Der Einsatz

Der Einsatz

von Markus Weiher

Er erinnerte sich nicht, dass es einmal anders war, ohne Wut. Er kannte den Grund für seine Wut nicht, weil seine Erinnerung … seine Erinnerung … war … sie war … seine Erinnerung war ein Miststück. Eine Schlampe. Eine miese kleine Schlampe. Sie war eine Hure. Die es ihm nur für Geld besorgte: die Wahrheit oder die Erinnerung an die Wahrheit oder an das, was eben die Erinnerung zur Wahrheit machte, was sie meinte, was die Wahrheit sei. Die Erinnerung war eine Hure, die es schaffte, weil sie so gut war, dass er glaubte, es war Liebe … die Erinnerung machte ihm etwas vor. Da half auch kein Alkohol. Der Alkohol machte es nicht besser, er machte gar nichts. Das war ein Teil des Problems.
„Oder gibt mir die Hure einfach nur das, was ich will, dass sie mir gibt?“, fragte er sich und hob das Glas.
Er starrte hinein.
„Halbvoll oder bereits halbleer?“, dachte er, das war die Frage. Doch auch dort unten, im Glas, auf dem Grund des Glases, fand er keinen Hinweise auf eine Erinnerung. Keinen einzigen beschissenen Hinweis auf eine beschissene Erinnerung.
„Hure!“, seufzte er fast schon zärtlich. „Du verkommenes kleines Miststück! Hast mich wieder mal drangekriegt, was?!“
Er lachte laut und kippte den Rest des Inhaltes hinunter.
„Ich gebe dir alles, was ich dir geben kann, Alkohol, und du machst mir was vor. Miststück. Du fickst mich!“
Er lachte.
Er stellte das leere Glas geräuschvoll auf die Theke und hob die Hand. Wenig später stellte Kurt ein volles Glas Bier vor ihn auf den Tresen.
Er hob den Kopf.
Er mochte Kurt, und er mochte Kurts Kneipe. Hier gab es noch einen Tresen und Barhocker vor dem Tresen, und der Chef stand noch selbst hinter dem Tresen und zapfte Bier, und es gab diese alte Musikbox mit den alten Liedern von Springsteen, Hendrix, Dylan, Jethro Tull, den Stones, Genesis, Pink Floyd, Marvin Gaye, den Doors … alles Singles, Vinyl. Sogar von Westernhagen, Lindenberg und Prince. Sie hatten die Zeit überstanden. Man hörte jeden Kratzer, das Knacken und Knistern, das Rauschen und man hörte, wenn es los ging, man hörte, wenn ein Lied zu Ende war, aber man hörte auch die wunderbar ehrliche Musik.

Er schaute Kurt an, der vor ihm stand.
Außerdem wusste Kurt, was er zu tun hatte, und vor allem, was er nicht zu tun hatte, und er wusste, wann der richtig Zeitpunkt war, etwas zu tun oder zu lassen und wann es richtig war, etwas zu sagen oder es eben zu lassen.
Irgendwann musste hier die Zeit stehen geblieben sein. Auch bei Kurt. Vielleicht blieb sie auch mit Kurt stehen. Kurt und seine Kneipe gab es eigentlich gar nicht mehr. Oder hatte es nie gegeben.
Sie waren nur in seinem Kopf.

