Spannung, zart kbribbelnd ...

Von der Kunst des Prosaschreibens – 22. Show, don’t tell! – Spannungserzeugung 2

von Mara Laue

Spannungserzeugung 2: Die 7 Säulen der Spannung

Was jede Geschichte grundsätzlich braucht, sind die „sieben Säulen“, auf denen sie aufbaut. Auf diesen basiert der sich durch die gesamte Geschichte ziehende Spannungsbogen der Grundspannung (dicke Bogenlinie). Auf diesem wiederum bauen sich weitere „Spannungsspitzen“ auf (gezackte Linie), die die Spannung zusätzlich steigern.

Abbildung Spannungsbogen mit 7 Säulen (c) Mara Laue
Abbildung Spannungsbogen mit 7 Säulen (c) Mara Laue

Säule 1: Der Klappentext

Der Klappentext auf der Rückseite des Buches trägt in einem erheblichen Maß zur Erzeugung von Spannung bei (Erwartungsspannung). Nach dem den potenziellen Lesenden (und Buchkaufenden) als Erstes ins Auge fallenden Titel und dem Coverbild, die das Interesse wecken und den Appetit anregen (siehe vorherige Folge), entscheidet der Klappentext darüber, ob ein Buch gekauft wird oder nicht. Deshalb muss der bereits spannend geschrieben sein, um die Neugier der Lesenden auf den Inhalt des Buches zu wecken.

Säule 2. Plot, Plotthema und Plotpoints

Der „Handlungsplan“ einer Geschichte oder eines Romans muss sorgfältig ausgearbeitet sein und idealerweise einige unerwartete Wendungen (Plotpoints) enthalten. Ein Handlungsablauf, den die Lesenden bereits vorhersehen können oder der nur wenige, vielleicht sogar keine Überraschungen bietet, ist langweilig. Und hat das Buch ein Thema, das die Lesenden grundsätzlich nicht oder nur wenig interessiert, werden sie die Handlung als langweilig empfinden, egal wie spannend sie verpackt ist. Letzteres liegt jedoch in der persönlichen Vorliebe der Lesenden; ein Kardinalrezept, das alle gleichermaßen „beglückt“, gibt es nicht, denn Geschmäcker sind nun mal verschieden.

Säule 3: Originalität

Handlungsabläufe, Persönlichkeiten, Schauplätze, Konfliktstrukturen und Themen, die die Lesenden bereits aus vielen anderen Büchern, Geschichten oder Filmen kennen, sind wegen dieser Vertrautheit nicht mehr oder nur noch wenig spannend, weil man sie eben deshalb vorhersehen kann. Kleine Veränderungen zum „Alltäglichen“ genügen oft schon, um aus Altbekanntem etwas Originelles und Interessantes zu machen. Das gilt auch für den Titel.

Säule 4: Konflikte

Konflikte sind das wichtigste Element der Spannung, denn ohne sie gibt es keine. Ob es sich um einen „großen“ Konflikt (z. B. Feindschaft zwischen zwei Personen oder gar Völkern) oder einen „kleinen“ (z. B. das Ringen um eine Entscheidung) handelt, Konflikte sind die Grundlage jeder guten (belletristischen) Geschichte.

Säule 5: Charaktere mit Profil

Sie bilden ein wichtiges Element der Spannung, denn gute Storys sind um die Hauptperson herum aufgebaut, die im Mittelpunkt der jeweiligen Handlungen stehen. Wir erzählen den Lesenden die Geschichte oder eine wichtige Episode aus dem Leben unserer Heldinnen/Helden, durch die sie eine Weiterentwicklung erleben. Sind die Hauptfiguren „nur“ durchschnittliche Allerweltsmenschen ohne erkennbares „Profil“, können sich die Lesenden nur schwer oder gar nicht mit ihnen identifizieren. Das gilt auch für Figuren, die sich „dümmer als die Polizei erlaubt“ oder völlig unrealistisch benehmen. Die Identifikation des Publikums mit der Hauptperson trägt aber maßgeblich zur Spannung bei.

