Fieber

Fieber

von Silvan Beer

Ein roter und ein blauer Pfeil war über die Landkarte gezogen worden, während der Wettermann davorstand und dem Durcheinander einen Sinn gab. Hinter seinem Rücken zogen die beiden Pfeile hin und her, jagten über die Fläche und umschlangen und lösten sich wieder. Der Wettermann schien davon nicht beeindruckt zu sein. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und las von einem Bildschirm ab, was hinter ihm zu sehen war.  Er beschrieb ihre Bewegungen und entschlüsselte ihre Bedeutung für den ungebildeten Zuschauer, ohne sich seiner prophetischen Funktion bewusst zu sein. Seine Ansprache stolperte ein wenig unbeholfen der Bewegung der Pfeile hinterher, die makellos und in sanften Bewegungen über die Karte flogen. Und dann kamen sie zum Stillstand, der Sprecher holte sie ein und sagte: Es wird Regen geben.

Und wie ein Schauspieler, dessen Bewegungen einem Drehbuch folgen, begannen die Pfeile, ohne dass man sie hätte sehen können, Gestalt anzunehmen und sich in Bewegung zu versetzen. Sie wiederholten ihre schon vorgezeichneten Wege und zogen über all die Köpfe hinweg. Dieses Mal eilten sie der Voraussage hinterher, die für sie getroffen worden war. Sie schoben Berge von Luft vor sich her, so lange, bis die Wolken an der richtigen Stelle waren, der Bericht sich erfüllte und die Pfeile wieder verblassten. Die Wolken hingen noch eine gewisse Zeit in der Luft, bis eine unsichtbare Hand ihr Zeichen gab, dass die schweren Tropfen herunterfallen konnten. Drei Tage später war der Fluss, der mitten durch eine ländliche Kleinstadt fließt, über sein Ufer getreten.
Als erstes erreichten die Wassermassen ein direkt am Fluss liegendes Haus, rissen kleinere Blumentöpfe mit und schwemmten die Gemüsebeete aus. Für die Leute im Haus waren solche Überschwemmungen schon zur Gewohnheit geworden. Alle paar Jahre standen sie wieder zusammen am Fenster und waren sich einig, dass sie wegziehen würden. Der Fluss stieg weiter an und erreichte eine Häuserreihe, die von seinem missachteten Ufer ein Stück weiter weg lag. Er drang durch die kleinsten Ritzen ein, und, obschon das Wasser nur wenige Zentimeter tief war, war diese Überschwemmung für die Menschen hinter ihren Sandsäcken, Regenschirmen und Gummistiefeln wie ein nasser kalter Finger, der ihnen auf die Stirn gedrückt wurde.

Weiter hinaus konnte sich das Wasser nicht kämpfen, und bald darauf zog es sich aus den überfluteten Kellern zurück, gab die beiden Brücken frei und floss wieder, jetzt braun und voller Baumstämme und Äste, in seinen geregelten Bahnen. Nur noch zerfledderte Reste der, vorher noch gewaltig über der Kleinstadt aufgetürmten, Wolken hingen am Himmel.
Die Menschen kamen aus ihren Häusern hervor in die feuchte Hitze und begannen ihren kleinen Anteil vom Schaden zu begutachten. Man hatte sich schon lange an diese regelmäßige Unannehmlichkeit gewöhnt. Man schien die Abwechslung schon fast zu genießen und machte sich langsam daran, alles wieder zurechtzurücken. Nach ein paar Tagen gab es fast keine Anzeichen mehr dafür, dass hier vor Kurzem der Wasserstand all diese historischen Höchstwerte hinter sich gelassen hatte und über das Ufer getreten war.
Auffallend jedoch war, dass es überall in der Stadt, besonders in der Nähe des Flusses von Mücken wimmelte. Überhaupt folgte der Überschwemmung solch eine tropische Hitze, dass man das Gefühl hatte, als würden die immer noch feuchten Wanderwege, die dem Ufer entlangführten, bald zu kochen beginnen. Jeden Abend war der ganze Himmel über der Stadt ein einziges Gewimmel von Insekten, nach denen, sobald sie sich auf einen dicken Bauch oder verschwitzten Unterarm niedergelassen hatten, träge geschlagen wurde.
Nach und nach mehrten sich die gekringelten Fliegenfallen und die hypnotisierend blau leuchtenden Todeslampen auf den Veranden und Dachterrassen. Außerdem war es keine Seltenheit, dass am helllichten Tag einzelne Ratten zu sehen waren, die zielstrebig den Hauswänden entlangrannten. Man vermutete, dass Teile der Abwasserkanäle geflutet worden waren, so dass die Ratten immer weiter hochgetrieben wurden. Nach der ersten lautstarken Sichtung verging keine Woche, bis die Supermärkte ihr Lager mit Rattenfallen aufgestockt hatten, diesen merkwürdig abstoßenden Geräten, die einem Menschen das Handgelenk brechen, wenn er selbst nach dem Käse greift. In der ganzen Stadt wurden sie verteilt und in der Nacht begannen sie zuzuschnappen. Jeden Morgen kratzte irgendwo wieder eine Schaufel über den Boden.

Aus dem Novum wurde eine kleine Plage. Die zum Abholen bereitgestellten Müllsäcke begannen, sich zu bewegen und zu rascheln. Aus dem Nichts sprangen Ratten hervor und rannten einem gegen die Schuhe. Überall wurde aufgekreischt und geflucht, und die Fallen hatten jeden Morgen eine von ihnen zerquetscht. Es war, als wäre eine unterirdische Eiterbeule geplatzt, aus der sich die Ratten in die Stadt ergossen.
Der ganze Ort war fiebrig und überhitzt. Selbst der Boden, auf dem man stand, schwitzte und ächzte. Das deutlichste Symptom jedoch dieser Krankheit, von der niemand etwas wusste, waren die Ratten. So etwas hatte man noch nie erlebt.
Sie bissen einem in die Sünderhände. Sie kratzten an den Gedanken und wühlten sich in die Herzen der Leute. Die Überschwemmung hatte den Schutzfilm der Haut dieses Ortes weggewaschen, die nun von Ausschlag befallen war, und gerötet und gereizt den Einwohnern den Schlaf raubte. Mit jedem Zuschnappen einer Falle kratzte sich der Ort bis aufs Blut, ohne dass der Juckreiz nachgelassen hätte. Es nützte nichts. Die Ratten waren da, niemals in Massen, immer nur einzeln, aber sie hielten sich hartnäckig und vermehrten sich in den Köpfen der Menschen in solchem Ausmaß, wie sie es in Wahrheit niemals vermochten.

Ein paar Jahrhunderte zuvor hätte man die Zigeuner aus der Ortschaft gejagt oder die Dorfverrückte verbrannt, doch die Zeiten der Blutopfer waren vorbei. Zu solide war das Fundament der Häuser, zu fett die Wänste, zu sauber das Wasser, das aus dem Hahn kommt und nicht mehr aus Brunnen, die man vergiften kann. Selbst den Gott, der über Plagen und dergleichen zu entscheiden hatte, hatten sie entthront. Aussatz gab es lange schon nicht mehr, und gegen Ausschlag ging man nicht mit der Geißel vor.
Als kein Ende der Sichtungen eintrat, forderte man Kammerjäger an. Zwei Lieferwagen tauchten ein paar Tage später auf, und die eigenartigen Männer nahmen sich des Problems an. Sie trafen sich mit dem Dorfpräsidenten und einer Handvoll anderer Einwohner, die glaubten, etwas beitragen zu können. Kaum anders als Zimmermänner sahen die Kammerjäger aus, und dennoch hatten sie etwas Beunruhigendes an sich, als klebte ihnen noch der Hauch dessen an, was früher den Scharfrichter in einer dichten Wolke umgeben und dazu gezwungen hatte, sich in der Kirche auf die hinterste Bank zu setzen.
Sie glaubten, ihnen das viele Töten, das Wühlen im Dreck und den Umgang mit Ungeziefer anzusehen. In Wahrheit war es jedoch ganz einfach das Beschämende und Unbehagliche daran, eine dreckige, rattenverseuchte Stadt zu sein, was ihnen von den Kammerjägern vor Augen geführt wurde. Ratten und alles, was sie mit sich brachten und wofür sie standen, passten nicht in die Welt dieser Menschen und sie konnten es nicht erwarten, dass dieses Ärgernis aus der Welt geschafft wurde.
So machten sich die Kammerjäger an die Arbeit. Strikte Richtlinien bezüglich des Abfalls wurden bekanntgegeben, Gift wurde versprüht und grössere Fallen aufgestellt. Das ganze Städtchen schüttelte sich wie ein Hund, und bald verschwanden die Ratten wieder in ihren Löchern. Ohne Aufsehen zu erregen, ohne zu quietschen und zu beissen zogen sie sich wieder unter die Oberfläche zurück, dorthin wo sie niemanden störten und niemandem ins Gesicht drückten, wie schmutzig sein Leben doch war.

Die Stadt atmete auf und streckte sich in ihrer wiedererlangten Reinheit. Gleichzeitig fiel die Temperatur ein wenig, und in der angenehmen Frische war es, als erwachte die Ortschaft aus einem wirren Traum, den man augenblicklich wieder vergaß.

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