„Kurt, kannst du mir erklären, warum ich es nicht schaffe?“
„Was? Was schaffst du nicht? Kriegst du ihn nicht mehr hoch, oder was? Ich helfe dir bestimmt nicht dabei.“
Kurt lachte.
„Nein, der steht schon, wenn er stehen soll, frag meine Hure. Der steht sogar dann, wenn er nicht stehen soll.“
Kurt kannte seine Hure.
„Hast du die Schüssel nicht getroffen und gegen meine Wand gepisst? Das machst du sauber!“
„Nein.“
„Was ist es dann, was du nicht schaffst?“
„Ich sitze hier seit zwei Stunden und schaff es nicht, betrunken zu werden.“
Kurt machte ein nachdenkliches Gesicht. Und seufzte.
„Du sitzt hier jeden Abend zwei Stunden und versucht verzweifelt, dich zu betrinken.“
„Ich bin nicht verzweifelt.“
„Nein, stimmt, du bist das blühende Leben, deswegen bist du ja hier bei mir.“
„Kurt?!“
„Ja?!“
„Kurt! Heißt du eigentlich wirklich Kurt, oder ist das nur dein Künstlername?!“
„Kurts Kneipe.“
„Ja.“
„Nein. Das ist mein echter Name.“
„Gut.“
„Ja, eben. Wozu brauche ich einen Künstlernamen?!“
„Aber du bist doch ein Künstler!“
„Wenn du es sagst!“
„Was meinst du, warum ich es nicht schaffe, betrunken zu werden?“
„Weiß ich nicht, vielleicht hast du ein Gen, das Alkohol zu schnell abbaut.“
Er schaute Kurt an.
„Das ist gut, ein Gen, das Alkohol schneller abbaut.“
„Du bist jedenfalls der lebende Beweis dafür, dass Alkohol nicht schädlich sein muss. Die Bedeutung von Alkohol wird deutlich unterschätzt und die Gefahr weit überschätzt. Du bist der Beweis dafür.“
„Ah, gut, danke. Das gibt meinem Leben doch gleich wieder etwas Sinn.“
„Ja, du bist gut für´s Geschäft“, sagte Kurt. „Für meinen Laden.“
„Das ist doch mal eine Aufgabe. Da weiß man doch Bescheid.“
„Genau. Du bist lebendige Werbung.“
„Je mehr ich trinke, desto klarer wird alles. Ganz deutlich.“
„Glückspilz. Die meisten reden irgendwann nur noch Blödsinn oder kotzen irgendwann. Nachdem ich sie rausgeschissen habe.“
„Und?“
„Was und?“
„Kommen sie wieder zurück?“
„Sie kommen alle immer wieder zurück zu mir.“
Kurt lachte.
„Wie zu Mamas Brust.“
„Alle wollen immer zurück zu Mama, zur weichen, vollen, Durst stillenden Quelle. Dorthin, wo man das Herz schlagen hört, wenn man den Kopf dagegen lehnt.“
„Auch Titten genannt“, sagte Kurt. „Alle kommen sie immer wieder zurück zu mir.“
„Zu deinen Titten?!“
„Ja, zu Kurts Brust.“
„So wie ich.“
„So wie du!“
„Nur dass ich nicht kotze.“
„Nur dass du nicht kotzt.“
„Hab ich dir je den Tresen oder den Boden oder das Klo vollgekotzt?“
„Nein.“
„Oder dir vor die Tür gekotzt, auf den Bürgersteig?“
„Nein, du bist ein guter Trinker, ein guter Kunde.“
„Bitte.“
„Danke.“
„Wirklich, das mache ich gern, nicht kotzen.“
„Danke, ich nehme es zur Kenntnis.“

Hinter ihm schien jemand um Kurts Aufmerksamkeit bemüht zu sein. Kurt blickt an ihm vorbei und nickte.
Kurt kümmerte sich um die Bestellung und tat, was er gut konnte: Bier zapfen und schweigen.
Eine Fliege lief über den Tresen. Holz. Kurt wischte ihn oft ab. Die Fliege machte Halt bei einer Pfütze. Bier. Schaum.
Er beobachtete sie.
„Trink! Trink nur! Das entspannt. Dich. Vielleicht“, sagte er.
Er nahm das Glas, prostete der Fliege zu und trank das Glas zur Hälfe leer. Und starrte wieder hinein: halbvoll oder halbleer. Er mochte halbleer Gläser. Er mochte auch halbvolle Gläser. Sie waren fast schon philosophisch.
„Miststück!“, fluchte er leise. Und stellte das Glas vor sich auf den Tresen.

„Hat Ihre Alte Sie sitzen lassen oder betrogen?“
Er drehte den Kopf. Zwei Stühle weiter saß ein Mann. Ein Bier und einen Schnaps vor sich auf dem Tresen.
Er selbst trank keinen Schnaps. Keinen Whisky, kein Wodka. Er versuchte es ehrlich mit Bier.
Er erinnerte sich nicht, wann der sich dorthin gesetzt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, das bemerkt zu haben. Er schüttelt den Kopf.
„Ist das eine Frage der Erinnerung oder der Wahrnehmung?“ fragte er sich. Und entschied, dass es nicht wichtig war, es aber vermutlich an seiner Wahrnehmung lag. Er nahm nicht alles wahr. Vieles aber zu deutlich.
„Sie fickt einen anderen?“ fragte der Fremde weiter, und es sollte nach weise, wissend und erfahren klingen.

