig, wenn der vorherige Absatz (idealerweise) damit endet, dass Bolle erfährt, dass Eckberg überlebt hat und im Krankenhaus liegt. Alle Lesenden können sich aufgrund dessen problemlos denken, dass Bolle geliefert ist, sobald Eckberg aufwacht und der Polizei erzählt, was sich ereignet hat. Wenn wir unsere Story entsprechend aufbauen, ist auch hier weniger mehr.

 

9. Der Titel

Er sollte ebenso wie beim Roman idealerweise das Genre erkennen lassen, zu dem die Story gehört. Außerdem sollte er den Kernpunkt oder Mittelpunkt der Story benennen, ohne zu viel vom Inhalt oder gar die Pointe bzw. das Ende zu verraten. Denn gerade bei Kurzgeschichten erregt der Titel das Interesse der Lesenden, weil Storys keinen Klappentext haben, der ihren Inhalt appetitanregend wiedergibt. Doch ist beim Titel die Hauptsache, dass er zum Inhalt passt. Wenn sich eine Story z. B. um den Streit einer gesamten Familie um die Unterbringung des schwerstbehinderten Sohnes Felix in einem Heim dreht, dann ist ein Titel wie „(Der) Felix“ oder „Entscheidung über Felix“ zwar nicht allzu originell, aber passend. Außerdem stehen Kurzgeschichten fast ausschließlich in Anthologien, deren Gesamtkonzept das Publikumsinteresse durch den Klappentext für die Ganzheit aller in ihr enthaltenen Storys weckt. Dennoch sollten wir uns bei der Wahl für unseren Storytitel bemühen, dass er sich von der Masse abhebt und möglichst originell ist.
Dies kommt besonders zum Tragen, wenn wir eine Story für einen Literaturwettbewerb schreiben. Meistens steht ein solcher Wettbewerb unter einem Motto und die eingereichten Geschichten sollen dessen Thema behandeln. Zu einem Wettbewerb, der vor ein paar Jahren unter dem Motto „(K)Eine Chance“ ausgeschrieben wurde, reichte ungefähr die Hälfte der Teilnehmenden Storys ein, die „Keine Chance“, „Eine Chance“ oder „Meine Chance“ hießen. Beim Wettbewerb im folgenden Jahr wiesen die Ausrichtenden deshalb schon in den Teilnahmebedingungen darauf hin, dass die Teilnehmenden unbedingt einen eigenen Titel aussuchen sollten, der keinesfalls den Wortlaut des neuen Mottos oder eine ähnlich lautende Bezeichnung haben sollte. Originalität ist auch bei Kurzgeschichten wichtig, nicht nur hinsichtlich des Titels.

10. Beschreibungen

Jede Art von Beschreibung, sei es das Aussehen einer Person, eines Ortes, eines Gegenstandes und erst recht der Vorgeschichte, ist in einer Kurzgeschichte grundsätzlich (!) fehl am Platz, WENN sie nicht für die gesamte Handlung oder der Erzeugung von Spannung bzw. Schaffung von Atmosphäre eminent wichtig ist. Ist sie das, geschieht sie auch hier nach allen Regeln der Kunst des Zeigens, nicht Erzählens. Grundsätzlich sollten aber die Beschreibungen in einer Kurzgeschichte ebenfalls entsprechend kurz sein. Schreiben wir eine längere Story, die vielleicht sogar die durchschnittliche Höchstlänge von 20 Seiten sprengt, können wir hier eine Ausnahme machen, WENN, wie gesagt, die Beschreibungen erforderlich sind.
Grundsätzlich nicht erforderlich für jede durchschnittliche (!) Geschichte ist eine Beschreibung des Aussehens der Hauptfigur und aller anderen Personen. Nehmen wir das obige Beispiel mit Ritter Robert. Unabhängig davon, wie lang die ausgearbeitete Geschichte wäre, welche Haar- oder Augenfarbe Robert hat oder welche Kleidung er trägt, ist für die Handlung unwichtig. Solche Beschreibungen hielten den Fortgang der Story unnötig auf.

Faustregel: In Kurzgeschichten beschreiben wir nur dann etwas, wenn die Lesenden es zum Verständnis der Handlung zwingend brauchen oder dadurch Spannung oder notwendige (!) Atmosphäre (z. B. bei Gruselstorys) erzeugt wird. Ist das nicht der Fall, verzichten wir auf die Beschreibung. Doch gerade auch in diesem Punkt kommt die Finesse mit der Übung und der zunehmenden Schreiberfahrung.

TIPP:

Man kann zwei Varianten der Geschichte schreiben: eine mit den Beschreibungen, die wir gern drin haben möchten, eine ohne. Dann lässt man beide Storys anschließend ein paar Tage oder Wochen ruhen und liest sie danach noch einmal durch, die beschreibungsarmen Story zuerst. Können wir der Handlung folgen, ohne dass durch die fehlende Beschreibung eine Verständnislücke entsteht, verzichten wir auf die Beschreibung.

Ausnahmen von allen diesen Tipps und Kniffen gibt es natürlich immer. Es gibt Storys, da erfahren die Lesenden erst im letzten Absatz bzw. auf der letzten Seite, wer Antagonistin/Antagonist ist. Die Hauptfigur taucht erst Ende des ersten Viertels auf, eine Landschaft wird ausführlich beschrieben (weil sie für die Handlung wichtig ist), auch der Konflikt wird manchmal erst relativ spät oder nur zwischen den Zeilen erkennbar. Nichts ist in Stein gemeißelt! Sobald wir die Kunst der Kurzgeschichte durch entsprechendes Üben = Schreiben beherrschen, können wir experimentieren und ausprobieren, was für uns funktioniert oder nicht. Neulinge sind mit der hier beschriebenen Herangehensweise auf der sicheren Seite. Die Finesse kommt mit der Zeit.

Weiterführende Literatur: „Die Kunst der Kürze“ ISBN 978-9403614250, 177 Seiten

 

In den nächsten Folgen:

  • Das Exposé
  • Entwerfen von Klappentexten

 

In der letzten Folge:

  • Manuskriptnorm und Verlagsanschreiben

 

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