Säule 6: Stringenz

Stringenz heißt „Bündigkeit“ und meint in Bezug auf das Erzählen/Schreiben von Geschichten nichts anderes, als dass die Geschichte ohne unnötige (!) Umschweife, ohne Nennung von für die Handlung unwichtigen (!) Details/Ereignissen „kurz und bündig“ entwickelt wird. Dies kommt besonders, wenn auch keineswegs nur bei Actionszenen und Kurzgeschichten zum Tragen.

Säule 7: Lebendige Beschreibungen

„Zeigen, nicht erzählen!“ ist das wichtigste Grundwerkzeug des Schreibhandwerks. Wenn die Autorinnen/Autoren den Lesenden (nach)erzählen, was sich in einer Szene ereignet, statt sie das durch die Augen, das Empfinden, die Gedanken einer Person erleben zu lassen, fließt die Handlung an den Lesenden gefühlt vorbei. Sie können nicht in sie eintauchen, können sich auch nicht mit den Heldinnen/Helden oder einer anderen Person in der Szene identifizieren und empfindet diese gesamte Szene deswegen als langweilig. Eine einzige oder ein paar wenige solche „erzählten“ Szenen verkraftet ein Text durchaus, aber wenn der gesamte Roman, die gesamte Geschichte in dieser unpersönlichen Form erzählt wird, entsteht kaum Spannung.

Diese sieben Komponenten wirken „Hand in Hand“. Ist der Plot uninteressant oder zu durchschaubar aufgebaut oder fehlt ihm die Originalität als „Salz in der Suppe“, werden viele Lesende das Buch als mäßig oder gar nicht spannend empfinden. Fehlen Konflikte in ausreichender Menge und vor allem Gewichtung (sie sollten für die Heldinnen/Helden immer gravierend oder sogar existenziell sein), kann der Rest der Handlung noch so gut aufgebaut und ausgearbeitet sein – ohne Konflikte gibt es keine Spannung; in keinem Genre.
Bleiben die Charaktere der Geschichte blass oder handelt es sich um „Allerweltsfiguren“, die schon zig Romane bevölkern, flacht durch ihr mangelndes oder uninteressantes Profil ein Teil der Handlung, manchmal sogar (abhängig vom Aufbau des Plots) die gesamte Handlung, ab (mit Ausnahme von Abenteuerromanen). Man kann niemanden hinter dem Ofen hervorlocken mit Figuren, die ein ganz gewöhnliches Durchschnittsleben führen, einen durchschnittlichen Charakter, unspektakuläre Berufe und/oder Hobbys und auch keine besonderen Fähigkeiten oder Charaktereigenschaften besitzen oder gravierende, sie prägende Lebensbrüche erlitten haben, wodurch sie aus der Masse herausragen. Solche Figuren besitzen keinerlei Spannungspotenzial; zumindest nicht, wenn sie die Hauptfiguren sein sollen. (Ausnahme: Man lässt so eine „Durchschnittstype“ im Verlauf der Handlung über sich hinauswachsen und Fähigkeiten/Eigenschaften entwickeln, die weder die Lesenden noch die Figur selbst in ihr vermutet hätten.) Als Nebenfiguren kann man sie bedenkenlos einsetzen.
Halten sich die Autorinnen/Autoren im Text immer wieder mit langatmigen und irrelevanten Ausschweifungen auf, die mit der Handlung der jeweiligen Szene oder sogar der gesamten Geschichte nichts zu tun haben (z. B. Infodump), töten sie dadurch die Spannung zu einem großen Teil oder sogar fast vollständig. Selbst wenn der Plot mit den interessantesten Charakteren und explosivsten Konflikten aufwartet, wird die dadurch erzeugte Spannung durch mangelnde Stringenz immer wieder ausgebremst. Ohne stringente Erzählweise, die besonders wichtig für Kurzgeschichten ist, bleibt die Spannung auf der Strecke.
Dasselbe geschieht, wenn Autorinnen/Autoren den Lesenden erzählen, was in der Handlung, der Szene passiert, statt ihnen das durch die Augen der Heldinnen/Helden oder einer anderen Figur lebendig (!) zu beschreiben. Und ist der Klappentext uninteressant oder nichtssagend, hat der gesamte Rest des Buches keine Chance, weil die potenziellen Lesenden ein Buch mit unspannendem Klappentext nicht kaufen werden.
Selbstverständlich ist es möglich, wenn man die gesamte Klaviatur der Spannungserzeugung beherrscht, einen ganzen Roman mit nur einigen wenigen dieser Zutaten sowie den virtuos eingesetzten Methoden der Spannungssteigerung zu schreiben. Dafür gibt es viele Beispiele, von denen einige sogar Bestseller geworden sind. Wenn wir die restlichen „Säulen“ gut ausarbeiten, können wir prinzipiell auf die Originalität verzichten, mit nur einem einzigen Hauptkonflikt arbeiten, die Stringenz etwas (aber bitte nicht allzu sehr) schleifen lassen, „profillose“ Figuren verwenden und die Beschreibungen vergleichsweise nüchtern gestalten und haben am Ende dennoch eine spannende Geschichte, einen spannungsgeladenen Roman.
Unverzichtbar sind jedoch Konflikte und ein interessantes Thema des Plots, das mindestens zwei bis drei unvorhersehbare Wendungen beinhalten sollte. Und auch die Hauptfigur sollte mindestens eine Eigenschaft haben, die sie aus der Masse heraushebt und die es ihr überhaupt ermöglicht, den Hauptkonflikt des Plots zu lösen.
Die meisten Lesenden empfinden jedoch solche Romane am Spannendsten, bei denen alle Komponenten miteinander verwoben sind und gleichermaßen zum Tragen kommen.