Er fragte sich, ob auf seiner Stirn stand: „Quatsch mich voll!“
Er konnte sich nicht erinnern, es dort am Morgen im Spiegel gesehen zu haben. Auch vorhin auf dem Klo war es nicht dort zu sehen gewesen, zumindest erinnerte er sich nicht daran, es gesehen zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, es überhaupt jemals dort gesehen zu haben. Daran müsste er sich doch erinnern, zumindest daran.
„Oder sie lässt sich von einem anderen ficken“, nickte er, „wer weiß das schon?! Das ist immer Ansichtssache. Ficken oder gefickt werden. Wo fängt das Ficken an und wo hört das Geficktwerden auf? Oder wo hört das Ficken auf und wo fängt das Geficktwerden an? Vielleicht so herum. Wer weiß das schon.“
Er schüttelte tief in Gedanken versunken den Kopf.
„Miststück!“
Der Fremde prostete ihm zu.
„Ja, Miststück. Dabei bin ich gar nicht verheiratet.“
Er ließ sein Glas stehen.
„Ach, die Freundin!“
„Ja, so etwas in der Richtung. Aber im Ernst: Bei dir bin ich mir sicher, dich fickt sie nicht.“
Er drehte sich weg und wünschte sich, dass auf seinem Hinterkopf stand: „Quatsch mich nicht von hinten an!“
Er war gar nicht mehr so wütend. Nein, war er nicht. Wenn er es sich einredete. Also, vielleicht ein bisschen … wütend.

Er war sich sicher, dass es da etwas gab, an das er sich nur erinnern musste und schon würde er wissen, was ihn so wütend machte. Er musste schon als Kind wütend gewesen sein, weil er sich nicht daran erinnerte, dass es mal eine Zeit vor der Wut gegeben hat. Vermutlich war er bereits wütend auf diese Welt gekommen. Der lange dunkle Weg durch den Geburtskanal und dann dieses beschissene grelle Licht … da musste man doch wütend werden. Dieser Lärm. Das Licht. Die Kälte. Das Geschaukel. Kopfüber und dann diese Schläge.
Das Bier vor ihm half jedenfalls nicht, damit ließ sich seine Hure nicht erweichen. Damit ließ sie sich nicht kaufen. Für ein paar Bier besorgte sie es ihm nicht.
Doch war eine gute Hure nicht gerade dafür da, ihm so richtig etwas vorzumachen? Das war doch ihre Aufgabe, dafür wurde sie doch bezahlt. Oder?
Sein Handy vibrierte und spielte irgendein ihm vollkommen unbekanntes Gedudel. Er wusste nur, dass es sein Handy war, weil es sich in seiner Hosentasche befand.
„Ja?!“
Fragte er. Obwohl er wusste, wer anrief, und warum er ihn anrief um diese Zeit. Er hatte Dienst.
„Ja.“
Er nickte. Vollkommen überflüssig, weil der andere es ja nicht sah. Er grinste vor sich hin. Auch das konnte der nicht sehen.
„Ich weiß, wo das ist.“
Er war bereits jetzt angepisst und wütend.
Er drückte den Anruf weg.

Er winkte Kurt und kramte zwanzig Euro aus der Hosentasche.
„Böse Jungs?“ fragte Kurt.
„Oder böse Mädchen.“
„Dann reite mal in den Sonnenuntergang.“
„Oder Sonnenaufgang?“
Er legte den zerknitterten Schein neben sein Glas.
„Bezahlt ist bezahlt“, sagte er und leerte das Glas, bevor er sich auf den Weg machte, die Bösen zu jagen. Junge oder Mädchen, das war vollkommen egal. Hauptsache böse.
„Versuchs doch mal mit Wodka oder Whisky!“, rief Kurt hinter ihm her.
Er drehte sich nicht um.
„Schon probiert, davon krieg ich Kopfschmerzen und muss kotzen!“
Kurt lachte.
„Und trete ihnen richtig in den Arsch, auch von mir!“ rief Kurt.
Kurt kannte ihn.
„Mach ich, wenn ich sie erwische!“
Kurt war ein guter Wirt.
Einer der wenigen Menschen, die ihn nicht wütend machten.

 

One thought on “Der Einsatz

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert