Berichte von der Insel – 10. Strandwanderungen

Eine Prosaminiatur von Walther

Der Strandspaziergang – als „extended remix“ auch Strandwanderung genannt – gehört zum Erfolg der Rehabilitation, wurde man gleich beim Arztgespräch erinnert. Der Aufenthalt auf Borkum in der Fachklinik war nichts für Wandermuffel, sondern eher etwas für Wandervögel. Ich gehöre, ehrlicherweise, eher der ersteren Spezies an, relativiert durch die antrainierte Angewohnheit, an jedem Abend, an dem nicht eine ordentliche Portion Bewegung stand, einen halbstündigen Spaziergang „um den Block“ einzuschieben, selbst nachts um zwei Uhr früh, wenn sich das bei einem Messe- oder Veranstaltungsbesuch so ergab. Ich bin an den unmöglichsten Orten dieser Welt schon eine halbe Stunde durch die Nacht spaziert.
Ein solcher Spaziergang bringt bei jedem Wetter den Stress auf die Straße. Wenn mich einer fragt, ob ich denn zuhause einen Hund hätte, antworte ich immer, ich führte meinen inneren Schweinehund aus, der müsste mal die Bäume am Straßenrand beschnuppern und bewässern, ist das Thema in der Regel „gschwätzt“, wie die Schwaben das nennen. Selbst bei Schneetreiben tut ein solcher Spaziergang gut. Womit wir beim Wetter auf Borkum Mitte Januar im Jahre des Herrn 2019 angelangt wären.

Nun ist bekanntlich nicht das Wetter das Problem, sondern die richtige Kleidung. Ich hatte also – durch Lebenserfahrung gewitzt – in Borkum und bei der dortigen Fachklinik bereits im Vorfeld die Bekleidungsfrage angesprochen. Ergebnis war die Beschaffung entsprechender Boots und einer absolut kälte-, feuchtigkeits- und windtauglichen halblangen Jacke, die den halben Oberschenkel bedeckte. Derart ausgerüstet ging ich bei Wind und Wetter an den Strand zum Aerosoltanken und marschierte am Strand selbst bei Schneetreiben und ziemlich steifem auflandigem Wind durchaus sogar mehrere Stunden durch die Gegend.
Die Sache war allenfalls dann unangenehm, wenn man gegen den Wind angehen musste. Das war selbst dann einigermaßen spaßfrei, wenn man die Jackenkapuze, Schal und Halskrause der Jacke so weit nach oben beziehungsweise zog, bis nur noch Brille und Nase aus dem Loch lugten. Hier galt es, den Nutzen der Meerluft für die Weitung der entzündeten Bronchien in Bezug zu den Unannehmlichkeiten zu setzen. Schließlich konnte man durch geeignete Streckenführung die Sache etwas entspannen.

Als ich beim ersten Ausflug am Haupteingang anlangte, versuchte ich, die reichlich verdreckten Stiefel an der Schuhputzmaschine vom ziemlich klebrigen Belag zu befreien. Wie ich später auf dem Gang zu meinem Zimmer nach dem letzten Treppenabsatz feststellen musste, war mir das nur sehr ungenügend gelungen. Der Sand musste inzwischen getrocknet sein und fiel in großen Flarren aus der Sohle und wohl auch von den Stellen der Stiefel ab, die ich offensichtlich übersehen hatte.
Da entdeckte ich an der Wand Besen, Handfeger mit Schnippe und einen mit einer Mülltüte ausgestatteten Mülleimer und erkannte sofort die Sinnfälligkeit dieser Gerätschaften. Ich versuchte das Malheur offensiv anzugehen, was aber nicht ganz gelang. Als ich die Stiefel im Zimmer auszog, entstanden dabei weitere Sandhäufchen. Ich hängte den Anorak auf, befreite mich von Schal und Stirnband, wechselte die Brille, schlüpfte in die Hausschuhe und begann zuerst auf der letzten Treppe, danach dem Flurgang und schließlich in meinem Zimmer die Sandspuren und -häufchen zu beseitigen, was mir weitgehend gelang.
Ich habe Tage später die Spuren einer ziemlich runden junge Dame bewundert, die es fertiggebracht hatte, am Strand voll in die Wattschlammlöcher zu tapern, die Schuhe unten am Eingang nicht zu putzen und den ganzen Dreck als Spur erst im Gang, m Eingang und Ausgang des Fahrstuhls  (und wohl auch darin)zu hinterlassen, um nach dem Verlassen des Fahrstuhls bis zu ihrem Zimmer den Schlick als moderne Deko in den orangenen, zugegebenermaßen empfindlichen Teppichboden einzuarbeiten, ohne auch nur den Versuch zu entnehmen, diese Sauerei durch Handanlegen zurückzubauen. Ihr war es schnurzpiepegal, dass die Spur sie dauerhaft als Dreckspatz überführte – und die nachfolgenden Zimmerbewohner mit ihrem Stigma zu versehen.
Nun denn, könnte man sagen, die Jugend von heute. Antwort von mir: Diese Typen, das Wort aus Höflichkeit ungegendert verwendend, gab und gibt es zu allen Zeiten, und zwar in exakt gleicher Anzahl.
Bei späteren Ausflügen nahm ich den Eingang vom Kinderhaus, weil es dort eine große Bürste gab, die man mit der Hand verwenden konnte. Das Ergebnis dieser Art von Reinigung der versandeten Fußbekleidung war jedenfalls eindeutig besser als das maschinelle Bürsten am Haupteingang.