Die Spannung im Klappentext

Der Klappentext ist für die Lesenden nach dem Titel und evt. dem Titelbild DAS Kaufkriterium. Ein guter Klappentext sollte nicht mehr als maximal 800 Anschläge haben. Das sind, je nach Format des Buches und verwendeter Schriftgröße, 12 bis 15 Zeilen. Um das zu erreichen, lassen wir ALLES weg, was nicht zum Kernpunkt der Geschichte gehört.
Dieser Kernpunkt der Geschichte ist für den Klappentext der zentrale Konflikt, der den Heldinnen/Helden zu schaffen macht. Eventuell können ein oder zwei Sätze den Lesenden sagen, wie es zu diesem Konflikt gekommen ist. Wir beschreiben den Konflikt kurz und prägnant und schließen den Klappentext mit einem Cliffhanger oder einem Geheimnis ab oder wir deuten eine (Lebens-)Gefahr für die Hauptperson an.
Eine Möglichkeit, das Interesse der Lesenden zu wecken, ist, eine Art Überschrift dem eigentlichen Klappentext voranzustellen, die das Wichtigste in Schlagworten zusammenfasst: Ein entführter Waffeningenieur, ein Profikiller und ein mörderischer Plan – Traue niemals einer Anwältin, einer Scharfschützin oder einer Frau, erst recht nicht, wenn sie alles in einem ist.
Nach solchen Andeutungen lesen fast alle Interessierten erst recht auch den Rest des Klappentextes, von dem sie sich nähere Erklärungen zu diesem Spannung versprechenden Auftakt erhoffen. Verstärkt der nachfolgende Text den Eindruck von Spannung und einem interessanten Plot, wird das Buch gekauft. (Mehr über das Schreiben spannender Klappentexte kommt in einer späteren Folge.)

Der Plot

Der Plot ist der Handlungsplan jeder Geschichte, jenes aus einer Idee entwickelte Grundgerüst, das der „Reise“ unserer Geschichte die Richtung weist. Und ähnlich wie bei einer Fahrt mit dem Auto gibt es immer verschiedene Möglichkeiten (Wege), um ans Ziel zu gelangen. Außerdem ist eine Fahrt durch eine abwechslungsreiche Landschaft interessanter und spannender, als wenn die Straße schnurgerade durch eine eintönige, ewig gleich aussehende Gegend ohne optische Highlights führt.
Dasselbe Prinzip gilt auch für den Plot. Ist er linear aufgebaut mit nur wenigen oder unspektakulären „Plotpoints“ – den unerlässlichen Wendepunkten, die der Story eine neue Richtung geben und die Lesenden auch schon mal in die Irre führen –, bleibt die Spannung auf der Strecke. Um aus einer Idee und den erforderlichen „Zutaten“ ein vor Spannung prickelndes Süppchen zu kochen, sollten wir die Handlung nicht linear schildern, sondern überraschende Wendungen einbauen, mit denen die Lesenden idealerweise nicht rechnen, sodass sie das Ende nicht vorhersehen können.
Dass ein appetitanregender Anfang für jede Geschichte unerlässlich ist, sollte selbstverständlich sein. Wenn wir eine wirklich spannende Story oder einen Roman schreiben wollen, sollten wir die Spannung bereits im ersten Satz/Absatz aufbauen. Ja, ich weiß: Es gibt unzählige Romane, die mit einem Text beginnen, der ganze Absätze lang oder sogar über Seiten hinweg keine oder kaum Spannung enthält. Vielleicht hat uns beim Lesen deren Spannungsarmut gar nichts ausgemacht. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Ob ein Buch beim Publikum ankommt oder durchfällt, hängt vom gesamten Text und Plotaufbau ab, nicht nur von einem spannungsgeladenen Anfang. Doch der Anfang ist die „vierte Eintrittskarte“ zu den Lesenden (nach dem Titel, Titelbild und Klappentext) und die zweite beim Verlag (nach dem Exposé). Und gerade beim Verlag sollte der Anfang auf Anhieb überzeugen, weil erfahrene Lektorierende sonst nicht weiterlesen. Denn aufgrund ihrer Erfahrung wissen sie, dass, wenn der Anfang langatmig oder langweilig gestaltet ist, sich diese Zähflüssigkeit auch auf den gesamten Rest des Textes erstreckt. Deshalb sollte der Anfang immer so gestaltet sein, dass er die Leute zum Weiterlesen „zwingt“.
(Und nebenbei bemerkt: Ein Buch ist nicht zwangsläufig „gut“, nur weil es veröffentlicht wurde. Viele, darunter etliche Bestseller, weisen handwerkliche Schwächen auf. Aber Bestsellerschreibenden sieht man die nach, Neulingen, die sich mit ihrem Erstling bei Verlagen bewerben, nicht. Fehler und Schwächen aus anderen Büchern zu kopieren, nur weil die veröffentlicht wurden, bringt uns nicht weiter. Niemals. Wer Erfolg haben will, sollte von Anfang an durch Qualität überzeugen.)
Wichtig ist auch das Ende. Ob wir es schon von Anfang an beim Plotten festgelegt haben oder erst im Laufe des Schreibens entwickeln, welchen Schlusspunkt der letzte Akkord haben soll – wichtig sind für das Ende zwei Dinge. 1. Es muss sich logisch nachvollziehbar und konsequent aus der gesamten vorangegangenen Handlung entwickelt haben, auch wenn sich für die Lesenden bis dahin mehrere denkbare Möglichkeiten für den Abschluss der Handlung ergeben haben. (Fast) nichts verstimmt die Leute so sehr wie eine unlogische oder an den Haaren herbeigezogene Auflösung. Im Gegenteil muss die gesamte Handlung so aufgebaut sein, dass gar kein anderes Ende als eben dieses möglich ist (auch wenn es in sich noch ein paar mögliche Varianten trägt).
Zweitens: Es muss alle bis dahin noch nicht abgeschlossenen Handlungsstränge auflösen und darf keine ungeklärten Fragen zurücklassen. Die einzige Ausnahme hiervon sind Fortsetzungsromane/-geschichten. Doch auch bei diesen muss jede Handlung spätestens in der letzten Folge aufgeklärt werden; zumindest in einer Form, dass die Lesenden sich die Lösung zweifelsfrei denken können. Darüber hinaus sollte das Ende nach Möglichkeit immer überraschen. Und wir sollten an die Erklärungs- bzw. Aufklärungsspannung denken. Beim Ende haben wir, je nach Aufbau des Romans/der Geschichte, eine letzte Möglichkeit, Spannung zu erzeugen. Nutzen wir sie!

Originalität

Für eine Geschichte, einen Roman, bei denen der Hauptaspekt auf der Spannung liegt oder die spannender als der Durchschnitt ihres jeweiligen Genres sein sollen, ist Originalität besonders wichtig (selbstverständlich abhängig vom Plot). Der Duden definiert Originalität als „Echtheit, Besonderheit, wesenhafte Eigentümlichkeit“ und das Adjektiv „originell“ als „in seiner Art neu, schöpferisch“. Auf die Spannung bezogen gilt zusätzlich zu diesen Definitionen: Originalität ist Unvorhersehbarkeit. Diese Unvorhersehbarkeit erreicht man zwar in erster Linie mit einem Plot oder Teilen der Handlung, deren Verlauf und ihr Ergebnis die Lesenden nicht aufgrund dessen, was sie aus anderen Büchern (oder Filmen) kennen, vorhersehen können. Aber man kann auch Herkömmliches und Bekanntes unvorhersehbar gestalten, indem man es variiert und/oder ungewöhnliche Wendungen einbringt.
Unser schlimmster Feind, gegen den wir als Autorin/Autor immer wieder werden ankämpfen müssen, ist das Klischee. Dieser Feind lauert nicht nur im Plot, sondern besonders gern auch in den Figuren. Zwar haben viele klischeehafte Charaktere einen „wahren Kern“ und sind zum Klischee geworden, weil sie real tatsächlich häufig vorkommen. Aber nachdem sie alle so oft in Büchern, Geschichten und Filmen verwendet wurden, dass sie zum Klischee verkommen sind, fehlt ihnen eben deswegen jegliche Originalität, denn Klischees sind per se langweilig. Wenn möglich – und das ist es fast immer –, sollten wir auf Klischees und häufig gebrauchten Stilmittel verzichten. Originelle Plots und Charaktere haben größere Chancen, zunächst in einem Verlag und später bei den Lesenden Beachtung zu finden. Meistens genügen schon kleine Veränderungen, um eine ansonsten herkömmliche Geschichte oder einen „gewöhnlichen“ Charakter originell zu machen.

Konflikte


Für die Spannung in allen Genres ist der Konflikt die Hauptzutat. Ohne Konflikt – groß oder klein – gibt es keine Spannung. Die Schilderung eines Familientreffens, bei dem alle sich lieb haben, freudig das Wiedersehen feiern, das voller Harmonie abläuft und in Friede, Freude, Gugelhupf endet, ist stinklangweilig (und deshalb vollkommen überflüssig zu beschreiben), weil nichts passiert. Beginnt das Treffen aber schon damit, dass jemand zu spät kommt und deswegen getadelt wird, worauf er verärgert reagiert und verbal „zurückschießt“ mit Bemerkungen, die unterhalb der Gürtellinie zielen und die gesamte Gesellschaft veranlasst, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen, wodurch bei verschiedenen Leuten oder auch nur bei zweien alte Ressentiments hochkochen oder neue Konflikte entstehen – dann haben wir ein lebhaftes und vor allem spannendes Ereignis. Man wird weiterlesen, weil man wissen will, wie der Streit ausgeht, der selbstverständlich für die folgende(n) Handlung(en) eine entscheidende Bedeutung hat (sonst wäre diese Szene zwar spannend, aber überflüssig).
Ob wir einen einzigen großen Konflikt wählen, der mehrere Nebenschauplätze hat (ohne zusätzliche Nebenkonflikte) oder neben dem Hauptkonflikt noch mehrere kleinere einbauen, hängt vom Plot ab und von dem Grad der Spannung, den wir über den gesamten Text hinweg erzeugen wollen. Für jeden Konflikt brauchen wir:

