Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – 8. Die Heldenreise – ein ganz besonderer Plot

Tipps von Mara Laue

Bei der Heldenreise oder Heldenfahrt handelt es sich um eine besondere Form des Plots, die entgegen ihrem Namen nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Hauptperson tatsächlich eine reale Reise unternimmt. „Held“ bezieht sich auf die (nicht zwangsläufig männliche) Hauptfigur der jeweiligen Geschichte. „Heldenreise“ bezeichnet eine gravierende charakterliche Entwicklung der Hauptfigur, die man mit den klassischen Initiationsriten der Frühkulturen und Naturvölker vergleichen kann. Eine Heldenreise gliedert sich in zwölf Schritte/Stationen, die je nach Genre und Inhalt des Romans unterschiedlich interpretiert und ausgearbeitet werden können. Manchmal gehen sie ineinander über, sodass am Ende nur neun oder zehn erkennbare Stationen dabei herauskommen.

  1. Im gewohnten (bis dahin unspektakulären) Umfeld der Hauptfigur tritt ein unerwartetes Ereignis auf, das sie zum Handeln zwingt oder ihr eine Aufgabe stellt, die sie erfüllen muss. Wichtig hierbei ist, dass es sich um ein Ereignis handelt, das der Hauptfigur keine Wahl lässt. Die einzige Wahl, die es gäbe, ist, nichts zu tun und dadurch dem Unheil und den negativen Konsequenzen der nicht erfüllten Aufgabe ihren Lauf zu lassen. Was die Figur, da sie Heldin/Held ist, selbstverständlich nicht tut. Ein Ereignis oder eine Situation, in der die Hauptfigur sich „problemlos“ freiwillig entscheidet, etwas zu tun und es keine negativen Folgen hätte, wenn sie es nicht tut, taugt nicht als Ausgangspunkt für eine Heldenreise. Sie muss sich verantwortlich fühlen, muss sich „gezwungen“ fühlen zu handeln, auch wenn sie das eigentlich gar nicht will.
  2. Heldin/Held weigern sich, die Aufgabe anzunehmen oder zögern zumindest. Gründe: Angst vor dem Unbekannten, Angst zu versagen, sie wollen die gewohnte Sicherheit nicht aufgeben, fühlen sich der Aufgabe generell nicht gewachsen oder meinen, dass sie das Problem nichts anginge. Diese Weigerung kann durchaus in einem einzigen Absatz mit einem inneren Monolog abgehandelt oder über mehrere Seiten oder ein ganzes Kapitel ausgedehnt werden.
  3. Heldin/Held sehen ein, dass sie die Aufgabe annehmen, die Reise antreten müssen, oder sie werden durch die Umstände dazu gezwungen und machen sich daran, das Problem zu lösen. Oft werden sie dazu von einer beratenden Figur ermutigt (Beispiel: Gandalf in „Herr der Ringe“).
  4. Erste Hindernisse. Sie stoßen auf Widerstände, weitere Probleme, Prüfungen, die sie zuerst bewältigen und sich bewähren, eventuell auch erst etwas lernen müssen, um ihre eigentliche Aufgabe erfüllen zu können. Hierbei begegnen ihnen teilweise (neue) Feinde, die durchaus die eigenen inneren Widerstände oder mangelnden Fähigkeiten sein können (oder „Herr Schweinehund“, den wir alle allzu gut kennen).
  5. Unterstützung. Sie treffen (unerwartet) auf eine oder mehrere Hilfsfiguren, auch wenn manchmal zunächst nicht klar ist, ob sie tatsächlich freundlich oder feindlich gesinnt sind. Diese dürfen aber nicht mit dem „Deus ex Machina“ verwechselt werden! Dieser ist ein „aus dem Nichts“ auftauchender Nothelfer, der eine verfahrene Situation und damit das Leben der Hauptfigur rettet. Die Helfenden bei der Heldenreise können Leute sein, die „nur“ den richtigen Weg zeigen, wenn Heldin/Held sich verlaufen haben, ihnen ein besseres Schwert verkaufen als das, was sie bisher benutzten, ihnen ein Pferd schenken, durch das sie schneller ans Ziel kommen oder sie als Zufallsbekanntschaft aus der Kneipe eine Weile begleiten (wobei „begleiten“ sich nicht zwangsläufig auf zurückgelegte Wege beziehen muss) und sich unterwegs als nützlich erweisen.
  6. Bewährungsprobe. Die erste/n schwere/n Prüfung/en tauchen auf (zum Beispiel Kampf mit einem Drachen), die sich eventuell als Kampf gegen die eigenen inneren Widerstände und Illusionen erweisen.
  7. Nach weiteren Hindernissen, Problemen und Prüfungen (eine Heldenreise ist grundsätzlich mit Hindernissen etc. gespickt, sonst würden Heldin/Held nichts lernen, sich nicht bewähren und nicht weiterentwickeln können) treffen sie auf die ultimative Gegenpartei beziehungsweise stehen vor der Aufgabe, das Ausgangsproblem nun endlich lösen zu müssen. Es kommt zum „Showdown“, bei dem am Ende „die Bösen“ besiegt werden.
  8. Belohnung und (innere) Verwandlung. Das Besiegen der Gegenpartei oder das Erringen eines „Schatzes“ haben Heldin/Held verändert. Diese Verwandlung müssen sie annehmen und danach gereift heimkehren. (Manchmal, um mit dem errungenen Schatz ihr Heim zu retten. Hier sind die thematischen Möglichkeiten vielfältig.)
  9. Rückreisebeginn. Antreten des Rückweges, bei dem es durchaus noch einmal zu weiteren Problemen kommen kann (zum Beispiel wenn weitere Leute versuchen, ihnen den Schatz wieder abzujagen oder Rache für den Tod der Gegenpartei nehmen und Heldin/Held umbringen wollen). Diese Probleme können auch im Hadern mit der Verwandlung und den sich daraus ergebenden Konsequenzen bestehen.
  10. Die neue Persönlichkeit, zu der Heldin/Held gereift sind, festigt sich auf dem Rückweg. Dabei kann es durchaus (noch einmal) zu Verlusten der inzwischen gewonnenen helfenden Figuren kommen. Oder Entscheidungen werden getroffen, die dem künftigen Leben der Hauptfigur eine neue Richtung geben.
  11. Rückkehr. Heldin/Held kehren in den Alltag zurück, aus dem sie ursprünglich aufgebrochen waren. Mithilfe ihrer neu gewonnenen Erkenntnisse, Fähigkeiten oder des Schatzes bringen sie das ursprüngliche Problem, für das sie die Reise angetreten hatten, endgültig in Ordnung.
  12. Heldin/Held vereinen ihre auf der Reise gewonnenen Erkenntnisse/Errungenschaften und die veränderte Persönlichkeit mit dem Alltag und bauen sich ihr Leben neu auf beziehungsweise nach den neuen Gegebenheiten um, was ihnen durchaus noch einmal letzte Schwierigkeiten bescheren kann. (Der Held will vielleicht seine bisherige Verlobte nun doch nicht heiraten, weil er sich so sehr verändert hat, dass sie nicht mehr zusammenpassen. Oder die Heldin zieht aus ihrem früheren Umfeld fort, weil sie dort keine Zukunft mehr für sich sieht.) Auch ein Gang ins Exil und dortiger Neubeginn kann das Ende einer Heldenreise sein.

 

Aus diesen einzelnen Stadien lassen sich die wichtigsten Kennzeichen einer Heldenreise wie folgt zusammenfassen:

  1. Heldin/Held werden durch die Ereignisse charakterlich gravierend verändert. Sie sind hinterher nicht mehr dieselbe Person/Persönlichkeit wie vorher. Das bedeutet, dass sie ihr „altes“ = vor-heldenreisendes Leben im Anschluss an die „Reise“ nicht unverändert fortsetzen können. Jeder derartige Versuch muss und wird langfristig scheitern.
  2. Diese Veränderung bzw. Erkenntnisse, die sie während ihrer Reise gewinnen, sind essenziell für die Lösung des Problems. Ohne diese nur durch die „Reise“ gewonnenen Einsichten und Erfahrungen könnten sie das Problem, das sie die Reise antreten ließ, nicht lösen.
  3. Fehlen diese beiden Aspekte im Plot einer Geschichte, ist es keine Heldenreise, auch wenn alle übrigen Kriterien darin vorkommen.

 

Nicht jeder Plot eignet sich für eine Heldenreise, und sie umzusetzen, erfordert Erfahrung und die Beherrschung des Schreibhandwerks. Oft wird sie bei Fantasyromanen thematisiert, jedoch nicht immer gut ausgearbeitet.

Auch viele chinesische Kung-Fu-Filme, die meistens in historischen Zeiten spielen, thematisieren Heldenreisen. Dem Held (fast immer ein Mann; „Mulan“ ist eine der wenigen Ausnahmen) und/oder seiner Familie wird von den Antagonisten (immer Männer) Unrecht getan. Meistens wird seine Familie ermordet und/oder er selbst gedemütigt und schwer verletzt, manchmal sogar verkrüppelt. Er kann entkommen (oder wird vermeintlich tot von seinem Feind zurückgelassen) und trifft auf einen Mentor, der ihm Kung Fu beibringt (oder er geht zu dem Zweck ins Shaolin-Kloster). Die Ausbildung, die ihn auch charakterlich formt, dauert meistens ein paar Jahre. Am Ende kehrt er heim, um mit seinen neu erworbenen Fähigkeiten den Antagonisten rächend zur Strecke zu bringen.

Bei den chinesischen Geschichten kommt allerdings auch vor, dass der Held zusammen mit dem Antagonisten am Ende stirbt. In westlichen Kulturen erwartet man ein (siegreiches) Happy End.

 

 

In der nächsten Folge: Mehrteiler schreiben – eine Herausforderung

2 thoughts on “Von der Kunst des Prosaschreibens – 8. Die Heldenreise – ein ganz besonderer Plot

  1. Liebe Mara,
    endlich wieder ein neues Kapitel! Ein allgemeines Dankeschön für Deine Tipps zuerst. Insbesondere aber meine Anerkennung dafür, dass Du das Gewicht auf die “innere Heldenreise” legst, was in vielen Schreibratgebern “vergessen” wird! Die Anzahl der Stationen ist nicht bindend und mag besonders genrebedingt variieren, dennoch finde ich Deine Ausarbeitung in zwölf Schritten nachvollziehbar und sinnvoll. Genau Dein Schwerpunkt auf die charakterliche Wandlung oder Reifung (Heldin oder Held mögen zu Beginn der Geschichte vielleicht eher feige sein.) macht deutlich, dass zumeist Thriller oder Krimis regelmäßig keine Heldenreise beschreiben und daher in dieser Hinsicht recht anspruchslos daherkommen. Die Rückreise halte ich übrigens nicht für zwingend. Mein Roman endet bewusst mit dem, was Du als Station 9 (Rückreisebeginn) beschreibst. Hier war die “Pointe” mit dem besten Effekt unterzubringen, alles danach hätte den Clou verwässert. Nochmals danke auch für dieses Kapitel. Es leben die Fantasie und Fantasy!

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