An einem sehr schönen Sonntag traf ich auf meiner langen Runde, als ich am Strandcafé „Seeblick“ nach rechts in Richtung Brandung abbog, auf Jakob, meinen Nebensitzer aus Bayrisch-Schwaben. Wir wanderten die nächsten anderthalb Stunden gemeinsam und bewegten Gott und die Welt in unserer Unterhaltung. Nebenbei sammelten wir einige Muschelschalen auf, der eine für seine Erinnerung, der andere für seinen Enkel, die aber nun ebenfalls als Reminiszenz in einem Glasgefäß sein Arbeitszimmer zieren. Die Liebste meinte, dass es noch zu früh sei für den Enkel.
Angesichts der Konstellation war ein Eintauchen in die jüngere deutsche Geschichte, die tatsächlich eine mitteleuropäische ist, unvermeidlich. Es gibt keine jüdische Familie mit europäischen Wurzeln, die niemandem in einem deutschen KZ oder durch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch die Deutschen oder ihre Schergen, zu beklagen hat. Auch Jakobs Familie ist von diesem Krieg und von der Shoah direkt betroffen. Sein Vater war im KZ, und er hat Onkel und Tanten und andere Verwandte verloren.
Seine Geschwister wohnen in Israel. Sie haben dort Familie. Ganz besonders berührt hat mich, dass der Antisemitismus wieder zunimmt, wie Jakob beklagte; es ist durchaus nur nicht der Hass auf Israel, der mit den Zuwanderern aus dem arabischen Raum zu uns nach Deutschland gekommen ist; vielmehr lebt auch der europäisch-christliche Antisemitismus wieder auf, weil die Verschiebung der Grenzen dessen, was politisch korrekt ist, Platz geschaffen hat, „weil man endlich wieder sagen darf, was man denkt“. Als ob das eine zulässige Begründung für expliziten oder verdeckt formulierten Judenhass liefern könnte!

Wir sind uns am Ende des Spaziergangs in Einem wenigstens nähergekommen, nämlich, dass es Zeit wird, endlich mehr und nachhaltig sachlich über jüdisches Leben in Deutschland und Europa, wie es heute ist, zu berichten. Die jüdischen Bräuche und Feste müssten bekannter werden, als Teil unseres Alltags begriffen und gelebt werden, formulierte ich unwidersprochen. „Nur, was man kennt, fürchtet man nicht!“, das zeigen Umfragen auch in Fragen des Ausländerhasses, der mit dem Judenhass vieles gemein hat, nämlich die Angst vor dem Fremden, dem Andersartigen. Diese Angst lässt offensichtlich vergessen, dass hinter dem anderen Glauben, hinter anderen Kulturen und Bräuchen Menschen wie Du und Ich verbergen, mit den gleichen Träumen von Glück, von Liebe, von Wohlstand und vom Etwas-Schaffen im Leben.
Es ist eine bekannte Erfahrung, dass dort, wo seit langem viele Ausländer wohnen, der Fremdenhass erheblich geringer ausgeprägt ist. Wenn jüdisches Leben selbstverständlich ist, kann es gelingen, den Antisemitismus zurückzudrängen. An diese Aufgabe wollten wir uns gemeinsam machen, haben Jakob und ich auf dieser Wanderung beschlossen. Und wir haben tatsächlich bereits, in ganz kleinen Schritten, damit begonnen, in der Hoffnung, andere damit anzustecken, damit daraus eine Bewegung wird und Deutsche jüdischen Glaubens wieder sicher und ohne Mobbing und Beleidigungen leben können wie jeder Andere in unserem gemeinsamen Land auch.

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