  • Glaubhaftigkeit, sowohl für die Entstehung der Konflikte wie auch für die Art, in der sie ausgetragen werden;
  • sich aus den Konflikten ergebende, schwerwiegende, evt. sogar (lebens)bedrohliche Konsequenzen für die Heldinnen/Helden; für sie muss durch den Konflikt viel oder sogar alles auf dem Spiel stehen;
  • bei Romanen je nach Thema und Plot zusätzlich zum Hauptkonflikt noch weitere Nebenkonflikte, die idealerweise, aber nicht zwangsläufig aus dem Hauptkonflikt resultieren;
  • eine glaubhafte, nachvollziehbare Auflösung aller (!) Konflikte spätestens am Ende der Geschichte, des Romans (Ausnahme: Fortsetzungsgeschichten; hier erfolgt die Lösung erst in der letzten Folge).

Persönlichkeiten mit Profil

Jeder Mensch hat eine individuelle Lebensgeschichte, die ihn prägt und die seinen Handlungen, seinem Verhältnis zu den Mitmenschen, der Umwelt, seinem religiösen und politischen Bekenntnis, seinen Moralbegriffen zugrunde liegt. Diese Lebensgeschichte müssen wir beim Entwerfen unserer Figuren berücksichtigen und ihr besondere Aufmerksamkeit widmen (mehr dazu in einer späteren Folge).
Wichtig für die Spannungserzeugung ist die Vermeidung von Klischees und besonders der Schwarz-Weiß-Malerei. Die Heldinnen/Helden dürfen nicht nur gut und perfekt sein und die „Bösen“ nicht nur die Schlechtigkeit in Person. Je differenzierter wir unsere Figuren entwerfen, desto spannender werden sie. Natürlich gibt es auch vor Spannung strotzende (Abenteuer-)Romane und Serien, in denen die Handlung im Mittelpunkt steht und die Hauptfigur nur ein Minimum an Profil oder sogar überhaupt keins besitzt. Aber wenn sie Profil hat und eine besondere Persönlichkeit ist – wodurch auch immer –, erhöhen wir über die dadurch ermöglichte Identifikation der Lesenden mit dieser Person die Spannung.
Für unsere Figuren brauchen wir:

  • einen sympathischen Grundcharakter für die Heldinnen/Helden und ihren Freundeskreis
  • einen interessanten Grundcharakter für die Antagonistinnen/Antagonisten, die selbstverständlich auch positive Eigenschaften haben
  • Fehler und Schwächen, Ecken und Kanten für beide, ebenso Stärken
  • glaubhafte Handlungsmotive für beide
  • glaubhaftes, für die Lesenden nachvollziehbares Handeln aller Figuren
  • Verzicht auf Klischees (das blonde Dummchen ist ebenso tabu wie der perfekte Sonnyboy ohne Fehl und Tadel)
  • mindestens eine Fähigkeit (Charaktereigenschaft, Beruf, Hobby, soziales/politisches Engagement), die den Heldinnen/Helden ermöglicht, den Hauptkonflikt der Geschichte zu lösen (mit oder ohne Hilfe)
  • und ganz wichtig: Der Charakter und Beruf oder eine/mehrere sonstige Eigenschaft/en der Hauptfigur(en) sollten für die gesamte Handlung unerlässlich sein, diese bedingen und prägen.

Stringenz

Stringenz ist für die Erzeugung beziehungsweise Erhalten von Spannung unerlässlich. Zur Stringenz gehört, dass wir den Lesenden nur an den Stellen Informationen geben, an denen diese für das Verständnis der Handlung oder deren Entwicklung oder für das Verständnis einer Figur wichtig sind. Das kann nicht oft genug betont werden.
Ganz besonders bei Regionalliteratur und hier insbesondere bei Regionalkrimis wissen viele Autorinnen/Autoren nicht, wie sie die für dieses Genre übliche und erforderliche Beschreibung der Region und ihrer Besonderheiten in einen Roman einbinden sollen. Um die Umgebung, die Stadt, die Landschaft zu beschreiben, konstruieren sie meistens eine vom Rest der Handlung völlig unabhängige Situation, in der eine Figur „sinnlos“ durch die Gegend geht oder fährt und sie beschreibend betrachtet.
Auch Ortsbeschreibungen sollten wir IMMER in eine Handlung einbetten. Idealerweise bedingt die betreffende Handlung diese Ortsbeschreibung sogar. Alternativ können wir sie in einen Dialog packen. Doch auch dabei sollte sich die Notwendigkeit der Ortsbeschreibung aus eben diesem Dialog ergeben, sonst bleibt unter Umständen die Stringenz auf der Strecke. Und fehlt die Stringenz, geht das ausnahmslos zu Lasten der Spannung. Und nein, das Beschreiben, was der Held auf seinem Heimweg oder der Stadtrundfahrt sieht, wie er sich sein Essen zubereitet oder was er alles tut, bevor er ins Bett geht, ist KEINE Handlung, sondern das Aufzählen von Beobachtungen bzw. Gedanken. Handlungen haben IMMER einen Bezug zu der Geschichte, entwickeln die Handlung und sind idealerweise für sie unabdingbar.

Um die Handlung stringent zu gestalten, sollten wir:

  • auf alles verzichten, was weder mit der Handlung zu tun hat, noch dem Verständnis ihres Ablaufs dient oder wichtige Informationen liefert oder eine Figur charakterisiert.
  • erforderliche Informationen – auch die Beschreibung von Personen oder Orten – ausschließlich an solchen Stellen platzieren, wo die Lesenden sie zum Verständnis der aktuellen oder unmittelbar folgenden Handlung zwingend brauchen.
  • notwendige Erklärungen und Beschreibungen immer in eine Handlung oder einen Dialog einbetten.
  • Sätze und Absätze nicht zu lang schreiben.
  • begonnene Handlungen nicht unterbrechen (außer beim Cliffhanger; siehe nächte Folge), sondern sie „schnörkellos“ fortführen, ohne abzuschweifen.

Mit Worten Bilder malen

Eine ebenso wichtige Zutat zur Spannung wie die vorangegangenen, sind lebendige Beschreibungen. Ein Text, der in den Lesenden keine Gefühle erweckt und dem entsprechend auch die Gefühle der Heldinnen/Helden und ihres Gegenparts nicht beschreibt, ist langweilig.

„Er schlich zur Haustür und war froh, dass niemand ihn bemerkte.“ Gähn! – „Zentimeter um Zentimeter öffnete er die Zimmertür und hielt den Atem an. Jeden Moment rechnete er damit, dass sie in den Angeln quietschte und ihn verriet. Er atmete erst aus, als er sie weit genug aufgeschoben hatte, um sich durch den Spalt zu zwängen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Flur leer war. Ebenso leise schloss er die Tür wieder. Das kostete ihn zwar wertvolle Zeit, aber falls jemand durch den Flur ging, musste derjenige nicht schon durch die offene Tür auf Robs Flucht aufmerksam werden.

Alternative Formulierung
Er lauschte. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Hoffentlich saßen alle seine Bewacher dort und hoffentlich musste nicht ausgerechnet in dem Moment einer von ihnen zur Toilette, wenn Rob vorbei schlich. Auf Zehenspitzen ging er so schnell er es halbwegs geräuschlos schaffte, zur Vordertür und dankte Gott, dass niemand ihn bemerkt hatte. Er drückte die Klinke herunter. Abgeschlossen. Mist! Er sah sich um. Die Fensterbänke waren dicht an dicht mit Blumentöpfen vollgestellt, die er erst hätte abräumen müssen, um durch eins entkommen zu können. Er bezweifelte, dass das geräuschlos ginge. Außerdem hielte ihn das zu lange auf. Das Fenster im Bad! Das war unverstellt und groß genug, dass er sich hindurchzwängen konnte. Er schlich zum Badezimmer.“

Klingt viel spannender, nicht wahr? Ohne lebendige Beschreibungen bleibt jeder Text blutleer. Wenn sich die Lesenden – unabhängig von Spannungserzeugung wie im obigen Beispiel – kein Bild von der Handlung, dem Ort, dem Gemütszustand der Figuren und allem anderen machen können, werden sie mit dem Text nicht warm und lesen ihn möglicherweise nicht einmal zu Ende.
Ebenso wichtig wie die Techniken des Beschreibens selbst ist der Platz, an dem die Beschreibungen stehen. Eine Beschreibung sollte immer ein wichtiger Bestandteil der jeweiligen Szene oder Handlung sein und darf diese niemals unschön unterbrechen. Im Gegenteil sollte sie sich immer aus der Handlung ergeben oder für sie bzw. die unmittelbar folgende Textpassage unerlässlich sein. So wie bei obigem Beispiel. Die Suche nach einem Fluchtweg macht die Beschreibung der Blumen in der Fensterbank („dicht an dicht“) erforderlich. Ob auf dem Fußboden ein Teppich liegt und wie er aussieht, ist dagegen nicht relevant.

Die Grundlagen des guten Beschreiben sind:

  • Verwendung des Aktivs statt Passivs, sofern es sich nicht um etwas handelt, das jemand passiv erleidet/erduldet/erlebt.
  • Sparsamer Gebrauch von Adjektiven sowie Verzicht auf Adjektivketten.
  • Einbetten der Beschreibungen in eine Handlung oder einen Dialog.
  • Beschreiben von Gegenständen, Landschaften, Personen immer aus der Perspektive (durch die Augen) einer in der Szene anwesenden Person, niemals auktorial (als „Stimme aus dem Off“).
  • Platzierung von Beschreibungen an passenden Stellen.
  • Gebrauch von Bildern statt Aufzählung von Eigenschaften.

Ausnahmen gibt es nur in Actionszenen, Liebesszenen oder wenn eine zügige Handlung erforderlich ist; hier würde die „Show“ die Handlung aufhalten.
Wenn uns gelingt, diese sieben „Säulen“ optimal zu nutzen, erreichen wir einen durchgängigen Spannungsbogen, der selbst Geschichten in einem „unspannenden“ Genre „aufpeppt“.

 

In der nächsten Folge: 20 Methoden der Spannungssteigerung (4 Teile) – Teil 1

In weiteren Folgen:

  • Spannung erhalten und retardierendes Moment
  • Besonderheiten in Actionszenen”

 

 

One thought on “Von der Kunst des Prosaschreibens – 22. Show, don’t tell! – Spannungserzeugung 2

  1. Hallo, Mara,
    wieder einmal ein Text, der beide anspricht: den “jungen” Autor, also den Schreibanfänger , ebenso wie den fortgeschrittenen (Verzeih, dass ich nicht “gendere” und von “Schreibanfangenden” rede!). Bei den Ratschlägen habe ich immer wieder aufgehorcht und nutze sie als aufrüttelnden “Denkzettel”. Vieles schleift sich von Werk zu Werk ein, und die Verantwortung dem Leser gegenüber verflacht. Deshalb habe ich beim Lesen meine Hauptfiguren und den Plot auf den Prüfstand gestellt – bezogen auf meinen gerade erschienenen Roman wie auch auf den nächsten. Dem ersten zufriedenen Lächeln wird sich beim Weiterschreiben zweifellos eine in Erinnerung an den Denkzettel gekräuselte Stirn hinzugesellen. Das ist gut so, denn erst, wenn die Falten sich geglättet haben, sind die Figuren “dreidimensional” genug und der Plot ausgereift. Danke also für das Wachrütteln der Erinnerung an wertvolle Schreibratschläge, besonders, weil locker und nicht belehrend vorgetragen.
    Viele Grüße
    Michael Kothe

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